Forum 2019: Sehtagebuch – Über das Zurechtfinden

Über eine Schule als Fabrik, die Suche nach einer eigenen Sprache und Meditationen in Schwarz-Weiß: drei Eindrücke aus der Berlinale-Sektion Forum.


Reenacting ’68

Das mit der Bombe, erklärt der blonde Schüler, das wär mehr so symbolisch gemeint gewesen. Kurz zuvor hat er inbrünstig einen Monolog aus Godards La chinoise von 1967 vom Blatt abgelesen, in dem die Zerstörung von Museen und Theatern gefordert wird. Die Revolution sei keine Dinnerparty, hieß es da. Der blonde Schüler befindet sich noch immer an derselben Stelle, auf dem Stuhl vor der Tafel. Nun aber lächelt er verschmitzt in die Kamera. Der entschlossene Tonfall, den er noch kurz zuvor während des Monologs drauf hatte, ist gewichen. Nee, das war sicher symbolisch gemeint, wiederholt er nachdenkend. Die wären eben wütend gewesen damals und wollten provozieren, sagt er. Das wäre ja völliger Quatsch, das mit der Bombe.

In Nos défaites stellt Jean-Gabriel Périot mit den Jugendlichen eines französischen Lycées Szenen aus Filmen nach, die um 1968 entstanden sind. Im Versuch der Wiederaufnahme werden jene filmischen Bilder des Mythos ’68 (von Godard über Alain Tanner bis zur Gruppe Medvedkin) in eine Jetztzeit übertragen und fortgeschrieben. Dabei werden Rollen getauscht und Szenen in anderer Besetzung wiederholt, Texte vergessen und verhaspelt. Gerade durch die Differenz befragt Nos défaites die bekannten Filmbilder und aktualisiert sie. Die Schule wird bei Périot selbst zur Fabrik, zum Schauplatz von Systemkritik wie industrieller Bildproduktion.

Im Anschluss an die verschiedenen Reenactments diskutiert Regisseur Périot wiederum das Gespielte und Gesprochene mit Alaa, Ghais, Julie und den anderen Teenagern. Was ist eigentlich ein Streik? Ist Gewalt ein legitimes Mittel für den Systemumsturz? Und wann kommt endlich die Revolution? Was ist nochmal eine Revolution? „Das ist ein bisschen kompliziert“, antwortet Floricia nach einer von Périots zahlreichen Fragen aus dem Off, und man kann ihr als Zuschauende nur zustimmen. Obgleich die Jugendlichen in diesen merkwürdigen Prüfungssituationen über eigene Sehnsüchte, Ängste und politische Haltungen sprechen, zeigt sich in Périots permanenter Suche nach Definitionen letztlich mehr über den Filmemacher selbst und seine Erwartungen an eine heutige Jugend. „Politik ist eine Gruppe“, sagt Natasha an einer Stelle, als Périot mal wieder nachfragt. Dann denkt sie nochmal nach, setzt neu an. „Politik, das ist eine Idee. Eine Idee, die Menschen teilen“. Sie richtet sich auf und sagt: „Wir brauchen Politik.“

Aus der Sprache herausfallen

Autos, die nicht mehr fahren können, sind in Filmen prinzipiell kein gutes Zeichen. Nicht umsonst gehört die Autopanne im Nirgendwo zum klassischen Repertoire des Horrorfilmes. Peter Parlows Spielfilm The Plagiarists beginnt gleich mit ihr: Anna (Lucy Kaminsky) und Tyler (Eamon Monaghan) sind auf dem Weg zu einer Freundin nach Philadelphia, als das Auto aufgrund des starken Schneefalls stoppt und der Motor nicht mehr richtig anspringen will. Das Interessante an der Autopanne als filmischem Motiv ist aber, dass sie stets eine dramaturgische Funktion erfüllt. Immer bringt sie die Handlung voran und Figuren zusammen, die sich sonst nicht begegnet wären. Schriftstellerin Anna und Werbefilmer Tyler treffen also auf Clip (Michael Payne), der dem hippen, gestrandeten Pärchen aus der Großstadt seine Hilfe und eine Übernachtungsmöglichkeit anbietet. So richtig wissen beide aber nicht, inwiefern sie dem Fremden trauen können.

The Plagiarists ist kein Horrorfilm, obwohl er mit diesem eindeutigen Setting beginnt. Stattdessen entwickelt sich Parlows Film zu einer Untersuchung des Verhältnisses von Kunst und Leben. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach dem Glaubwürdigen und dem Echten, die schon in der anfänglichen Begegnung von Anna, Tyler und Clip über die Autopanne aufscheint. Dass The Plagiarists analog auf Betamax gedreht wurde, ist insofern nur konsequent, will doch das rauschende 4:3-Kinobild erst mal die hierin liegende Rohheit suggerieren.

Im Laufe des Filmes beobachten wir eine Vielzahl an Dialogsituationen, die in unterschiedlichen Paarungen absolviert werden. In der Küche, dem Keller, der Airbnb-Wohnung und dem Auto (es funktioniert später wieder) kreisen die Figuren um Begriffe wie Authentizität und Ehrlichkeit, Kopie und Fälschung. Parlow analysiert seine Figuren. Er zeigt sie als Suchende, die sich irgendwie in der Welt zurechtfinden wollen, die jedoch aus der Sprache herausfallen und sich der Texte anderer bedienen müssen, um sich selbst erzählen und erklären zu können. Genau das tut wiederum auch der Film: Er zitiert, wo er nur kann. The Plagiarists ist ständiger Verweis auf eine weiße Kunst- und Kulturgeschichte, die sich manchmal mehr, manchmal weniger (wieder-)erkennen lässt.

Über dieses Moment des Wieder-Erkennens funktionieren in gewisser Weise die Figuren. Denn, und das ist eine Leistung dieser Milieustudie, er zeigt uns Personen, die wir in all ihrer Feier von fancy Kaffeespezialitäten und postironischer Selbstreflexivität erst mal richtig blöd finden können. Er zeigt Menschen, die um rassistische und sexistische Strukturen wissen und sie nicht bedienen wollen, aber daran scheitern; Menschen, die nicht wissen, wie sie ihre Berufe benennen sollen und die ihre Erwartungen an eine Partnerschaft ähnlich formulieren wie die Anforderungen an eine Neubauwohnung. Und doch erkennen wir uns als Zuschauende gelegentlich in ihnen wieder, können nur über sie und uns erschrecken und lachen.

Das Fließen der Geschichte

Was ist Heimat, und wie lässt sie sich filmen? Diese Fragen stellt sich Thomas Heise in dem vierstündigem Dokumentarfilm Heimat ist ein Raum aus Zeit, in dessen Zentrum seine eigene Familie steht. Die episodenhafte Erzählung von der Familie über vier Generationen hinweg, die Heise anhand von Briefen und weiteren Dokumenten bis in die Jetztzeit entwirft, fällt mit einer Darstellung von deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts zusammen. Das wäre erst mal nichts Besonderes, weil Familiengeschichten immer durch das Zeitgeschehen geformt sind und es diese Geschichten in vielen deutschen Familien gibt. Bei Heise wird dieses doppelte Moment der Geschichte aber gerade als reflexiver Akt spannend, als Nachdenken darüber, wie sich Heimat, Raum, Zeit und Menschen nicht nur filmisch organisieren, sondern prinzipiell einfangen und „verstehen“ lassen.

Langsam gleitet die Kamera bei Heise als Kino-Auge über all die Spuren, die eine Familie wie die Weltgeschichte hinterlassen: über alte Fotos und gemalte Kinderbilder, Landschaften und Ruinen, Deportationslisten. Es sind viele Züge und Straßenbahnen in Heimat ist ein Raum aus Zeit zu sehen. Wir versuchen aus ihnen heraus oder in sie hinein zu schauen, verfolgen dann die Linien der Gleise und Strommasten, bis sie unscharf werden und abbrechen. Noch ein Zug. Die Kamera schaut ihm für einige Zeit hinterher, als würde sie Menschen und Orte gerne genauso miteinander verbinden können wie er.

Über den metaphorisch aufgeladenen, schwarz-weißen Bildern der Spuren und Schichten von Zeit liegt Heises Stimme. Ruhig liest er Briefe vor, die sich verschiedene Mitglieder seiner Familie geschrieben haben. In den darin stattfindenden Diskussionen über Beziehungsstadien, politische Einstellungen und die Enttäuschung vom eigenen Vater laufen die wechselnden Staatssysteme mit, in denen sich diese Menschen einst bewegt haben. Die poetischen Texte der Briefe sind demnach in mehrfacher Hinsicht Zeugnisse; in erster Linie sind sie berührende Versuche, Zeitgeist zu formulieren. Heise benutzt sie wiederum, um über die Montage selbst Beschreibungen über ein Heute und ein Morgen zu wagen. Die Vergangenheit in Heimat ist ein Raum aus Zeit ist nicht abgeschlossen, sondern wirkt in Gegenwart und Zukunft hinein.

Es wäre zu wenig, Heimat ist ein Raum aus Zeit aufgrund der Konstanz von Heises Stimme als Hörspiel zu begreifen. Dafür ist gerade das Verhältnis der Briefe zu den Aufnahmen zu interessant. Als Zuschauende können wir nur auf die Bilder starren, uns selbst in die Bilder hinein, während wir hören. Manchmal tritt ein Detail in Erscheinung, das wir für einige Zeit verfolgen, bis wir es aus den Augen oder Ohren verlieren. Ab und zu entdecken wir es später wieder. Muster und Verhältnisse werden scheinbar erkennbar, in Heises Meditationen in Schwarz-Weiß. Alles steht miteinander in Verbindung, alles fließt. Die Zeit gleitet vorbei.

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