Filmfest Hamburg 2015: Sehtagebuch (2)

Diachrone Linien in Inhalt und Form: Zwei Dokumentarfilme atmen Geschichte und stoßen Rauch aus, der die Gegenwart vernebelt, zwei Spielfilme aktualisieren Traditionen der Filmgeschichte auf ganz eigene Weise.

The Creation of Meaning 01

The Creation of Meaning ist ein vielleicht etwas ambitionierter, aber auch sehr schöner und passender Titel für einen Film, der eigentlich nur das Leben auf dem Lande beobachtet. Bedeutung erschafft Simone Rapisarda Casanova um die Geschichte dieses Gebiets in Norditalien, das während der letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs die sogenannte Gothic Line bildete: hüben die Deutschen, drüben die Alliierten, durchstreift von Partisanen. Heute will ein deutscher Italienliebhaber dort ein Stück Land kaufen, versichert dem alten Pacifico aber, er könne dort so weiterleben wie bisher. Pacifico ist der Mittelpunkt des größtenteils dokumentarischen Films; in langen, statischen Sequenzen beobachten wir ihn in seinem Alltag. Seelenruhig geht er der Hausarbeit nach, während im Radio Berlusconi-Gegner und -Verteidiger einander wüst beschimpfen. Casanova fasst diesen Raum als Knoten, in dem sich Geschichte und Gegenwart auf vielfältige Weise verzahnen. Irgendwann laufen sogar Partisanen durch die Landschaft, aber wie sich alsbald herausstellt, handelt es sich nur um eine Hobby-Filmtruppe, die ein Schussgefecht zwischen Aufständischen und deutschen Truppen inszeniert – das auf 8mm gedrehte Filmchen ist schließlich in kompletter Länge zu sehen, untermalt von „Fischia il vento“.

Ansonsten unterbrechen eher beobachtete Bedeutungslosigkeiten Pacificos Leben, immer wieder Nahaufnahmen von Insekten und größeren Tieren, die mit Fortbewegung und Müdigkeit schon genug zu kämpfen haben und an der Geschichte ihrer Heimat denkbar uninteressiert scheinen. In einer grandiosen letzten langen Einstellung ist es dann ein Kleinkind, das den anti-semantischen Kontrapunkt setzt zu dem Gespräch zwischen Pacifico und dem angehenden Landbesitzer aus Deutschland: über die Geschichte der Deutschen und Italiener, über Mentalitäten und Kriege. Hier finden sich die großen Themen dieses kleinen Films in konzentrierter Form wieder, in dem, worüber die beiden sprechen, wie sie sprechen, aus welcher Position sie sprechen und wie ihr Gespräch durch die anarchischen Gelüste des Kindes immer wieder unterbrochen wird.

Im Moment der Befreiung

Every Face Has a Name 01

Auch Magnus Gerttens Every Face Has a Name hätte The Creation of Meaning heißen können, weil es genau das ist, was passiert, wenn die alten Menschen in diesem Film mit Bildern eines längst vergangenen Tages konfrontiert sind, ihre jüngeren Gesichter entdecken und zu wissen meinen, was sie gefühlt, gedacht, geglaubt haben. Gertten nutzt hierfür die gleichen Filmaufnahmen, die schon den Ausgangspunkt für seine letzte Arbeit Harbor of Hope (2012) bildeten: die Ankunft von Holocaust-Überlebenden nach der Rettung aus den deutschen Konzentrationslagern im Hafen von Malmö. Dieses Mal möchte er die Namen hinter den Gesichtern herausfinden; der Film folgt ihm zu einigen der noch lebenden Menschen, die er ausfindig machen konnte. Alle erinnern sie sich an ein großes Gefühl der Befreiung und wollen selbst in eisigen Mienen ein verstecktes Lächeln sehen. Berührend ist das, wie berührt sie alle sind, mal selig ergriffen, mal skeptisch und abweisend. In ihnen allen aber löst diese Begegnung zwischen eigener Erinnerung, eigener Lebensgeschichte und den über Gerttens profanes MacBook huschenden Bildern etwas aus.

Der Film braucht die Erinnerung, die Zuordnung der Gesichter, nicht nur weil es sein explizites Anliegen ist, sondern auch, weil die häufig wiederholten und immer mal wieder vergrößerten, verlangsamten oder gleich stillgestellten Bilder die Überlebenden eher zu entindividualisieren drohen. Weil der Film so selten und wertvoll ist, weil er Gertten so wichtig ist, werden diese Körper studiert wie unter dem Mikroskop, jede Bewegung, jeder Gesichtsausdruck wird aufgesaugt – wie in The Creation of Meaning nur die feinen Bewegungen der Insekten. Exemplare der Katastrophe. Aber nach und nach sind immer mehr Identitäten geklärt, Gesichter mit Namen und Geschichten versehen: die italo-amerikanische Studentin etwa, die für eine Spionin gehalten wurde, oder der damals neunjährige Junge, der sich zur Steigerung seiner Überlebenschancen jahrelang als Mädchen ausgab. Unterbrochen wird die Abfolge von Besuchen und Interviews immer wieder von Aufnahmen an italienischen Küsten. Erst am Ende wird klar, dass hier kein weiterer Überlebender wohnt, sondern Gertten etwas ganz anderes will: Da steigen Flüchtlinge aus Syrien und Somalia von einem Schiff, Gertten hält das Bild an und gibt auch ihren Gesichtern einen Namen. Merkwürdigerweise kommt diese riskante Verknüpfung gar nicht mal forciert, sondern eher bescheiden daher, weil sie gar nicht gleichsetzen, relativieren oder instrumentalisieren will. Bloß diese Gemeinsamkeit des Vom-Boot-Steigens nutzen, um dem simplen Gedanken Nachdruck zu verleihen: Jedes Gesicht hat einen Namen.

Pink Noir

Tropical Carmine 02

Auch Mabel (Jose Pescina) sucht ein Gesicht und einen Namen. Ihre frühere beste Freundin ist ermordet worden, ihr Mörder, da ist sie sich sicher, ist auf einem Foto mit ihr abgebildet, doch sein Gesicht wurde aus dem Bild geschnitten. Überhaupt geht es in Tropical Carmine (Carmín tropical) um Bilder, die man sich macht von Menschen. In der sehr schönen Anfangssequenz lernen wir das Mordopfer Daniela anhand einer Abfolge von verblichenen Fotos kennen, sehen ihr so beim Aufwachsen zu, vom Alter, in dem sie noch ein kleiner Junge war, bis zu dem Moment, wo wir dieselben Gesichtszüge bei einer erwachsenen Frau wiedererkennen. Auch Mabel ist eine Muxe, wie man im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca Männer nennt, die als Frauen leben und die man dort als eine Art drittes Geschlecht anerkennt. Nur hat sie ihre Heimat irgendwann verlassen, der Liebe wegen und weil sie auf anderen Bühnen singen wollte als nur im örtlichen Nachtclub. Jetzt ist sie zurückgekehrt, um einen Mord aufzuklären, für den sich die örtliche Polizei kaum zu interessieren scheint. Einen pink noir nennt Rigoberto Perezcano seinen Film, und das trifft es tatsächlich ziemlich schön.

Denn Tropical Carmine ist ein in Farben und Kamerabewegungen äußert eleganter Film geworden (die Bilder stammen von Julián Hernández’ Kameramann Alejandro Cantu), der sich eben weniger für seine Geschichte, sein Setting oder seine Figuren interessiert als für die lustvolle Aneignung von bekannten Noir-Topoi – Mabels Marlowe’sches Voice-over etwa ist ziemlich penetrant, sorgt aber für eine wohlig nostalgische Stimmung. Beschwörung statt Indienstnahme des Genres. Vielleicht scheint der Film in seinen plotbasierten Szenen auch deshalb etwas abwesend, weil ihm die Vorgeschichte viel wichtiger ist: Ganz langsam enthüllt Tropical Carmine die gemeinsame Vergangenheit von Daniela und Mabel. Schließlich scheint er seine detective story fast ganz zu vergessen, lernt Mabel doch immer besser den Taxifahrer Modesto (Luis Alberti) kennen. Aber obwohl der Film hier auf der Stelle zu treten scheint, ist auch diese scheinbare Ablenkung Teil jener Bewegung, mit der Perezcano auf sein tolles, melancholisches Ende zusteuert, in dem Mabel wieder singen wird, auch wenn sie längst selbst in Gefahr ist. Was als Stimmung dem ganzen Film eigen war, scheint hier nochmals erfahrbar: Die Spannung liegt zwar in der Luft, aber in einer längst geatmeten; alles ist längst schon gewesen, wird hier nur wiederholt, wird wieder passieren. Davon scheint auch das Lied zu sprechen, das die schöne Mabel singt.

Widriges Dasein

Siti 02

In eine ganz andere filmische Tradition ordnet sich der indonesische Film Siti ein: Schwarz-Weiß, 4:3-Format, ein menschliches Schicksal, das mehr von Umständen geprägt ist als von Handlungsmacht. Der gute, alte Neorealismus scheint hier lebendig wie eh und je. In den dunkleren Innenszenen, wenn das Bild flächiger wird, die Kontraste verschwimmen, scheint der Film zwar düsterer, expressionistischer als seine Vorbilder, beschwört diese aber umso mehr durch die Verknüpfung aus klaren narrativen Linien mit dem genauen Porträt eines Daseins voller Widrigkeiten. Dieses Dasein gehört Siti (Sekar Sari), die einen Haushalt schmeißt, verschuldet ist, tagsüber am Strand Kekse verkauft, nachts in einer Karaoke-Bar Männer „unterhält“. Auch zu Hause ist Siti umgeben von Männern, die nicht machen, was sie will: Ihr Ehemann ist nach einem Unfall gelähmt und liegt schweigend im Bett, sie würde so gern wieder seine Stimme hören. Der kleine Sohn ist kerngesund und hört gar nicht mehr auf zu sprechen, und manchmal hätte Siti wohl gern, dass er die Klappe hält. Doch richtig wütend kann sie auf beide nicht sein, auch wenn ihre Freundin eigentlich mit ihr am Strand geübt hat, laut „Arschloch!“ zu schreien.

Trotz der widrigen Lebensumstände, in die Eddie Cahyono seine Protagonistin wirft, ist ihm an Miserabilismus glücklicherweise überhaupt nicht gelegen: Siti findet Trost bei ihrer Schwiegermutter, bei ihren Freundinnen und Kolleginnen, die sie wegen ihres Flirts mit einem Polizisten aufziehen, und auch das Verhältnis zum bockigen Sohn ist trotz diverser Streits von tiefer Zuneigung geprägt. In der Anfangssequenz wird die Karaoke-Bar von der Polizei gestürmt und soll wegen angeblicher Prostitution geschlossen werden. Später wird der Besitzer des Etablissements gemeinsam mit Siti und den anderen dort arbeitenden Frauen vors Polizeirevier ziehen, um die Sache auszudiskutieren. Aber selbst der Polizeichef ist in Siti ein Kerl, mit dem man reden kann. Die Abwesenheit von wirklichen villains ist irritierend, aber auch ganz schön. Die Schwierigkeiten in Sitis Leben sind in keiner Figur verkörpert, finden sich in keiner externen, benennbaren Kraft. Es ist so banal wie ausweglos: Man braucht Geld, hat kaum Zeit, immer weniger Kraft. Das Schicksal spendet Unfälle. Arbeit gibt es dort, wo Männer Frauen begehren und Geld übrig haben. Und trotzdem muss am nächsten Morgen der Kleine in die Schule, damit aus ihm mal was wird.

Neue Kritiken

Kommentare zu „Filmfest Hamburg 2015: Sehtagebuch (2)“

Es gibt bisher noch keine Kommentare.






Kommentare der Nutzer geben nur deren Meinung wieder. Durch das Schreiben eines Kommentars stimmen sie unseren Regeln zu.