Filme als Wahrheiten: DOK Leipzig 2022
Zu Unrecht vergessene DEFA-Werke, Begegnungen mit der Ukraine und eine gefilmte Nachlassverwaltung: Beim DOK Leipzig stellen Filme Gemeinschaft her, verbiegen sich aufrichtig und suchen in Foto-Archiven nach einem Horror namens Zukunft.
Gesten des Pathetischen: Du bist min. Ein deutsches Tagebuch

„Bin ich jetzt pathetisch?“, fragt Annelie Thorndike ironisch, kommentiert sich und den eigenen Film, der zusammen mit Hans-Joachim Funk, Manfred Krause, Michael Englberger und Ehemann Andrew Thorndike entstanden ist, und der an nichts weniger als einem gesamtdeutschen Heimatfilm interessiert ist. So kündigen es Carolin Weidner und Felix Mende an, die in diesem Jahr eine Retrospektive kuratiert haben, die sich mit der fehlenden Sichtbarkeit von Dokumentarfilmerinnen aus der ehemaligen DDR beschäftigt. Dass Du bist min. Ein deutsches Tagebuch von 1969 einer der teuersten Filme war, die die DEFA je produziert hat, ist ihm in jeder Einstellung anzumerken. Flugaufnahmen betonen seinen Anspruch des Umspannenden, Umgreifenden, des Totalen, mit dem er sich dem Dasein und den Verhältnissen in einem geteilten Deutschland nähert und permanente Szenenwechsel vollzieht.
Ein Tagebuch wird aufgeschlagen, ein Spaziergang unternommen, eben eine Reise in das Imaginative, wo stürmisch geliebt und drängend gehasst wird. Verquer verbindet Thorndike Punkte der Geschichte miteinander, um rhetorische Schlagkraft zu entfalten. Ihre Stimme überlagert die Bilder, spricht Texte, die an die Schriften von Ilse Aichinger oder auch Annie Ernaux erinnern, aber im Gegensatz zu ihnen in ihrer Poesie perfide auftreten, jede Zeile eine Falle, mit der die Wirklichkeit gefangen genommen werden soll. „Bin ich jetzt pathetisch?“, ja, nichts als Gesten des Pathetischen, die dieser Film vollführt, zuweilen fast eine Karikatur seiner selbst – und doch genau darin ein ziemlich aufrichtiger Film, wenn er im Modus des Verbiegens nach einem Umgang mit Tradition und Erinnerungspolitik fragt.
Gemeinschaft herstellen: Drei Frauen

Weil das ukrainische Filmfestival DocuDays aufgrund des Krieges nicht stattfinden konnte, gibt die diesjährige Ausgabe von DOK Leipzig solidarisch fünf Beiträgen aus dem Programm eine Plattform. Die neu eingerichtete Sektion „Panorama“ erweitert das eigene Programm zusätzlich dezidiert um Filme aus Mittel- und Osteuropa. In beiden Reihen läuft Drei Frauen nicht; unter anderem, weil es sich stärker um den Blick eines Filmemachers handelt auf das Land, in dem er geboren wurde und in das er reist, um es zu verstehen – anhand einer Miniatur, in die er sich hineinbegibt, stets mit dem Wissen, sie wieder verlassen zu können.
Dem Namen nach ist Stuschyzja ein kalter Ort. Das kleine Dorf in den Karpaten, in dem die Briefmarken ständig ausverkauft scheinen und lädierte Fahrzeuge gesegnet werden, um die Hoffnung auf ihre Weiterfahrt zu steigern, verfügt nur über wenige Einwohner*innen. Meist leben sie in ärmeren Verhältnissen in diesem „dead end“, wie Bäuerin Hanna einmal sagt, wo das Wetter rau ist und die Grenzen von Polen und der Slowakei auf die der Ukraine treffen. 2019 drehte Maksim Melnyk seinen Film, der sich stärker auf die Wärme als auf die Kälte konzentriert, die der Ort suggeriert. Drei Frauen ist Dokument der Begegnung, allen voran eben mit den titelgebenden drei Frauen aus Stuschyzja, die die Montage zusammenbringt: mit Postbotin Maria, Biologin Nelya und der alleinstehenden, älteren Hanna, die in Melnyk und Kameramann Florian Baumgarten („der Deutsche“) neue Söhne findet.
An Distanz zu seinen Protagonistinnen ist dieser Film, der vor allem von Männern gedreht wurde, nicht interessiert. Er will Austausch forcieren, Geschichten teilen vom Leben, Tod und dem Dazwischen, das in der Bärenscheiße versteckt ist, die Nelya untersuchen will. So tritt auch häufiger das Team selbst vor die Kamera, schließlich müssen Haare geschnitten, Horoskope verlesen, Schnäpse getrunken und Schweine verschenkt werden. Skurril wirkt Drei Frauen folglich nicht nur wegen des Ortes, mit dem er sich beschäftigt, sondern aufgrund solcher formalen Entscheidungen. Dabei legt er in aller Komik den Wunsch eines Regisseurs offen, mithilfe eines Films (und seiner Produktion) eine Gemeinschaft herstellen zu können, die aber, so ihr Wesen, immer nur auf Zeit und immer schon im Verfall begriffen ist; ein melancholisches Projekt, das durch ein Heute gelegentlich verstärkt wird, wenn die Bewohner*innen Stimmzettel auszählen und Wolodymyr Selenskyj im ersten Wahlgang die Präsidentschaftswahlen 2019 gewinnt. „Let’s see if a comedian can make a difference”, meint Hanna seufzend.
Verschachtelungen: Die toten Vögel sind oben

Ein Nachlass gibt den Anstoß für den Film von Sönje Storm, die sich mit den Sammelaktivitäten des eigenen Urgroßvaters beschäftigt. Von Glasplattennegativen und ausgestopften Vögeln bis zu den aufgespießten Schmetterlingen und von Hand kolorierten Bildern der norddeutschen Flora und Fauna erkundet Die toten Vögel sind oben, wovon diese ganzen Dinge zeugen, die Jürgen Marth obsessiv auf seinem Dachboden verstaut hat, was sie überhaupt zeigen und was mit ihnen anzufangen ist. Verschiedene Institutionen haben Interesse an dem Zeug, das Storm von Expert*innen bewerten lässt und bei der Erschließung und sorgsamen Überführung in Archive beobachtet; eine Sammlung wird selbst Teil einer größeren Sammlung, die Daten zur Artenvielfalt auslesen will, mithilfe von Schubladen die Welt begreifbar macht.
Transfer, Ordnung, Kategorisierung, Verschlagwortung, Haltbarmachung sind die Begriffe, mit denen sich die Prozesse beschreiben lassen, die Die toten Vögel sind oben nicht nur abbildet, sondern selbst dramaturgisch vollzieht. Darüber erzählt Storms verschachtelter Film eine Geschichte der Fotografie, in deren Bilder sich der Großvater mit dem Knipskasten als Schatten setzt. Das Scannen wird zur Methode, um Bilder in Erscheinung treten zu lassen, in deren Unschärfe sich Biografie und kollektive Geschichte, Naturwissenschaft und Kunst treffen. Bei dem, was dieser Nachlass offenbart, handelt es sich nicht nur um die Vergangenheit, so viel wird klar. Überschwemmte Deiche künden schon von dem, was das Zukünftige bereithalten wird; fotografische Visionen, die nach Wahrhaftigkeit streben, vielleicht eher Entwürfe, nicht bloß Rückblicke, sondern ein Ausblick auf sich öffnende Horizonte, wie Vilém Flusser schreibt. Der elektronische Score von Dominik Eulberg und Bertram Denzel hat derweil schon verstanden: Die Zukunft ist ein Horrorfilm.
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