Forumflimmern #1: Jede Einstellung eine Verhandlung

Streifzüge durch das Forum der Berlinale, dieses Mal mit Filmen von Macu Machín, Malaury Eloi-Parsley, Inadelso Cossa und Safi Faye.


La Hojarasca (Macu Machín, 2023)

Eine Familiengeschichte: Ein Mann begegnet einem Schwein und bricht ihm in seiner Verzweiflung die Beine. „Bring mich zum Dorfdoktor und ich überlasse dir mein Land“, quickt das Schwein in seinem Schmerz. In seiner Scham hilft der Mann dem Schwein, und so erlangt er Besitz über die Ebene der verlorenen Seelen. Jahre später ist diese im Besitz von drei Schwestern, die sich treffen, um das Erbe unter sich aufzuteilen. Das Land wird bemessen, benannt – die neue Quelle, die verbrannte Ebene, das hohe Kliff –, auf Zetteln notiert und dann rumgereicht. Es ist nicht viel, aber es ist alt. Teil der Familie. Teil der Körper. Carmen blieb, um sich dem Land zu widmen. Es ist karg, bedarf der ständigen Arbeit, wirft aber Früchte ab. Reiche Eichelernten und vereinzelte Birnen und Äpfel. Maura ist zu Besuch, präsent und ansprechbar, aber mental erschwachend und körperlich abbauend, bedarf der ständigen Betreuung. Elsa ist in der Mitte, kümmert sich um Maura und versucht zu vermitteln. Carmen versteht, dass sie das wertlose Land aufteilen müssen, will es aber trotzdem behalten. Die Kamera ist ruhig, gleitet geduldigt zwischen den Schwestern, interessiert an der Intimität dieser Körper und ihrer Beziehungen. Im Score bedroht etwas – dunkle Oboentöne, zitternde Percussion, Hundebellen, ein Erdbeben –, und ein Vulkan kotzt sich aus. In seiner Konstruktion etwas zu ungelenk und zu sehr entlang den Strukturen und Konventionen gedacht, aber doch so nah dran an diesen Frauen und so sicher in seinem Ton, dass es funktioniert.

L’homme-vertige (Malaury Eloi-Parsley, 2024)

In Pointe-à-Pitre werden die Plattenbauten abgerissen und die Leute auf die Straße gespült. Ein hoffnungsloser Film, der es trotzdem schafft, seinen Menschen würdevoll zu begegnen. Eine Begegnung am Anfang setzt den ethischen Rahmen. Das Kino als ein Raum des Austausches und des Teilens, jede Einstellung auch eine Verhandlung. Man hat nichts zu geben außer seinen Körper und seine Stimmen, aber diese sollen mit Respekt behandelt werden. Der Film selbst folgt vier, fünf Personen, von denen Eddy und Kanpèch den meisten Raum einnehmen. Kanpèch, der mit 19 nach Kuba ging, um an der Seite von Castro und Che für die Revolution zu kämpfen. Heute hat er Lungenkrebs, stirbt langsam vor sich hin, während vor seinem Fenster die Abrissarbeiten voranschreiten. Eddy ist drogensüchtig und kämpft durchwegs dagegen an. Der Film lässt ihn singen, schreiben und vor allem reden. Von der Einsamkeit, von seiner Familie. Gegen Ende verlässt er Pointe-à-Pitre, aber Eloi-Parsley folgt ihm, findet ihn wieder. Es sind Beziehungen und Begegnungen, die in dieser Form nur das Kino schaffen kann.

The Nights Still Smell Of Gunpowder (Inadelso Cossa, 2024)

Von 1977 bis 1992 kämpften im Mosambikanischen Bürgerkrieg FRELIMO (die herrschende marxistische Partei) gegen RENAMO (Antikommunisten, die von Rhodesien und Südafrika gesponsert wurden). Cossas Generation ist eine der letzten, die noch die mentalen Narben dieses Krieges tragen, sein Kino an der Zweigstelle zwischen Therapie und Erinnerungsarbeit. Die Nächte in The Nights Still Smell Of Gunpowder sind trotz ihrer Albträume im wunderschönen Pedro-Costa-Cosplay mit prägnanten Belichtungsstrategien inszeniert, die die Dunkelheit eher noch verstärken. Indirektes Licht prallt von Hauswänden ab wie Schrapnell. Es beleuchtet einen leeren Stuhl, die Hälfte eines Gesichts, Schwarzweißporträts im Laub und verschluckt sich an der Dunkelheit. Ein Film, dessen Nächte man gerne mit sich trägt, trotz ihrer Gewalt, trotz ihrer Vertrautheit. Bild und Ton sind dabei in einen Fieldrecorder und den Regisseur getrennt, die sich im ständigen Erinnerungsaustausch befinden.

Die Nächte sind für Zwiegespräche, die Tage für Interviews. Auch wenn die Bewohner von Cossas Dorf sagen, dass sie mit dem Krieg abgeschlossen haben – man müsse nun in Harmonie leben –, singen ihre Lieder von den Verlusten und schwören Rache. Der Film wandert etwas strukturlos durch diese gespielte Gleichgültigkeit. Cossa befragt seine Großmutter nach ihrem Ehemann, der in dem Krieg gefallen ist. Er inszeniert mehrere Reenactments mit Macuacua, der in den Krieg zog und dafür seine Frau und seine Kinder in die Armut sinken ließ. Die Kinder sind unbekümmert, und Cossa beneidet sie. Für wen erinnert man sich, wenn es die ältere Generation nicht mehr kümmert und die jüngere nicht mehr betrifft?

Letter From My Village (Safi Faye, 1975)

Im Forum Special kann man dieses Jahr Letter From My Village von Safi Faye sichten, der 1976 zusammen mit Nina Shivdasani Rovshens Chhatrabhang den FIPRESCI-Preis des Forums gewann. Letter From My Village verwebt dabei ethnografische Beobachtung mit einer entspannten Erzählung um die Heirat eines jungen Paares. Fayes Stimme framt den Film und gibt ihre Stimme dann an die Dorfgemeinschaft ab. Man erzählt viel von damals, als das Dorf sich nur selbst erhalten musste. Heute ist man in den wechselnden wirtschaftlichen Strömungen gefangen, muss Steuern zahlen und ökonomischer anbauen. Doch Erdnüsse, die am meisten einbringen, verschlechtern auch die Qualität des Bodens für den Reis und die Hirse, die die Grundnahrung darstellen. Ein sehr unaufgeregter Film – auf der Tonspur ist ein konstantes Vogelzwitschern – trotz der prekären Lage und ausbleibenden Ernte. Die Frauen treffen sich am Brunnen, die Männer unter dem Affenbrotbaum und erklären sich die Welt. Politik bedeutet eine Mahlzeit pro Tag für sechs Monate im Jahr. Die ausbleibende Ernte führt den Verlobten in die Stadt, wo die Klassenstrukturen deutlicher sind und er von Job zu Job durchgereicht wird. Der Film erzählt hier dominanter. Faye framt beispielsweise einen Konflikt mit einer reichen Hausfrau, indem sie den Gegenschuss mit Kindern überpopuliert, die das Gleichgewicht auf die Seite der Armen heben. Am Ende kehrt der Verlobte in das Dorf zurück und versucht, die Strukturen dort zu verbessern, aber die Skepsis bleibt.

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