Filme als Zeitkapseln: Retrospektive Frederick Wiseman
Wiseman Say: Das Berliner Arsenal widmet dem großen Dokumentaristen von Institutionen im Mai eine Retrospektive, die von den empörten 16-mm-Filmen des Frühwerks zu den begeisterten Digital-Epen des Spätwerks reicht.

Frederick Wiseman, der im Januar diesen Jahres 92 Jahre alt geworden ist, macht Dokumentarfilme, die tief hineinführen in vor allem US-amerikanische Institutionen. Institutionen, das sind bei diesem Regisseur in erster Linie konkrete Orte, in denen Menschen miteinander handeln. Das können die Insassen und Wärter einer Strafanstalt für psychisch Kranke sein wie in Titicut Follies (1967), die Jugendlichen und die Belegschaft einer Schule wie in High School (1975), die Leute, die fürs Ballet (1995) leben, oder alle, die sich in der National Gallery (2015) aufhalten. Und sei das Sujet noch so altehrwürdig, ausschlaggebend sind genau die Wochen, in denen gedreht wird. Die Filme haben keinen didaktischen Anspruch oder suchen nach Vollständigkeit. Was dabei herauskommt, ist enorm konkret und nahbar.
Methode als Form

Wiseman hat seine Methode in über vierzig Spielfilmen in knapp sechs Jahrzehnten verblüffend konsequent durchgehalten. Kleine Teams von zwei bis drei Leuten, der Regisseur selbst macht nach wie vor den Ton. Seine Kameraleute kommen meist vom ethnografischen Film oder der Arbeit an Naturdokumentationen. Die Filme entstehen im Schnitt aus Unmengen Rohmaterial, wobei das Ergebnis zurückhaltend narrativiert und dabei sehr durchdacht strukturiert ist. Pointen gibt es dabei reichlich, forciert sind sie nie. Weder werden wir von einem Voice-over noch von Interviews angeleitet, die Kamera ist soweit möglich unsichtbar – und wie egal sie den Gefilmten meist scheint, ist erstaunlich.

Dieser Ansatz bedeutet vor allem eine Herausforderung fürs Publikum. Die gezeigten Situationen werden uns ohne Rahmung und detaillierten Kontext vorgesetzt. Wer all diese Leute sind, wer welche Rolle innehat, welches Ziel erreichen möchte und so weiter, das wird uns nicht dargereicht. Die Situationen sind nicht standardisiert und erfordern Eigeninitiative in Form von Einordnung. Gleichzeitig ermöglichen sie ein Treibenlassen, wir können mal hierhin, mal dorthin schauen und bekommen das Gefühl, schlichtweg da und dabei zu sein.

Diese glaubwürdige Unmittelbarkeit herzustellen, ist das Ergebnis sorgfältiger Arbeit. Direct Cinema hat man sie genannt, Cinéma vérité oder aleatorischen Film. Wiseman findet, er dreht Filme. Meinung und Perspektive werden nicht in Kommentaren vorgefertigt klargestellt, sondern bilden den Unterbau, auf dem der Film steht und der sich in Kameraeinstellungen, Aufmerksamkeiten, Schnitt, Rhythmus und Transitionen, vor allen Dingen aber in der Themenwahl zeigt. Wisemans Sicht auf die Welt ist dabei unleugbar eine linke, auch wenn er von sich selbst sagt, eher ein Groucho Marx denn ein Karl Marx zu sein. Die Kamera sieht auf Arme und Abgehängte, verharrt auf denen, die aufbegehren, wie auf denen, die still leiden. Aber auch unbedingt auf einem intakten Gemeinwesen, hat ein besonderes Auge für öffentliche Aufgaben, demokratisches Handeln auf lokalster Ebene und alltägliche Solidarität.
Ein Blick in die Welt

Unablässig wagt Wiseman den oft gescheuten Blick in die Administrative, in Vorstandssitzungen, Telefonzentralen und Kaffeepausen. Dort wird deutlich, wie Menschen Institutionen prägen und umgekehrt. Die Orte, die wir sonst oft als black boxes kennen, werden erfahrbar und wir können uns dabei beobachten, wie schnell wir die Eigenlogik eines solchen Ortes übernehmen oder ablehnen. Auch dienen die Filme als Zeitkapseln, in denen sehr viel Leben konserviert ist. Der bloße nostalgische Spaß, den es bringt, sich etwa das Treiben im Central Park des Jahres 1989 anzusehen, sollte auch angesichts der erdrückend dramatischen Themen insbesondere des Frühwerks nicht vergessen werden.

Dank Wisemans stringentem Schaffen bietet die Retrospektive auch die seltene Gelegenheit, eine Form mit verschiedenen Inhalten zu studieren. Welche Orte und Rollen sind schon auf die Öffentlichkeit einer Kamera zugeschnitten und welche sind es nicht? Was erwarten wir, auf Film zu sehen und was erblicken wir vielleicht zum ersten Mal? Die Filmauswahl macht es möglich, die keineswegs eindeutige Entwicklung von den frühen, kurzen und empörten Werken auf 16 Millimeter zu den bisweilen begeistert-affirmativen dreistündigen Beobachtungen auf sauberem Digitalbild des späten Wiseman nachzuvollziehen.

Besonders empfehlen möchte ich Model aus dem Jahr 1980, eine eklektische Tour durch die New Yorker Modelszene der anbrechenden 1980er Jahre. Aufgeregte Amateure huschen durch die Agenturen, in denen sie freundlich abgefertigt werden; Profi-Mannequins bieten ihr Gewinnerlächeln und ihre Luxusbeine dem voyeuristischen und dem technisch-kühlen Auge eines Werbefilmdrehs dar. Model ist alles, was das Kino Wisemans ausmacht: Milieustudie, Charakterporträt, Dialogkino, beinhaltet ganz ruhige, aber auch wahnwitzige Einzelszenen und Montagen. Und eine Einladung, einen genauen Blick in eine Welt zu werfen.
Die Reihe läuft vom 4. bis zum 29. Mai 2022. Hier geht's zum Programm.
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