Filmfestival San Sebastian 2006

Vom Einbruch der Realität ins Kino

 

Das 54. Festival Internacional de Cine Donostia/San Sebastian

(21.-30. September 2006)

 

Will man das vielseitige Festivalprogramm dieses Jahres in San Sebastian in einer Thematik zusammenfassen, dann wäre als deutlichste Tendenz im gegenwärtigen Film der Einbruch der Realität ins Kino ihr Titel. Ganz dem Motiv des diesjährigen Festivalplakates folgend scheint es, als sollte die trennende Wand zwischen Zuschauerraum und dem Draußen durchbrochen werden. Sei es in Form von Dokumentarfilmen, die diesmal auffällig stark vertreten waren, oder in Form von Spielfilmen, welche sich explizit auf reale Begebenheiten beziehen und diese in fiktionaler Form aufzuarbeiten versuchen, verbindet jene Filme ihre direkte Verknüpfung mit aktuellen Problemen dieser Zeit.

Das beherrschende Motiv des diesjährigen Festivals war demgemäss auch die Problematik der Emigration. Neben der die Thematik historisch vertiefenden Retrospektive „Emigrantes“ führte sogleich der Eröffnungsfilm in die Problematik ein. Ghost von Nick Broomfield erzählt die auf Tatsachen beruhende Geschichte der Chinesin Ai Quin, die um ihrem Kind eine gute Ausbildung bieten zu können, nach England flieht. Die Kamera begleitet sie auf ihrem Leidensweg dorthin sowie bei dem Versuch, vor Ort zu überleben. Broomfield setzt um seine Geschichte eine zeitliche Klammer (er beginnt und endet mit dem tödlichen Unglück der chinesischen Emigranten) und vermittelt so eine Art Lerneffekt. Die anfangs unverständliche Szene tritt erst zum Ende in ihrer ganzen Tragik hervor, aus unbekannten Gesichtern sind nun Menschen mit einer eigenen Geschichte geworden.

Auf explizit fiktionaler Ebene, aber dennoch nicht weniger lebensnah, widmet sich der Film Children of Men von Alfonso Cuarón den Themen der Emigration und des Terrorismus. Der Film entwirft das Horrorbild einer Welt, in der Menschen wie Tiere die Fähigkeit verloren haben, Nachfahren zu zeugen. Als unglaublicherweise ein junges Mädchen doch schwanger wird, entbrennt ein Kampf um das Kind. Die Jagd führt durch verwüstete Städte; hinter jeder Ecke lauert die Gefahr, aufgespürt und in eines der Gefängnisse oder Sperrgebiete für Heimatlose gesteckt zu werden. Grenzen oder Nationalitäten spielen in diesem Film bereits keine Rolle mehr. Es herrscht eine anonyme Willkür, die alle zu Gejagten macht. Der Film versetzt Probleme von heute in die Zukunft des Jahres 2027 und verschärft diese nur um weniges: noch immer erkennt man hinter der verwüsteten Stadt das heutige London, und die Gefängnisszenen erinnern sehr an Abu Ghraib. Diese geringfügigen Zuspitzungen haben allerdings zur Folge, dass die Nähe und reale Gefahr dieser Fiktion umso bewusster werden und uns in Form des dargestellten Horrorszenariums das konkrete Bild einer möglichen Zukunft vor Augen führen.

Mit noch expliziterer Realitätsreferenz wartet Oliver Stones neuester Film World Trade Center auf. Auf allseits bekannten Vorkommnissen basierend stellt der Film eine weitere Version im Umgang mit hoch aktuellen Themen unserer Zeit dar.

Von den Dokumentarfilmen dieses Festivals sind vor allem Shut up and Sing von Barbara Kopple und Cecilia Peck sowie der neue Film von Heddy Honigmann Forever als die interessantesten Arbeiten des Festivals hervorzuheben. In Forever wird der berühmte Friedhof Père-Lachaise in Paris zum Ausgangspunkt für eine Annäherung an das Verhältnis von Menschen zur Kunst in ihrem Leben. Dabei dienen die berühmten Toten des Friedhofs lediglich als Basis, um etwas über einzelne Besucher des Friedhofes zu erfahren. Honigmann ist mit diesem Werk ein sehr souveräner Film gelungen, der zwar durch die unzähligen Bilder alter Statuen und Gräber teilweise ein wenig kitschig wirkt, es aber andererseits nicht scheut, in Bild und Ton Raum für die Unergründlichkeit des Todes zu lassen. Derart schafft der Film eine fast mystische Atmosphäre, wie man es im Dokumentarfilm nur selten zu sehen bekommt.

Shut up and Sing begleitet die populäre Countryband Dixie Chicks bei ihrem Kampf gegen den Boykott ihrer Musik in den USA. Ein gegen Präsident Bush gerichteter Kommentar der Frontsängerin Natalie Maines drohte 2003 die Karriere der Band auf Jahre hinaus zu ruinieren. Während der Film formal weniger interessant ist, zieht er seinen Reiz vor allem aus seinem Inhalt und der beeindruckenden Persönlichkeiten der Bandmitglieder. Auch wenn die Dokumentation nichts grundlegend Neues über die Ära Bush und die derzeitige amerikanische Gesellschaft vermittelt, macht er an einem konkreten Beispiel nochmals die Paradoxie der Ereignisse deutlich und besticht mit berührender Musik.

Ein weiterer Film, der sich aktuellen Weltproblemen stellt, ist der afrikanische Beitrag Bamako von Abderrahmane Sissako. In diesem Film beschuldigt die zivile Bevölkerung Afrikas den Internationalen Währungsfond, ihren Kontinent rechtswidrig zu behandeln. Die von ihnen einberufene Gerichtsverhandlung findet auf dem Hof einer armen Wohngemeinschaft in Afrika statt. Während die Zeugen und Ankläger nacheinander ihre Anliegen vorbringen, geht das Leben auf dem Hof seinen alltäglichen Gang. Die anfangs befremdliche und irreale Situation eines Gerichtes im Freien zwischen frei herumlaufenden Tieren und den Anwohnern wird im Verlauf des Filmes mehr und mehr zur Metapher für die Lage des ärmsten Kontinents der Welt. Außerdem hat der Film einen, für afrikanische Filme ungewohnten, ironischen Ton. Vor allem die Szene eines auf afrikanische Verhältnisse getrimmten Western schafft es einerseits, dem Geschehen eine unterhaltsame Note zu geben, andererseits aber die Ernsthaftigkeit des Themas vor Augen zu führen.
 

Gewinner

 

Gewinner der Goldenen Muschel für den besten Film waren dieses Jahr zwei Filme. Der neue Film von Bahman Ghobadi, Half Moon (Niwemang), sowie Mon Fils à moi von Martial Fougeron. Bereits 2004 gewann der Film Turtles Can Fly von Bahman Ghobadi die Goldene Muschel, was sowohl dem Film wie seinem Macher hohe Bekanntheit über Spanien hinaus verschaffte. Sein neues Werk, innerhalb weniger Wochen gedreht, erzählt die Geschichte von Mamo, einem alten Musiker, der mit seiner Familie beabsichtigt, das erste Konzert iranischer Musik in Kurdistan nach der Diktatur Saddam Husseins zu geben. Auf dem Weg im Reisebus dorthin wird deutlich, dass die harten Zeiten in diesem Teil der Welt noch lange nicht vorbei sind. Mit Hilfe der Musik und traumartigen Bildern begleitet dieses realistische Roadmovie eine mystische Stimmung, die immer wieder von erbarmungsloser Realität durchbrochen wird.

Mon Fils à moi zeichnet ein sensibles Bild einer Mittelstandsfamilie in Frankreich, deren Mutter mit ihrem Sohn eine eigentümliche Hassliebe verbindet. Als sich der Sohn verliebt, macht ihm seine Mutter das Leben zur Hölle. Obwohl die Tochter versucht zu intervenieren, schärft sich die Situation im Haus bis zur absehbaren Eskalation mehr und mehr zu. Den Film zeichnet vor allem eine differenzierte Figurendarstellung aus; er nimmt gekonnt die Kurven herrschender Klischees dieser Thematik. Leider jedoch bleiben die krassen Reaktionen der Mutter unerklärt im Raum stehen und man verlässt den Saal somit ein wenig verworren.

 

Deutschland

 

Der einzige deutsche Beitrag auf dem Festival in San Sebastian war Sven Taddickens Film Emmas Glück, welcher in Deutschland bereits in den Kinos läuft. In der Sektion „Zabaltegi/ Neue Regisseure“ überzeugte er vor allem das jüngere Publikum und errang mit knappen Abstand hinter dem dänischen Film The Art of Crying (Kunsten At Graede I Kor) von Peter Schonau Fog den zweiten Platz der Jugendjury.

In der gleichen Sektion lief ebenfalls die Schweizerisch-Deutsche Koproduktion Wir werden uns wiederseh´n von Oliver Paulus und Stefan Hillebrand. Der Film erzählt die Geschichte eines Krankenpflegers, der aus persönlichen Gründen und wegen seines Arbeitsplatzes von Berlin nach Mannheim zieht. Die Regisseure nehmen sich viel Zeit für den Alltag und die Träume ihrer Protagonisten und thematisieren neben deren Einsamkeit den Lebensabend und den Tod alter Menschen in unserer Gesellschaft. Aufgrund der Arbeit mit Laiendarstellern und dem Dreh an Originalschauplätzen wird der Film zu einer Mischung aus Fiktion und Dokumentation und besticht vor allem durch die Darstellung der 81jährigen Lieselotte Langer.

 

Spanien und Lateinamerika

 

Einen besonderen Fokus setzt das Festival in San Sebastian auf den lateinamerikanischen und den spanischen Film. Unter den spanischen Beiträgen stellt Javier Rebollos Lo que sé de Lola den erwähnenswertesten dar. Inhaltlich wie formal souverän erzählt der Film die Geschichte von den Nachbarn Leon und Lola. Nach dem Tod von Leons bettlägeriger Mutter beginnt dieser das Leben seiner Nachbarin auszuspionieren und sie heimlich zu verfolgen. Bis zum Tag, an dem Lola einen Autounfall hat und ins Koma fällt, haben beide kaum ein Wort miteinander gewechselt. Nach dem Unglück gibt sich Leon jedoch als Lolas Ehemann aus und kümmert sich um sie und ihre Wohnung. Lo que sé de Lola setzt sich nur aus festen Einstellungen zusammen und wiederholt die einzelnen Stationen immer wieder, so dass die kleinsten Veränderungen an diesen Orten zu Zeichen für die Figuren und ihre Verfassungen werden. Den Film beherrschen menschenleere Bilder, die durch ihre Ausschnitthaftigkeit und Kargheit Ruhe und Langsamkeit verströmen, wie man sie aus Filmen von Aki Kaurismäki oder Gus Van Sant kennt. Dennoch ist der Film weit davon entfernt, diese zu kopieren, sondern überzeugt durch die sehr eigene Handschrift seiner Macher. Neben den ausdruckstarken Bildern lebt der Film von der Verschrobenheit seiner beiden Figuren und auch die Tonebene arbeitet stark mit taktiler Akustik, was die Intimität zwischen den beiden Figuren erhöht, obwohl sie sich in diesen Szenen weder berühren noch sehen.

Der diesjährige Gewinner der Sektion „Horizontes Latinos“ war der brasilianische Film Os 12 trabalhos von Ricardo Elias. Mit viel Musik unterlegt, zeigt dieser einen Tag im Leben eines Jungen in São Paulo, der, gerade aus der Besserungsanstalt entlassen, nun versucht in seinem neuen Job als Kurier zu bestehen. Teilweise clipartig, nur die Bilder der Stadt sprechen lassend, gelingt dem Film ein aussagekräftiges Porträt über das Leben in jener Großstadt.

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