Filmfest Hamburg 2023: Und dass man ohne Wenders zu leben vermag

Anselm Kiefer geht durch sein Werk und sieht, dass es groß ist. Wim Wenders gibt sich festivalhumanistisch, geduldig und präzise. Katharina Lüdins Debütfilm bietet zum Glück keine Lösungen. Ein Sehtagebuch.

Man merkt erst, wie sehr einen die Berlinale in ihrem Überfluss und der Gier nach Tickets geprägt hat, nachdem man die etwas kleineren Filmfestivals in Deutschland besucht hat. Dank dem Umzug nach Hamburg war ich dieses Jahr zum ersten Mal auch auf dem stadteigenen Festival. Alles ist dabei wie erwartet eine Stufe moderater – es geht vermehrt um Deutschland-, nicht Weltpremieren. Das Programm des Filmfests Hamburg ist in seinen Sektionen klar definiert und kuratiert, aber in der Menge dennoch übersichtlich gehalten. Tickets sind ab Verkaufsstart für den gesamten Zeitraum verfügbar, jeder Film wird einmal wiederholt. Man kann – Pressescreenings ausgeschlossen – maximal bis zu zwei Filme pro Tag sehen, und die öffentlichen Vorstellungen beginnen alle am frühen bis späten Nachmittag.

Das Filmfest versteht sich als Publikumsfestival, was immer auch bedeutet, es ist dem Arbeitsrhythmus angepasst. Der rote Teppich ist klein und die Absperrung mehr eine Idee als durchgeführte Praxis. Viele, die unabhängig von Filmfestival einfach ins Cinemaxx am Dammtor gingen, kamen so auch zum Posieren, was in seiner Egalität durchaus Charme hat. Doch wie jedes andere mittelgroße Festival strukturiert sich (leider) auch das Filmfest Hamburg um seine Prominenz, die diesmal in Gestalt von Wim Wenders auch noch zwei aktuelle Filme, Anselm und Perfect Days, mitbrachte, die beide in Cannes dieses Jahr ihre Premiere feierten.

Bis zum Sonnenblumenverbrennen: Anselm

Es gibt Kunst, die man bewusst aufsucht, und Kunst, die einen vom Markt zugetragen wird. Anselm Kiefer ist Letzteres. Ich sah Kiefers aktuelle Ausstellung zu James Joyce’ Finnegans Wake in der White-Cube-Galerie, entdeckte ihn dann vor ein paar Wochen im Hamburger Bahnhof wieder. Mein erster, eher negativer Eindruck findet sich auch in der Charakterisierung in Anselm wieder. Sobald Künstler einen gewissen Rang erreicht haben, wachsen die Referenzen mit ihnen. Begann Kiefer noch mit Protoprovokationskunst, die Nachkriegsdeutschland den Spiegel vorhalten wollte (ohne sich dabei selbst zu sehr zu reflektieren), sind die Referenzen heute James Joyce, Paul Celan – von Kiefer oft als „Porzellan“ geschwäbelt – und die Antike. How often do you think about Greek mythology? Nicht weil Kiefers Perspektive auf diese Themen oder Autoren interessant ist – er fantasiert von dem Treffen zwischen Celan und Heidegger als Fanfiction, er schreibt mit Kohle the unbearable lightness of being an die Wand, er geht durch sein Werk und sieht, dass es groß ist –, sondern weil das die Autoren und Themen sind, die von Kiefer als wichtig empfunden werden und über die sich die Menschheit erkennen kann. Seine Stiftung nennt sich Eschaton.

Kiefer ist kein Intellektueller und in seiner Ignoranz so bürgerlich, dass es den Markt nicht weiter stört, es seinen Wert im Gegenteil eher steigert. Was Kiefer früh verstand (und was Wenders bewusst ausarbeitet), ist, dass seine Kunst eine gewisse Größe beansprucht – beanspruchen muss, um zu funktionieren. Von den Anfängen in seinem Atelier in Odenwald zu der renovierten Ziegelfabrik in Buchen bis zu seinem begehbaren Freiraumstudio in Südfrankreich: Mit dem Prestige wuchsen auch die Dimensionen der Kunst. Die persönlich aufgeladenen Chiffren – Anselm führt Kiefers Sonnenblumen als eine ästhetische Kindheitserfahrung ein – ziehen sich weiter durch sein Werk, werden aber der Weltansicht angepasst, stechen grau- und goldverbrannt hervor.

Wenders ist ein langjähriger Freund von Kiefer, eine Vertrautheit, die sich sowohl in der Form als auch in der Art und Weise, wie sich Kiefer durch den Film bewegt und wie Kiefer von Wenders durch den Film bewegt wird, zeigt. Eine kritische Distanz ist hier vergeblich zu suchen, auch nicht unbedingt nötig. Es ist eher ein Abtasten zweier Künstler an sich selbst. Wenders filmt in 3D, raumgreifend und raumdeutend. Es ist einer dieser Filme, der versteht, wie 3D als Technik neue narrative Optionen eröffnet und eine gewisse Gleichzeitigkeit des Erzählens ermöglicht, indem eine Ebene in den Vordergrund gezogen und bewusst betont wird, während der Film im Hintergrund weiterarbeitet.

Wenders beginnt den Film mit einer Harmonie zwischen Kunst und Umgebung. Kiefers Frauen der Antike stellen sich in den Vordergrund, während die Kamera über das von ihnen überblickte Land schwenkt. Dann wiederholt Wenders die Geste, nur dass die Frauen in den Hintergrund rücken und ein einfacher Baum eine Ebene vorgezogen wird. Umgebungskunst. Kiefer erscheint entsprechend auch zuerst als wandernder Schatten entlang der Planen des Gewächshauses, bis er mit den Silhouetten des Gebüsches zu verschmelzen scheint.

Wenn Wenders Kiefer bei der Arbeit betrachtet, wird gleichzeitig auch von den Mechanismen der Kunstproduktion erzählt. Manchmal sind die Arbeiter mit ihren Flammenwerfern oder Löschschläuchen im Vordergrund, manchmal die Emulationen und Texturen, die durch das Feuer und geschmolzenes Metall geschaffen und von Kiefer dirigiert werden. Wenders verzichtet auf die üblichen Interviewsegmente und Kontextualisierungen durch Experten oder Wegbegleiter. Es ist immer ein Film, der sich nach innen wendet, der in der Familie bleibt. In Rückblenden spielt Kiefers Sohn, Daniel Kiefer, seinen Vater in dessen jüngeren Jahren und Wenders Sohn, Anton Wenders, Kiefer als Kind. Nach einer gewissen Zeit erschöpft sich das leider, sind die Augen bereits zu sehr an die Technik und die damit einhergehende Erzählweise trainiert, sodass doch das Subjekt und damit eine gewisse Stasis zu wirken beginnt. Es gibt nur so viel, wie Kiefer zu erzählen hat, und so wenig, was Wenders nachfragen will, dass der Mythos bald übernimmt und sich zu Ende erzählt.

Von einem, der ausstieg: Perfect Days

Wenders zweiter Film dieses Jahres ist am Ende nur eine weitere Iteration des Festivalhumanismus, den er gerne und gut bedient, der aber hier ein interessanteres formaleres Korsett findet. Hirayama (Koji Yakusho) ist ein Mann von strenger Routine und glücklich darin. Er steht auf, kümmert sich um seine Pflanzen, holt sich Kaffee vom Getränkeautomaten, steigt in seinen roten Van, schiebt eine seiner geliebten Klassikerkassetten rein (House Of The Rising Sun, Brown Eyed Girl, Redondo Beach und, ja, Perfect Day) und fährt die Toiletten Tokyos putzen. Er ist schnell, gründlich und diskret, hat sogar eigene Werkzeuge entwickelt, um seine Arbeitsweise noch zu verbessern. Er spricht selten, weil es wenig zu sagen gibt, was nicht auch in einer Geste oder einem Blick oder einem Schnaufen ausgedrückt werden kann. Seine Mittagspausen verbringt er in einem kleinen Park, wo er das Lichtspiel der Baumkronen fotografiert. Am Wochenende geht er in die Sauna, frequentiert den Bücherladen, lässt seine Bilder entwickeln und geht in seine Stammbar, wo er eine unausgesprochene Romanze mit der Inhaberin hat. Es ist ein Leben, das so durchgeschrieben ist, dass es unmöglich ist, sich nicht wenigstens teilweise darin wiederzuentdecken. Es versucht dabei eine Gegenästhetik zu dem Neokapitalismus zu entwerfen, die sich doch nur in politischer Stasis und analoger Nostalgie ausdrückt.

Wenders filmt dies mit einer Präzision und Geduld, die erst ab einem gewissen Alter und einer gewissen Anzahl von Filmen möglich ist. Jeder Shot hat die perfekte Länge, jede Einstellung den richtigen Winkel. Der Film fließt erstmal vor sich hin, ohne größere Komplikationen und Plot, so lange, bis man denkt, dass sich der Film erst dann auserzählt, wenn Wenders keine neuen Toiletten mehr entdeckt, die er filmen kann. Die zweite Hälfte bringt dann jedoch mehr narrative Elemente ins Spiel – eine Nichte, die Vergangenheit mit sich bringt, ein verschwundener Ehemann, der wieder auftaucht –, die gezielt seine Routine durcheinanderwerfen und neu ordnen. Orte tauchen auf, wo man sie vorher nicht vermutet hätte – der Waschsalon gegenüber der Bar – oder werden wie die Promenade entlang des Sumida nach und nach erschlossen, als Hirayamas Souveränität in die freigelöste Emotion übergleitet. Das macht nicht wirklich ein gutes Drama, lädt Yakusho eher zum dramatischen Überspielen ein, wird aber von Wenders erneut formal äußerst souverän dargestellt. Jede Veränderung in der Positionierung der Kamera, jede Ellipse im Schnitt ist sofort fühlbar und bewegt nachtragend. Ein Film, der vielleicht schöner wäre, wäre er im Kleinen geblieben und hätte sich den größeren Emotionen verwehrt, aber zusammen mit Anselm vielleicht das erste Mal, dass ich wieder aktiv Interesse an Wenders gewonnen habe.

Die Illusion der Mitte: Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag

Einer der Lichtblicke des Festivals war Katharina Lüdins Debütfilm Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag, der seine Premiere in Locarno feierte. Die Figurenkonstellation ist zugleich simpel und komplex. Merit (Jenny Schily) ist mit Eva (Anna Bolk) zusammen, für die sie David (Godehard Giese) verließ, mit dem sie einen gemeinsamen Sohn hat. Lion (Lorenz Hochhuth) lebt mit seiner Mutter zusammen. Um seine Halbschwester Lovis (Unica-Ros Blaue-Poppy) kümmert sich vermehrt seine Freundin Rose (Pauline Frierson), die übergangsweise zur Familie gezogen ist, wegen eines Jobs aber bald in die USA gehen wird.

Der Film begreift sich immer zuerst über seine Raumchoreografie und sein Szenenbild. Vordergrund – Hintergrund – die Illusion einer neutralen Mitte. Alle Türen und Fenster stehen offen, aber schließen trotzdem aus, isolieren in der Zweisamkeit. Spiegel zeigen die Menschen, wie sie sich selber nicht sehen können oder wollen. Alle Protagonisten testen ihre Emotionen wie Theaterdialoge, weil sie nur durch das Durchsprechen für sie auch erfahrbar werden. Gedreht ist das Ganze in 16 mm, aber beiläufig, nicht so sehr von der Materialität des Films abhängig wie diese in ihren Restriktionen mitfühlend.

Eva versteht ihre Beziehung nur vom Ende her, sieht überall die Abweisung, was Merit wiederum an der Beziehung scheitern lässt. „Ich glaube, dein ‚ich‘ will einfach kein ‚wir‘ sein.“ Lions und Roses Beziehung beginnt, weil sie bald enden muss, einfach immer wieder von vorne, muss sich in jeder Szene neu behaupten. In einer wunderschönen Einstellung schiebt sich Lion, liebesverloren, vordergründig in das Bild, ehe Rose ihn in die Tiefe einlädt, aus dem Fenster heraus in den Garten, also in ihren Raum zieht und umarmt. „Ich habe einen Löwen gesehen, aber der hat die ganze Zeit geschlafen.“

Ein Film, der sehr ausgiebig zitiert, auch wörtlich, aber immer vor allem als Ambiente. Stimmungsbilder. Der Titel bezieht sich auf Ingeborg Bachmanns Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar und zwar „dass man enttäuscht, das heißt ohne Täuschung zu leben vermag“. „Dieser Film bietet keine Lösungen“, sagt gegen Ende ein Mann eine oder zwei Reihen hinter mir halblaut in den Raum hinein und bekommt keine Antwort. Dass ein Film Lösungen anbieten muss, ist natürlich einfach falsche Publikumserziehung. Dass Filme wie Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag oder auch Angela Schanelecs Music dafür nicht die Chance bekommen, weil sie entweder nicht in den Verleih oder schlichtweg nicht in die Kinos kommen, ist das andere Problem.

Früher erinnert sich Merit an eine Alltagsszene in einem Café, in der einer Frau eine Ungerechtigkeit widerfahren ist, die nur sie versteht: „Wie jemand einfach ist, aber nicht sein kann“, hält sie ernüchternd fest, denn „man überprüft sich ja ständig.“ Später tanzt sie mit David zu Amore Amore von Gianna Nannini. Er beginnt, aus Frustration und auch Courtship. Als sie sich ihm annähert, tanzen sie eher gegen- als miteinander. Jeder glücklich auf seine eigene Weise, jeder sich bewusst, dass auch das nur verdrängt. Das Blickfeld bleibt auch hier durch eine große Säule versperrt.

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