Filmfest Hamburg 2015: Sehtagebuch (1)

Traurigkeit und steife Schwänze: Ein Familiendrama aus Québec ist eher an stiller Anteilnahme interessiert, die neuen Filme von Gabriel Mascaro und Athina Rachel Tsangari leben von mal mehr, mal weniger sinnlicher Nacktheit.

Our Loved Ones 01

Man tut auf dem Filmfest Hamburg gut daran, sich an das zu halten, was man kennt. Stets gibt es genügend Linien, die dieses Festival über mehrere Jahre verfolgt. Zu ihnen gehören regionale Schwerpunkte – Québec etwa ist innerhalb der französischsprachigen Sektion Voilá meist stark vertreten und fast immer eine Reise wert – ebenso wie einzelne Regisseure, etwa der Brasilianer Gabriel Mascaro, der mit dem so stillen wie schönen August Winds bereits letztes Jahr in Hamburg war. Die eindrücklichste Linie der letzten Jahre werde ich dieses Mal traurigerweise nicht verfolgen können: Der einzigartige Raul Perrone – dessen P3ND3J05 und Favula zu den Höhepunkten der letzten zwei Jahrgänge gehörten – hat zwar auch seinen neuen Film Samurai X im Programm untergebracht, gezeigt wird er allerdings erst, wenn ich schon wieder auf dem Rückweg bin. Also begnüge ich mich erst mal mit Québec und Gabriel Mascaro.

Epos und Intimität

Our Loved Ones 02

Anne Émonds Our Loved Ones (Les êtres chers) ist eine episch angelegte Familiengeschichte, die auch über größte Zeitabstände ihr intimes Verhältnis zu den Figuren nicht verliert. Im Zentrum steht David (Maxim Gaudette), dessen Vater zu Beginn des Films stirbt. Ein Selbstmord, wie David erst Jahre später erfahren wird. Im Testament ein folgenschwerer Satz: „Mein Werkzeug vermache ich meinem Sohn David ... wenn er denn will.“ David zögert kurz, aber dann lächelt er: Natürlich will er. Und so ist er bald ein angesehener Marionettenbauer und beschäftigt seinen Tunichtgut-Bruder. Die schöne Marie hat er da längst kennengelernt; eine Liebe, die den Übergang vom berühmten ersten Blick in den Familienalltag so souverän meistert wie Émond die entsprechende Ellipse, die gleich ein paar Jahre schluckt. Marie ist Steuerberaterin, und immer wieder wird David sie augenzwinkernd fragen, wer der Reichste im Dorf ist. Natürlich ist es David, der Glückliche, dem alles gelingt, der alles hat. Und dem es doch nicht gut zu gehen scheint. Was genau in ihm vorgeht, das macht der Film nur selten explizit. „Ich lebe durch euch hindurch“, schreibt er seiner Tochter Laurence in ihr Tagebuch.

Laurence (Karelle Tremblay) ist es, die mit dieser Familiengeschichte schließlich zurechtkommen muss, und mit der Traurigkeit, die sich durch Our Loved Ones zieht. Wir lernen sie als kleines Mädchen kennen, begegnen ihr als Teenie wieder, wenn ihre Jugendliebe aus dem Schulbus herausgezogen und in eine Drogenklinik eingeliefert werden muss, schließlich als junge Frau, die nach Europa geht. Da schleichen sich also schon Klischees ein, auch formale – kleine Dramen in Zeitlupe –, doch das sind höchstens Probleme einzelner Momente. Die narrative Ambition wird dem Film glücklicherweise nie zum Verhängnis. Anders als Richard Linklater, der das Epische durch seine Lust an Beiläufigkeiten geerdet hat, verschließt Émond dem Zufall und den unbedeutsamen Ausschweifungen die Tür: keine Szene, die keinen Nachhall hat, die nicht wieder aufgegriffen wird. Und doch fühlt sich Our Loved Ones nicht manipulativ an, vielleicht weil sich das eigentliche Drama nicht im Bild, sondern hinter der lächelnden Fassade Davids verbirgt, der sich irgendwann nicht mehr sicher ist, ob er noch will. Alles im Fluss in diesem Film, nur sein Gesicht bleibt gleich, wird eben langsam älter. Das kann nicht gut gehen.

Mannes’ Hand an des Pferdes Penis

Neon Bull 02

Auch Gabriel Mascaro blickt mit einer fast grenzenlosen Empathie auf seine Figuren im Nordosten Brasiliens – und durch die Augen von Kameramann Diego García, der in diesem Jahr bereits für die Bilder von Apichatpong Weerasethakuls tollem Cemetery of Splendour verantwortlich zeichnete. Und tatsächlich erinnert Neon Bull (Boi neon) vor allem in seinem sinnlichen Umgang mit dem Körperlichen an das jüngste Werk des Thailänders. Nacktheit und Sexualität sind für Mascaro nicht nur selbstverständliche Bestandteile seiner filmischen Welt, sie scheinen eine ganz eigene Ebene zu konstituieren. Nackte brasilianische Cowboys, eine nackte Schwangere, nackte Tiere in geradezu erotischen Posen. Diese Erotik ist niemals individuelle Eigenschaft, gehört keinem einzelnen Körper an, entsteht nicht aus einem bereits strukturierten gesellschaftlichen Feld, sondern bricht sich Bahn, quer durch die Schichten, Geschlechter und Spezies.

Im Mittelpunkt steht eine Art Familie, aber nur in dem Maße, wie Neon Bull eine Art Geschichte erzählt: Galega (Maeve Jinkings) lebt mit ihrer kleinen Tochter Cacá und zwei Stallburschen in einem Viehtransporter, mit dem sie Bullen und Pferde für Rodeo-Shows durch die Gegend fahren. Aus quasi-dokumentarischen Beobachtungen schälen sich stille Transgressionen heraus, das Milieu wird ordentlich durchqueert: Eine Männerhand masturbiert einen Pferdeschwanz (es geht jedoch nicht um Liebe, sondern um das teure Ejakulat). Eine schwangere Parfümverkäuferin zieht des Nachts eine Uniform an und bewacht eine Kleiderfabrik, sie verführt dort den stillen Cowboy Iremar, der so gern Frauenkleider designt und seinen Blick, bevor es zum Äußersten kommt, von den großen Textilmaschinen kaum abwenden kann. Grandiose Sex-Szene. Iremars beleibter Kollege wird bald von einem schönen Jüngling ersetzt, der sich vor dem Spiegel seine lange Mähne kämmt. Neon Bull ist ein Film der Momente, ein Film, der überrascht, nicht durch Wendungen im Plot, sondern in jedem Bild.

Schwanzvergleich in großem Stil

Chevalier 01

Mascaras Werk wird mir wohl stärker in Erinnerung bleiben als ein Film, auf den ich mich eigentlich noch mehr gefreut hatte. Athina Rachel Tsangari hat nach ihrem großartigen Attenberg (2010) zwar fleißig Filme produziert – die ihres Landsmannes Yorgos Lanthimos etwa, aber auch an Richard Linklaters Before Midnight (2013) war sie beteiligt –, selbst hat sie aber erst jetzt wieder auf dem Regiestuhl Platz genommen. Und obwohl auch Chevalier wieder formale Konzentration mit einem eher spielerischen Ton äußerst gelungen verknüpft, bleibt der Film doch rätselhaft, in vielerlei Hinsicht. Er fühlt sich unentschlossen an, aber nicht so, als hätte sich Tsangari nicht entschließen können. Manchmal ist er träge und zäh, aber diese Trägheit scheint zu jeder Zeit gewollt. Er kommt zerrissen daher, aber nicht, weil hier etwas nicht aufgehen würde, sondern weil es vielleicht gerade ums Reißen ging. Das mag nun selbst rätselhaft klingen, die Kinoerfahrung jedenfalls ist anregend und ernüchternd zugleich.

Dabei ist es fast schon bewundernswert, wie wenig Spitzen Tsangari aus einer Konstellation herausholt, die nach Zuspitzung nur so schreit. Sechs Männer auf einem Bootstrip im Mittelmeer; ein zunächst nur Zeit vertreibendes Spielchen wird bald zu einer Olympiade der Männlichkeit, mit dem Ziel herauszufinden, wer der allgemein Beste in allem ist. Über die zwei verbleibenden Tage will man sich in allem gegenseitig beurteilen, Wertungen vergeben für charmantes und souveränes Auftreten, für Telefongespräche mit der Liebsten daheim, aber auch für klassische Wettbewerbe wie Steineflippern; und auch der Schwanzvergleich darf nicht fehlen (den das Pferd aus Neon Bull locker gewonnen hätte).

Auch Chevalier greift also den aus dem neuen griechischen Kino bekannten Topos des Mikrokosmos mit ganz eigenen Regeln auf, schaut sich an, was passiert wenn. Tsangaris Film ist intelligent und er ist komisch, aber er irritiert, weil sich beides weniger ergänzt als ständig in die Parade fährt. Die Handlung spielt sich auf einer unklaren, verschwommenen Ebene ab, der Film ändert Rhythmus und Tonalität mit jeder Szene, und zu keiner Zeit ist er klar lesbar als etwas, worauf er eigentlich hinauszulaufen schien: Kritik der Männlichkeit, Allegorie auf ein korrupt-patriarchales politisches System, Parodie auf den Wettbewerb um des Wettbewerbs willen. Man ertappt sich beim Wunsch nach eben jenen Zuspitzungen, die man dann wohl doch nur flach fände und vielleicht nur deshalb wünscht, weil das eigene Urteil dann leichter fiele. Meine persönliche Enttäuschung jedenfalls ist dem Film völlig egal. Chevalier ist in jeder Hinsicht merkwürdig, nicht einfach nur seine weirdness vor sich hertragend, sondern konsequent in seiner Eigenwilligkeit.

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