Forumflimmern #2: Harmoniewillen und verspätete Punchlines
Streifzüge durch das Forum der Berlinale, dieses Mal mit Filmen von Shio Miyake, Siddartha Jatla und Eva C. Heldmann.
All The Long Nights (Yoake no subete, Shô Miyake)

Misa (Mone Kamishiraishi) hat eine extreme Ausprägung von PMS, was zu einer allgemeinen Gereiztheit und Konfliktbereitschaft führt. Dementsprechend verliert sie Job nach Job und wird professionell durchgereicht, bis sie in einer kleinen Firma arbeitet, die Miniaturplanetarien herstellt. Eine Freundschaft findet sie dort in Takatoshi (Hokuto Matsumura), der Panikattacken hat, die ihm extrem in seinem Alltag einschränken und ebenfalls seinen alten Job kosten. Es geht dem Film dabei weniger darum, nach der Verantwortung eines Arbeitgebers zu fragen als darum, dass Misa und Takatoshi lernen, sich in die Alltags- und Arbeitsordnungen zu fügen, diese zu beherrschen oder zumindest so zusammenzubrechen, dass es niemanden anderen stört. Miyake ordnet deswegen jegliche narrative Dynamik oder Spannungen zwischen den Figuren einem Harmoniewillen unter und zementiert dies mit einem sanften Xylophon-Score. Es gibt wenig, was aus diesen glatten Bildern hervorsticht, was versucht, gegen Konventionen zu arbeiten. All The Long Nights tut niemanden weh, erzählt aber wirklich jeden noch so belanglosen Nebenstrang – von der Firmendokumentation bis zur Firmament-Präsentation – bis zum Ende aus.
In The Belly of a Tiger (Siddartha Jatla)

In den letzten Jahren haben Festivals begonnen, aktiv indisches Kino zu kuratieren, das abseits der nationalen Filmindustrien arbeitet. Die Unterschiede liegen weniger in der Themenwahl – die tamilische Filmindustrie produziert seit Jahren Blockbuster für den Kastenkampf – als in der zurückgefahrenen Stilisierung. Der Plot wirkt weniger überfrachtet, muss sich nicht aktiv von Höhepunkt zu Höhepunkt hangeln. Die Filme sind schmaler, näher am Lebensrhythmus, ohne an ihrer Schönheit zu verlieren. So stellt auch Siddartha Jatlas In The Belly of a Tiger der körperbrechenden Lohnsklaverei der Zementfabrik eine Dorfaufführung der Ankunft Vishnus entgegen. Man leidet ohne Metaphern, aber bleibt in einer perversen Logik gefangen. Die Ziegelfabrik knechtet und verheizt Generation um Generation und generiert Schulden. Die Familienältesten opfern sich an einen Tiger, um durch staatliche Kompensationszahlungen die Schulden der Familie zu bezahlen. Der Wert des Körpers wird anhand des ihm zustehenden Landes bemessen. Durch die wachsende Verschuldung verlieren immer mehr Familien ihre Landesrechte. In diese soziale Abwärtsspirale hinein erzählt Jatla von Klassensolidarität und patriarchalen Opfern und schenkt dem letzten Akt eine hinduistische Liebesgeschichte. Es tut gut, in Zeiten, in denen Hinduismus in Bollywood ausschließlich als politisches Instrument bedient wird, einen Film zu sehen, der dessen spirituelle Dimensionen hervorhebt. Mit einem Märchenscore von Shigeru Umebayashi.
Ihr ergebenstes Fräulein (Eva C. Heldmann, 2024)

Der Essayfilm ist zentraler Bestandteil jedes Forum-Programms, so lassen sich hier auch Jahr für Jahr seine aktuellen Tendenzen und Probleme begutachten. Gestatten: Catharina Helena Dörrien, Botanikerin im 18. Jahrhundert. Die Erziehung ist zeitgenössisch heimgeschult. Der Vater wählt aus, was gelesen wird. Natur ist streng kategorisiert – jede Pflanze einen Namen und einen Nutzen – und wird mit dementsprechender Effizienz arrangiert: Der Garten getrennt in einen Lust- und einen Küchengarten. Nach dem Tod ihrer Eltern zieht Dörrien nach Dillenburg, wo sie anfängt, pädagogische Essays und Szenen zu schreiben, die Arbeit immer auch mit der materiellen Eigenständigkeit gleichsetzten. Frau sollte weniger müßigen als sich mühen und beispielsweise den eigenen Zwirn herstellen. Aber die Lust an den Pflanzen, an der Botanik, bleibt und wird zur Lebensaufgabe. Eva C. Heldmanns Ihr ergebenstes Fräulein parallelisiert diese Biografie mit Edikten aus dem „Dillenburger Intelligenzblatt“. In diesen wird Zeitpolitik betrieben, was vor allem eine sozialdarwinistisch geprägte Regulierung der Güter bedeutet. Die dagegengeschnittenen Bilder lassen die Vergangenheit durch die provinzielle Gegenwart wandern, verflachen aber in zeitloser Belanglosigkeit. Ein Arbeitsamt ist keine Armenliste, eine Waldrodung keine fürstliche Waldordnung etc. Dass sich Politik in diskriminierenden Systemen denkt, ist nicht neu, diese inspirationslose Gleichsetzung der Systeme unter Vernachlässigung ihrer Historizität erklärt aber wenig. Auch die Ironie dieser Gebrauchsbilder zeugt eher vom schlechten Timing. Wie eine Punchline, die 200 Jahre zu spät kommt. Diese unproduktive Ungleichheit von Subjekt und Vergleichstext spricht für allgemeinere Trends im Essayfilm: Als hätte man zuerst Dörrien und ihre Biografie entdeckt und dann die Struktur und die damit einhergehenden Bilder nachgedacht. Besser sind hingegen die nachgespielten Dialogszenen als Murmelgeschiebe, bei dem die Kugeln selten auf dem Platz bleiben und konstant nachjustiert werden müssen. Ein Arbeiten am Bild im Bild.
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