Filmfest Oldenburg 2007
Der Eröffnungsfilm, Stellungswechsel, ist eine brave deutsche Komödie, der Abschlussfilm, The Astronaut Farmer ein rührseliges Stück über amerikanische Familienwerte. Beides passt nicht unbedingt zu einem Festival, das sich dem Independent-Kino verschrieben hat - aber zwischen Eröffnung am vergangenen Mittwoch und dem Ende am Sonntagabend zeigte sich das Programm vielfältig, interessant und innovativ.
Immerhin war Michael Polish, der Regisseur von The Astronaut Farmer, vor vier Jahren schon einmal zu Gast in Oldenburg. Damals ging er mit dem German Independence Award für Northfork nach Hause. Auch seine in diesem Jahr vorgestellte erste Hollywood-Produktion beginnt viel versprechend mit einem schönen genre-sprengenden Bild: ein Mann in einem Raumfahrtanzug auf einem Pferd. Billy Bob Thornton spielt diesen Space Cowboy, dessen Nachname - Farmer - gleichzeitig sein Beruf ist, und der sich in den Kopf gesetzt hat, in seiner Scheune eine Rakete zu bauen und ins All zu fliegen. In jungen Jahren war er bei der NASA, aber zum take-off hat es dann doch nie gereicht. Nun hat Charles Farmer seine gesamte Familie für seine Spinnerei eingespannt. Die Töchter bekommen ihre Pfannkuchen in Planetenform serviert, der Sohn managt Ground Control in einem alten Wohnwagen, und die Ehefrau (Virginia Madsen) hält alles irgendwie zusammen. Das beginnt mit viel Witz, wird dann aber immer mehr zu einer Karikatur des klassischen amerikanischen Du-kannst-es-schaffen-Dramas, dem jede Selbstironie fremd ist. Mit viel Geigenmusik, Americana wie einer sonnendurchfluteten Veranda und einem Drehbuch, in dem das Wort “family” das am häufigsten verwendete Substantiv sein dürfte, hat Polish eine erstaunliche Masse an Kitsch angehäuft. Dabei gibt es einige schöne Momente, in denen Farmer mit den Obrigkeiten in Konflikt gerät. Klar, wer 10.000 Pfund Treibstoff bestellt, hat bald FBI und CIA auf dem Hals, die auf seinem Grundstück Massenvernichtungswaffen vermuten. “Wenn ich planen würde, eine Massenvernichtungswaffe zu bauen”, antwortet der charismatische Farmer, “dann würden Sie sie nicht finden.”
Das Gegenteil von Farmers immer zusammenhaltender Kitsch-Familie ist in Die Unerzogenen zu sehen, dem beeindruckenden Debüt von Pia Marais, der als einer der deutschen Beiträge in der Independent-Reihe lief. Hier ist alles aus den Fugen geraten. Der Vater (Birol Ünel) wird gerade aus dem Gefängnis entlassen und dealt dilettantisch mit Drogen, die Mutter (Pascale Schiller) ist alkoholabhängig, beide leben in den Tag hinein, beherbergen in einem geerbten Haus ihre Loser-Freunde und streiten sich bis aufs Blut. Ihre von einer wirklichen Entdeckung, der 14-jährigen Ceci Chuh, gespielte Tochter fantasiert sich ein bürgerliches Leben zurecht. “Ich bin dein Papa!”, sagt Birol Ünel nach einem der zahlreichen Streits zu ihr. Sie antwortet: “Ich wäre dir dankbar, wenn du das nicht überall herumerzählen würdest.” Marais, die aus den Erfahrungen ihrer eigenen Kindheit mit Hippie-Eltern eine in die heutige Zeit versetzte, fiktionale Geschichte destilliert hat, erzählt konsequent aus der Sicht des Mädchens, in elliptischer Struktur, mit einer sich unter den Personen frei bewegenden Kamera. Zusammen mit den überragenden Schauspielern entsteht ein erstaunlich unmittelbarer Eindruck sozialer Realität. Die Theaterschauspielerin Pascale Schiller, die hier zum ersten Mal in einem Film spielt, gibt sich so der innerlichen wie äußerlichen Verwahrlosung ihrer Figur hin, dass man vom “Mut zur Hässlichkeit” sprechen könnte, wenn es sich um einen Hollywood-Film handelte. Ceci Chuh verleiht dem Kind eine aggressiv-verschlossene Aura, die den Film problemlos zu tragen vermag. Man hätte diesem Werk eher eine Auszeichnung gewünscht als dem allzu epigonenhaften, aber von der Jury gekürten Heile Welt.
Um problembeladene Jugendliche geht es auch in Hans Steinbichlers Autistic Disco. Der nur gut 70-minütige Film ist aus einer Schauspielübung des Mozarteums Salzburg entstanden, was man der laborartigen Prämisse noch ein wenig ansehen kann: Sieben jugendliche Straffällige mit psychischen Störungen sollen auf einer abgelegenen Alm von Betreuern resozialisiert werden. Jeder von ihnen stellt ein bestimmtes Krankheitsbild dar. Der Aufenthalt soll ihrem Leben Struktur geben, jeder bekommt bestimmte Aufgaben zugeteilt, und der nächste Zigarettenautomat ist drei Stunden entfernt. “Sozialscheiß halt”, sagt einer von ihnen zu Beginn. Steinbichler macht daraus eine knapp am Experimentalfilm vorbeizielende Seh- und Hörerfahrung, in der die Geräusche genauso wichtig sind wie die Bilder, und beide zusammen wirken berauschend. Die gewaltigen Naturaufnahmen der Alpen werden mit den assoziativen Tönen des jungen Komponisten Antoni Lazarkiewicz montiert, der auch schon die Musik für Steinbichlers Filme Hierankl (2003) und Winterreise (2006)geschrieben hat. Dazu sind zu hören, und zwar ziemlich laut: das Motor-Rauschen einer Autobahn, das Knacken von Holz, das Plätschern eines Brunnens, das Quietschen von Fingern an einer nassen Scheibe. Die Betonung der Sinne Hören und Sehen ist auch Ausdruck der Naturerfahrung, die Teil der Therapie für die Jugendlichen ist.
Und noch eine Geschichte von verschwendeter Jugend und fehlenden Strukturen und auch von der Suche nach Ersatz. Für den unbekannten Hund der Brüder Ben und Dominik Reding, die vor sieben Jahren mit Oi! Warning schon einmal tief in jugendliche Subkulturen eingetaucht sind und nun für ihren ebenso kraftvoll inszenierten zweiten Film den Otto-Sprenger-Preis erhielten. Es geht um reisende Handwerksgesellen, denen sich Bastian (Lukas Steltner) anschließt. Er hat an einer Tankstelle in Wismar einen Obdachlosen getötet und wird von seinem Kumpel, dem Zeugen der Tat, erpresst. Der Film kontrastiert die traditionelle, von festen Regeln bestimmte Welt der Gesellen, die viel Wert darauf legen, “zünftig” zu sein, mit den Milieus von Neonazis und Rockern und erzählt vor diesem Hintergrund von Schuld, Sühne und Freundschaft.
Mehrere formal sehr interessante Filme waren aus der internationalen Independent-Szene zu sehen. Frank A. Capellos He Was a Quiet Man zeigt Christian Slater mit Schnurrbart als gebeutelten Büro-Sklaven, der kurz vor einem Amoklauf steht - dem dann aber ein Kollege zuvorkommt. Der auf Digi-Beta gedrehte Film arbeitet mit farblichen Verfremdungen und tönt die Gesichter aller Protagonisten in dieser kalten Welt blau.
Mickey Blaines mit einer digitalen Handkamera gedrehter Commit dauert 90 Minuten und besteht aus drei jeweils 30-minütigen Plansequenzen für drei an drei verschiedenen Tagen spielende Szenen. Er kommt also mit nur zwei Schnitten aus. Minimalistisch auch der Rest des Films: Ein Mann und eine Frau treffen sich in einem Café, sie haben sich über das Internet verabredet. Ziel des Blind Dates ist aber keineswegs eine Romanze, sondern gegenseitige Sterbehilfe: Beide sind des Lebens überdrüssig und wollen sich vom jeweils anderen erschießen lassen. Das Reden über den eigenen Frust nimmt fast die gesamte Filmzeit bis zum Showdown in einem Motelzimmer ein und steckt voller pointierter, enorm unterhaltsamer Dialoge.
Von formalen Experimenten völlig frei ist Maggie Perens Stellungswechsel, eine Variation des englischen Erfolgsfilms Ganz oder gar nicht (The Full Monty, 1997). Florian Lukas, Sebastian Bezzel, Gustav-Peter Wöhler, Kostja Ullmann und Herbert Knaup spielen fünf Männer, die ihre Arbeitslosigkeit und finanziellen Krisen bekämpfen wollen, indem sie sich von Frauen für Sex bezahlen lassen. Mit Orgasmus-Garantie, versteht sich. Der in vielem an die deutschen Beziehungskomödien der neunziger Jahre erinnernde Film gehörte in Oldenburg zu den Publikumslieblingen.
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