Filme ohne Gesicht – Forum 2021

Bäume reisen durch die Welt und ein Fluss bewahrt Erinnerungen. Doch die Natur hilft nicht bei der Frage, wie man einen verurteilten Mörder filmen sollte. Einblicke in drei Dokumentarfilme aus dem Berlinale Forum.


Alptraumhafte Bilder der Macht

Ikonografie der friedlichen Routine: die Sonne am Morgen, die ihren gewohnten Lauf nimmt; das Meer, das so rauscht, wie es das jeden Tag macht; die Wellen, die gegen die Felsen klatschen. Ein paar Angler, zwischen den Steinen platziert, gehen schweigend ihrer Arbeit nach. Die Einträchtigkeit von Mensch und Natur, die diese Bilder zu Beginn von Taming the Garden beschwören, wird bald gestört, als ein großer Baum am Horizont erscheint. Gemächlich gleitet er auf einem Floß über das Wasser, auf zum Ufer und in Richtung der Angler, die ihn, wie die Zuschauenden, nur anstarren und rätseln können, ob es sich bei seinem Auftritt um eine optische Täuschung handelt. Es wird nicht beim Einzelfall bleiben. Eine Vielzahl von Bäumen begleitet Salomé Jashis Film bei solchen betörend-ungewöhnlichen Bewegungen, die allesamt im Garten eines mysteriösen Mannes mit Geld und Einfluss enden. Das Sammeln der Bäume ist in Taming the Garden exzentrisches Hobby.

Regisseurin Jashi verzichtet darauf, den Mann zu zeigen. Stattdessen konzentriert sich ihr Film auf die Prozesse des Entwurzelns und Transportierens, vergrößert die gottgleiche Geste des Verschiebens, mit der merkwürdig gewachsene Bäume zum Kunstobjekt erklärt und alptraumhafte Bilder von Macht produziert werden. Straßen werden gebaut, andere Pflanzen plattgemacht, damit die neuen Exemplare der Kollektion ihre jahrzehntelangen Standorte verlassen können – obwohl gar nicht klar ist, ob die Riesen in der Klimazone des Sammlers überhaupt überleben können. Um all das zu kommentieren, macht Taming the Garden charmanterweise die Bauarbeitenden zu zentralen Figuren, die über den Auftraggeber mit dem kleinen Hund tuscheln und dessen Beweggründe diskutieren. „And when he has all the trees?”, fragt einer von ihnen mal. Ein anderer antwortet: „He’ll go after the birds.“

 

Gesicht produzieren

Anmaßung will ein cleverer Film sein, will demonstrieren, dass sich vor und während der Dreharbeiten reichlich Gedanken darüber gemacht wurden, wie mit seinem inhaftierten Protagonisten umzugehen ist. Der verurteilte Mörder Stefan S. ist für Chris Wright und Stefan Kolbe Faszinosum und zugleich Anlass für ein Gedankenspiel über das Begehren der Welt, Gesichter zu produzieren. „Das ist kein Film über Stefan. Es ist ein Film darüber, wie wir uns ein Bild von ihm machen“, verkündet das Regie-Duo also aus dem Off. Und weiter: „Was sehen wir, wenn wir nicht sehen können?“ Anmaßung verzichtet auf das gefilmte Tätergesicht, um die Aufmerksamkeit auf die Imagination zu lenken. Wie stellt eine Zuschauerin sich den autistischen Stefan S. vor? Welche gesellschaftlichen Vorstellungen werden wiederum sichtbar, wenn das Böse in der Banalität liegt? Wie schauen auch Wright und Kolbe auf die Person, die sie da filmen?

Um diese Blickkonstellationen zu thematisieren, wird das Gesicht von Stefan S. in den Aufnahmen mal verpixelt, mal als Fragment gezeigt (dennoch tritt er an auffällig vielen Stellen als Stimme und Körper im roten Pulli auf). Zu Bildern von Orten aus dem Leben des ehemaligen Chemiefaserwerkarbeiters in der DDR berichten Kolbe und Wright aus dem Off von der Chronologie, die ihnen Stefan S. zuvor als sein Leben geschildert hat. Schon zu Filmbeginn wurde er von einem Therapeuten aus der JVA als unzuverlässiger Erzähler markiert – während den zwei Regisseuren, so scheint es in Anmaßung, natürlich vertraut werden kann, wenn sie die fremde Biografie erzählen, ihre Treffen mit Stefan S. schildern oder sich am Ende des Filmes darüber ärgern, vom Protagonisten vielleicht für kostenlose Museumsbesuche ausgenutzt worden zu sein. Integer, das sind hier diejenigen, die Dokumentarfilme machen.

Mithilfe einer wütend aussehenden, babyartigen Puppe und zwei Spielerinnen, die sie steuern, werden weitere Begegnungen zwischen dem Mörder und den Filmemachenden nachgespielt. Die Puppe lädt ein zu Spekulationen über Fremd- und Selbstbestimmung in Sachen Täterschaft, sie materialisiert, was die Regisseure als des Täters Unfähigkeit zur Reflexion begreifen, zur Abständigkeit vom Selbst, das die Fäden aus den Händen verloren hat. Entlarvend ist das merkwürdige Sprechen über Stefan S. in den Sequenzen mit den Puppenspielerinnen aber vor allem für den Film, weil hier erneut klar wird, was in Anmaßung zur Normalität erhoben wird und als Instanz eines betrachtenden „Wir“ gilt. Wirklich über Positionierung denkt Anmaßung nicht nach, wirklich reflexiv werden die Blicke von Zuschauenden und Filmemachenden nicht; selbst wenn immer wieder auffällig eine Ton-Angel im Bild platziert wird, Kolbe und Wright sich selbst filmen oder plakativ in die laufende Aufnahme laufen, um die Herstellungsprozesse ihres Filmes sichtbar zu machen.

 

Über das Zuspätsein

Es beginnt mit den Bildern von Überwachungskameras. Die Innenstadt von Wuhan wirkt wie leergefegt. Links oben bezeugt eine Datumsangabe, dass die Videos von Anfang 2020 stammen, Februar, März, im April kehren die Menschen mit Behelfsmasken zurück. Dann ein Zeitsprung, zurück in ein Wuhan vor der Pandemie. Menschen tanzen ohne Abstände. Ein Mann schwimmt durch den Jangtse. Wasserbüffel grasen dort, wo sie noch nicht verscheucht wurden und kein neues Gebäude gebaut wird. Vom Ufer aus schaut in der Nacht eine Menschenmenge bei einer Lichtshow zu, während der die Hochhäuser der Großstadt angestrahlt werden. Brücken werden gebaut, hier und da, drüben eine neue Baustelle. In langen Einstellungen entwirft Shengze Zhu in A River Runs, Turns, Erases, Replaces das Panorama einer Metropole, die sich im stetigen Wandel befindet. Die einzelnen Bilder werden durch den titelgebenden Fluss als Motiv miteinander verbunden. Er scheint durch sie hindurchzuführen, zu leiten. Manchmal lockt eine Abzweigung.

Zhus Film ist eine melancholische Annäherung an eine Stadt, die immer nur einem Versuch gleichkommen kann, weil dieses Wuhan so schnell ist, sich immer schon neu entworfen hat, wenn die Kamera gerade aufgestellt wurde. Nicht nur in diesem Versuch der Abbildung geht es in A River Runs, Turns, Erases, Replaces um Verlust, um ein Zuspätsein. Vier Briefe flankieren die Bilder und werden als Texte eingeblendet; ihre Buchstaben legen sich über die Stadt. Die Briefe wurden von Hinterbliebenen verfasst, an Verwandte und Partner*innen, die nicht mehr da sind. Die Inhalte der Briefe kommen zeitlos daher, doch die Schriftstücke stammen allesamt aus dem letzten Jahr. Obgleich es sich bei A River Runs, Turns, Erases, Replaces nicht nur eine filmische Auseinandersetzung mit der Pandemie und ihren Auswirkungen handelt, läuft dies bei der Betrachtung von Zhus Film auf berührende Weise mit. Es ist nur konsequent, das am Ende Familienfotos stehen, wiederum aus einer Zeit vor 2020, wiederum von jenen, die mal waren, die fehlen. Denn die Erzählungen von Liebe und Verwandtschaft, die A River Runs, Turns, Erases, Replaces anstellt, sind zugleich Geschichten über Orte und ihre Veränderlichkeit. Die Erinnerung wird als Raum der Überlagerung kenntlich, in dem das Fortleben möglich ist. Ein Fluss, der nicht vergisst.

Neue Kritiken

Kommentare zu „Filme ohne Gesicht – Forum 2021“

Es gibt bisher noch keine Kommentare.






Kommentare der Nutzer geben nur deren Meinung wieder. Durch das Schreiben eines Kommentars stimmen sie unseren Regeln zu.