Filmfest Hamburg 2014: Sehtagebuch (3)
Das Psychogramm eines schlechten Menschen, Coca-Cola als Bodylotion und eine Chile-Reise in drei Filmen, die in einer bürgerlichen Familie beginnt und bei marginalisierten Bibern endet: Notizen zum Festival.
Cornea (Regie: Jochem de Vries; Niederlande, Deutschland 2014)

Das Gesicht von Thomas ist ruhig, zu jeder Sekunde könnte es in Gelächter oder in Schluchzen ausbrechen. Die große Frage dieses Films – in welche Richtung wird das Pendel ausschlagen? – scheint von Beginn an beantwortet, weil die ruhigen, konzentriert an Thomas ausgerichteten Bilder stark nach Psychogramm riechen, und in die Psychen zufriedener Menschen wagt sich das Kino denn doch eher selten. Regisseur Jochem de Vries gibt sich merklich Mühe, Thomas’ Psyche mit Bildern auf die Pelle zu rücken. Früh im Film sehen wir ihn auf einem Stuhl vor einem Aquarium sitzen, Fische schwimmen durch seinen Kopf, Gedanken wahrscheinlich. In diesem ersten Teil überzeugt mich der Film noch wenig, weil er erst etwas manieriert seinen Inhalt vorenthält, nur um mir die entscheidenden Informationen dann doch auf eine recht deutliche Weise zuzuschustern. Das Subtile der Bilder scheint nur Fassade. Und doch macht es zunehmend Freude, die Bewegung des Films mitzumachen – hinein in Thomas’ Kopf –, eine Bewegung, die stets nochmal verlängert wird, wenn man an ihr Ende gekommen zu sein glaubt. Mein Genuss bezieht sich lange Zeit zwar stärker auf die konzentrierte Aufführung und das konsequente Crescendo als auf die eigentliche Musik. Nach dem Abspann fühle ich mich aber doch bereichert, weil Cornea eben doch nicht ganz im Psychogramm eines Krisenmannes aufgeht. „Ich bin ein schlechter Mensch“, sagt Thomas irgendwann, und dieser Satz hallt nach, über das radikale Ende hinaus, wird in meiner Erinnerung verbunden bleiben mit diesem Gesicht, das nicht mehr lachen, nicht mehr weinen kann; und das uns bekannter vorkommt, als es uns lieb sein kann.
August Winds (Ventos de Agosto; Regie: Gabriel Mascaro; Brasilien 2014)

Nachdem die Festivalreise im Nachbarland begonnen hat, konzentriere ich mich nun auf die Sektion „Vitrina“, nicht in erster Linie wegen meines Lateinamerikanisten-Backgrounds, sondern weil die ausschließlich spanischsprachige Reihe schon im letzten Jahr hervorragend kuratiert war und auch heuer viel verspricht. August Winds ist denn auch ein schöner Hybrid aus Regionalporträt und lakonischem, stets übers Bild vermitteltem Humor. Das exotische Setting – die Atlantikküste des brasilianischen Bundesstaats Pernambuco – nutzt Regisseur Gabriel Mascaro auch als bewussten Bruch mit exotistischer Ästhetik, etwa durch Szenen wie aus der Kinowerbung: Ein hübsches Mädchen liegt im Bikini auf einem Fischerboot. Meer und nackte Haut. Dann der Bruch: Das Mädchen zückt eine Cola-Dose, doch das Getränk wird zweckentfremdet als Bodylotion. Gleichmäßig wird die Limo auf Beine, Rumpf und Gesicht verteilt, auch der Intimbereich bekommt seine Dosis ab. Vor allem wird das „traditionelle Dorf“ aber gestört von einem etwas skurrilen Fremden, der für wissenschaftliche Messungen die Windbewegung nachvollziehen will: Sein Puschelmikro steht fortan im Bild rum. Und schließlich taucht eine Leiche auf, die weg muss, aber aus der verbarrikadierten Polizeiwache im Nachbarort ertönt nur eine Stimme, die meint, man habe sie versehentlich ins Gefängnis gesteckt. Der Regisseur kommt vom Dokumentarfilm, wie man so sagt, und vielleicht weiß er noch nicht ganz genau, wo er hinwill. Aber gerade das Unentschlossene macht den Reiz des Films aus. Vor allem hat Mascaro ein gutes Gespür für Dauer, er hält die Einstellungen gerade lange genug, dass sie zu nachdrücklichen Impressionen werden können, ohne dass man direkt zur Meditation gezwungen wird.
Voice Over (La voz en off; Regie: Cristián Jiménez; Chile, Frankreich, Kanada 2014)

Das Leben ist Chaos, und es gibt keinen Voice-over, auch wenn wir manchmal gern einen hätten. Seine Funktionsweise macht der Film am Ende – unnötigerweise – explizit. Davor hat er für mich eher selten funktioniert. Es mag daran liegen, dass die zweite Reihe zu nah dran ist an der verwackelten Handkamera und den länglichen Untertiteln, aber die chaotische Erzählung nimmt mich zu keiner Zeit wirklich gefangen und überfordert mich eher. Im Zentrum steht die übliche zerrissene Familie, die Tonlage ist recht klassisch tragikomisch. Eine Frau hat sich von ihrem Mann getrennt und inspiriert mit diesem Entschluss ausgerechnet ihren Vater, sich nach jahrzehntelanger Ehe von ihrer Mutter zu trennen. Eine Schwester kehrt aus Europa zurück und bringt noch mehr Leben in die Bude. Chaos heißt in Cristián Jiménez’ Film also weniger Kontingenz als Fülle von Ereignissen, ständiges Parallellaufen von Geschichten, die das Leben wohl so schreibt. Voice Over ist aber nicht zuerst wegen der vielen Geschichtchen ein zu vollgestellter Film, sondern vor allem, weil er auch zu viele filmische Ideen für eine konzentrierte Erzählung hat. Seine Figuren hat er so lieb, dass er ihnen allerlei skurrile, absurde und schöne Momente schenken will, die dadurch häufig etwas zwangsoriginell daherkommen; gerade das Unbeschwerte wirkt so manchmal ziemlich angestrengt.
Naomi Campbel (Regie: Nicolás Videla, Camila José Donoso; Chile 2013)

Ich bleibe in Chile: Von der Kleinstadt Valdivia geht es an die Peripherie der Hauptstadt, und von der Mittelschicht geht es an die Ränder der Gesellschaft; oder besser: an den Rand der Ränder der Gesellschaft. Yermén ist eine transsexuelle Frau, die sich nichts sehnlicher wünscht als eine operative Geschlechtsumwandlung. Durchaus in einem schon fortgeschrittenem Alter, hat sie bereits viele Jahre im falschen Körper zugebracht, ihren Wunsch drückt sie denn auch weniger als eine Notwendigkeit aus: Sie möchte sich etwas Gutes tun, sich belohnen. Allein: Es fehlt das Geld. Ihre letzte Hoffnung ist eine Reality-TV-Show, die eine solche Operation spendieren und begleiten will. Das Schönste an Nicolás Videlas und Camila José Donosos Film ist, dass diese Geschichte im Off bleibt. Über ihren bitteren Kern – Reality-TV als Dienstleistung, Wunscherfüllung gegen Erfüllungsaufzeichnung, in immer mehr Lebensbereichen – denkt man auch nach, ohne dass er ständig im Zentrum steht. So bleiben wir bei Yermén und ihrem Umfeld, hören zwischendurch auch mal drei älteren Frauen zu, die über die „Hexe“ der Vorstadt lästern. Ganz unrecht haben sie nicht: Yermén arbeitet für ein Callcenter, das seinen Anrufern mit Tarotkarten die Zukunft voraussagt. Naomi Campbel ist ein trister Film, manchmal auch ermüdend. Aber ihm gelingt, was Voice Over nicht gelang: eine Stimmung zu beschwören, zu übertragen.
Beaverland (Los Castores; Regie: Antonio Luco, Nicolás Molina; Chile 2014)

Der letzte Teil der Chile-Reise führt mich – man glaubt es kaum – an einen noch weiter äußeren Rand: nach Feuerland, zu Lebewesen, die zum Abschuss freigegeben wurden. Es geht nicht ums gesellschaftliche Ausstoßen, sondern ums legale Töten. Den informativen Teil ihres Dokumentarfilms haben die Regisseure Antonio Luco und Nicolás Molina in ein paar Texttafeln verlagert, mit denen ihr Film beginnt: In den 1940er Jahren wurden 25 Biber aus Kanada nach Feuerland verschifft, wo man sich den Beginn einer Jagdkultur samt Pelzindustrie erhofft hatte. Der wirtschaftliche Plan ist längst passé, doch die Biber sind geblieben und zu einer Plage geworden, die das gesamte Ökosystem bedroht: Waldsterben, Überflutungen, Reduktion der Artenvielfalt. Weil die Biber in der für sie fremden Umgebung keine natürlichen Feinde haben, müssen unnatürliche mobilisiert werden. Derek und Giorgia zum Beispiel, ein junges Biologenpärchen, das nach Feuerland reist, um sich die Sache mal anzusehen und das zu tun, was die Natur hier unten nicht schafft: Biber zu töten. Die beiden filmen ihre Reise selbst, aber sie werden auch gefilmt, was nicht ganz unwichtig ist, weil es darauf hindeutet, dass der Film nicht in aufklärerischer Absicht den wissenschaftlichen Blick verdoppelt, sondern diesen mit vor die Kamera holt. Das eröffnet Beaverland einen vielschichtigen Reflexionsraum. Denn waren die Biber trotz des kaum bezweifelbaren Schadens, den sie anrichten, nicht auch einst willkommene Immigranten, deren Nachkommen nun ein besseres Leben genießen – ohne natürliche Feinde? Auch die Interviews mit dem menschlichen Teil der autochthonen Bevölkerung erinnern an allzu bekannte Diskurse: Es ist eine Invasion, sie vermehren sich wie sonst was, sie haben einen Anführer, sie roden so viel Holz, wie es die heimische Industrie niemals schaffen kann. Nachdem die Biber selbst im ersten Teil des Films noch abwesend sind, findet man schließlich tatsächlich ein Exemplar, das dann auch live erschossen, ausgenommen und gekocht wird. Währenddessen dürfen unsere spätestens seit Die Reise der Pinguine allseits beliebten feuerländischen Watschelfreunde für die Denunziation der eifrigen Nager mit dem Holzfetisch herhalten: Die Pinguine finden ohne Bäume nämlich kaum noch Schutz vor Wind und Witterung. Einmal steht eine Gruppe von ihnen im Bild, allein und verletzlich. Obwohl sie in Beaverland stets nur zu mehreren auftreten und die Biber immer nur als einzelne, erscheinen Erstere doch als schützenswerte Individuen, Letztere als gefährliche Plage. Irgendwie ist Biologie doch auch Lobbyarbeit. Der Film schenkt den Bibern wenigstens das letzte Bild: Aus der Vogelperspektive sehen wir zwei von ihnen, wie sie aufeinander zu schwimmen.
Kommentare zu „Filmfest Hamburg 2014: Sehtagebuch (3)“
Gerhard Schwab
Naa ja, schon ziemliches, von keiner Ahnung getrübtes Geschafel über das Bberproblem in Patagonien. Und ganz voran der fehlende natürliche Feind, den jetzt der Mensch ersetzten muss. Das Proble mit den Bibern in Patagonien sind nicht die fehlenden natürlichen Feinde (die beim Biber eh kaum eine Rolle spielen auch in Nordamerika haben sich die BIber nach der Wiederinbürgerung wieder ausgrebreitet. Trotz und inmitten von Bär, Wolf, Luchs, Kojoten...), sondern dass die Südbuche, Nahrung der Biber, nach dem Fällen nicht wieder austreibt - im Gegensatz zu Nahrungsbäumen der Biber in Nordeuropa, wo sie sich in Jahrmillionen an den Biber angepasst haben.
Und dass der Biber Artenvielfalt reduziert? Da zeigen die Untersuchungen patagonischer Wissenschaftler ganz anderes. Zum einen sind Biber nicht überall unterwegs, sondern ans Gewässer gebunden. Damit entfallen schon mal 90% des Landes dem Bibereinfluß und dem Einfluß des Bibers auf Artenvielfalt. Und auf den Wiesen, die sich in entbaumten Fläche bilden, wenn Biber weiterziehen müssen, kommen zahlreiche Arten, die im ohnen Biber geschlossenen Gehözbestand am Gewässer nicht vorkommen. Wie "realitätsnah" das ganze ist, auch die Behauptung, das Biber mehr roden, als die heimisch Industrie schaffen kann. Der Spruch erinnert an an "Atomkraft ist sicher, es gibt keine Unfälle"