FIDMarseille 2018: Was Stars noch bedeuten
Isabelle Huppert will angeschaut werden, aber bloß nicht spontan fotografiert. In einem Glaskasten über dem Meer castet Albert Serra junge Frauen für seinen neuen Film. Beim FIDMarseille wird nach der Aura des Kinos gefragt.
Erst wird der Toten gedacht und den Partnern gedankt, dann steht da plötzlich Isabelle Huppert in einer weiten Jeanshose und erhält den Ehrenpreis des FIDMarseille. Ihr wird gehuldigt, und alles Pathos wirkt angemessen. Leicht könnte das kippen und peinlich sein, aber dazu kommt es nicht. Sie beherrscht die Situation, fängt das Überbordende ein, lenkt die ausgeströmte Liebe, die ihr gilt, aufs Kino. Nicht, indem sie sich klein macht, sondern indem sie ihre Arbeit ernst nimmt.
Huppert sucht die Kontrolle

Tags darauf gibt sie eine Masterclass, wie diese Gespräche mit Filmschaffenden inzwischen überall genannt werden. Sie zu beobachten heißt immer auch ein Medien-Phänomen zu beobachten, das Bild abzugleichen mit dem Erinnerten von Leinwand und Berichterstattung. Was in Filmen selten sichtbar wird, sichtbar werden darf, ihr fortgeschrittenes Alter, ist offensichtlich, aber weniger frappierend als ihre Suche nach Kontrolle.
Aus der Mitte des Saals beginnt jemand, sie zu fotografieren, dezent, aber bestimmt winkt sie ab und prüft mehrmals, ob er auch wirklich aufgehört hat. In der zweiten Reihe holt jemand sein Smartphone raus, um das Gespräch zu filmen, sie signalisiert, dass sie das nicht möchte. Huppert streift sich durch die Haare, man könnte meinen, sie hat einen Tick, aber das ist es nicht: Wenn die Haare wieder sitzen, leicht über ihr Ohr fallen, aber nicht alle, dann berührt sie sie nicht mehr.
All das passiert nebenher, das Gespräch ist längst in vollem Gange, und sie scheint alles gleichzeitig wahrzunehmen. Sie erinnert sich an Details ihrer Arbeit, ihrer Auftritte, ihrer Szenen von vor 20, 30, 40 Jahren, von einzelnen Regieanweisungen bis zum Austausch über die Rollen. Die Kamerafrau Caroline Champetier (Holy Motors, Villa Amalia), die mit ihr auf dem Podium sitzt, hat einige von Hupperts Theaterauftritten mehrmals besucht. Jede ihrer vielen genauen Beobachtungen kann die Schauspielerin sofort zuordnen. Ihr Leben ist dem Schauspiel verschrieben, das ist offensichtlich. Und sie hat ihre eigene Philosophie, ihre eigene Haltung: Nicht um Rollen und Einfühlung geht es, sondern darum, dass es da jemanden gibt, der sie filmen will. Kein Wunder, dass sie ihr Bild kontrollieren will.
Ein Regisseur habe sehr treffend eine große Unentschiedenheit an ihr beschrieben, erzählt Huppert und wirkt dabei kein bisschen unentschieden. Wankelmütigkeit nimmt man ihr hingegen sofort ab. Und bekommt Lust, sie zu filmen. Am liebsten am Übergang zwischen einer Entschiedenheit und einer anderen.
Casting-Termin mit Albert Serra

In der Tageszeitung des Festivals wird ein Casting angekündigt für den neuen Film von Albert Serra (Story of My Death, Der Tod von Ludwig XIV), der im Herbst in der Nähe von Marseille gedreht werden soll. Fünf hohe Stockwerke mit dem Aufzug vom Konferenzraum im Keller zum Veranstaltungssaal unterm Dach, von der Masterclass zum Casting-Termin. Serra gibt sich sehr locker und lässt uns Schaulustige zugucken. Er erklärt, er suche keine professionellen Schauspieler. Dem schüchternen Mädchen auf dem Stuhl gegenüber sagt er, er wisse überhaupt gar nicht, was er wolle. Ich nehme es ihm keine Sekunde ab. Will er Unsicherheit provozieren?
Im Blick und in den Gesten, vor allem aber in den kleinen Regungen des Gesichts versuche ich zu erahnen, wie diese Frau auf der Leinwand ausschauen würde und wie in einem Film von Albert Serra? Welche Präsenz braucht es, welche Reaktion, welchen Umgang mit den Worten des Regisseurs? Es ist ein Casting ganz ohne Szene, ohne Spiel, ohne Aufgabe. Nur ein Gespräch soll es sein. Er fragt nach den geschiedenen Eltern, den jeweiligen neuen Partnern und mit wem sie intim seien. Vorsichtig, sehr lässig stichelt Serra ein bisschen, vielleicht will er sein Gegenüber herausfordern, doch weit treibt er es nicht. Weiß er schon, dass sie keine Chance hat, so verschämt, wie sie von sich erzählt? Immerhin geht es um die Spielfilm-Auskopplung des Theaterstücks Liberté.
Edie Sedgwick und die Frage nach der Aura

Einem Menschen zuzuschauen, wie er etwas mit sich selbst aushandelt, das kann einen ganzen Film füllen. Wie als Illustration von Hupperts These, dass es auf den Blick ankommt und auf die Lust, jemanden zu filmen, ist Edie Sedgwick am nächsten Morgen vierfach auf der Leinwand zu sehen. Die Retrospektive des Festivals ist der Zusammenarbeit von Andy Warhol mit dem damaligen It-Girl gewidmet. In einer schönen 16mm-Doppelprojektion läuft Outer and Inner Space, die Veranstalter entscheiden sich, die Bilder nebeneinander zu projizieren, manchmal werden sie wohl übereinander oder auch nacheinander gezeigt.
Im Hintergrund Sedgwick, in einer Videoaufzeichnung auf einem Fernseher, im Vordergrund Sedgwick, die an der Kamera vorbeischaut, mit jemandem redet, vermutlich mit Warhol, und ein bisschen zu sich selbst. Die beiden nebeneinander projizierten Aufnahmen zeigen dasselbe Setting, aber überschneiden sich nie. Sie verzieht das Gesicht, windet sich, spielt damit, dass sie nichts zu tun hat, dass sie im Mittelpunkt steht und das Warum mal mehr und mal weniger versteht. Ein Film, bei dem es zwar auch auf das Verhältnis der vier Frauen ankommt, wie sie sich zueinander geometrisch und dynamisch verhalten, sich manchmal berühren, überlagern, unterscheiden. Im Kern aber dreht sich alles um die Präsenz und einen filmischen Begriff von Aura.
Ein Found-Footage-Film der fröhlichen Sehnsucht

Ist die Aura das, was jemanden zum Star macht? Oder strahlt die Aura aus, wer schon Star ist? Viel mehr als die Frage, ob es einen Anfang oder Ausgangspunkt braucht, das Henne-und-Ei-Problem, interessiert mich, was zusammenkommen muss, damit die Anziehungskraft anschwillt, damit der Eindruck entsteht, dass etwas von der menschlichen Existenz kondensiert an einem Punkt zu finden ist. Skeptiker werden fragen: Kann Kino überhaupt noch elektrisieren? Für mich ist eh klar, dass es das kann. Am Abend läuft ein großartiger Found-Footage-Film, der diese Frage abstrahiert wiedergibt. Den Titel auszuschreiben fühlt sich schon falsch an. Und auch die typographische Variante *, die auf dem Kinoticket und im Programm abgedruckt ist, nähert sich dem Symbol nur an, das am Anfang von Johann Lurfs Film steht, ein Stern, ★, ein einziger.
In chronologischer Reihenfolge und stets mit Original-Tonspur hat Lurf Filmausschnitte versammelt, die Sterne im Himmel zeigen. Es geht nicht um realistische Abbildungen, sondern darum, was das Kino sich aus Sternen macht, was im Kino dafür gehalten wird, wie sie sich bewegen und Filme sich durch sie hindurch. Es beginnt stumm und wird mit fortschreitender Dauer immer musikalischer, es gibt auch mal Sprachfetzen zu hören und kleine Sprünge, denn das Prinzip ist: Die Erde darf nie zu sehen sein. Das klingt stark konzeptuell, die Wirkung entfaltet sich nach und nach aber sehr direkt, weil es viel ausmacht, in (überwiegend künstliche) Firmamente zu starren, und weil die ausgewählten über 500 Filme tatsächlich mehr verbindet in ihrem Blick gen Himmel als nur das Motiv. Ich versuche nicht, die Musik zuzuordnen oder die Bilder zu erkennen, sondern gebe mich der plastisch werdenden Sehnsucht nach einem Lebenssinn hin, einer fröhlichen Sehnsucht, weil sie den Glauben an ihre Erfüllung in sich trägt.
Wofür steht das D?
Man muss Glaube nicht religiös auffassen, aber Kino lädt oft dazu ein. Gerade in eingeschworenen Kreisen, bei Cinephilen, die dieselben Filme verteidigen, die auf ihre Helden und seltener Heldinnen nichts kommen lassen. Das FIDMarseille aber ist widersprüchlicher. Im Wettbewerb, über den ich im Einzelnen nicht schreiben will, weil ich hier Teil einer Jury bin, laufen viele Experimente mit fiktionalen, dokumentarischen und performativen Methoden. Widersprüche und Entlegenes gibt es reichlich, und doch ist das FID kein Ort der Gegensätze. Das große kleine Filmfestival mit der schönen Reputation, zu machen, was es will, wirkt eher so, als ströme alles mehr zusammen denn auseinander.
Dazu passt irgendwie auch der erklärungsbedürftige Name des Festivals: Das D für Dokumentarfilm wurde im Logo beibehalten, trotz der Freiheit, die sich das Festival seit gut zehn Jahren nimmt, Gattungsgrenzen zu ignorieren. Ausgeschrieben heißt es inzwischen FID Festival International de Cinéma Marseille. Irgendwo schnappe ich auf, das d könne ja auch für „de“ stehen. Es wäre nicht die schlechteste Option. Ein Festival „für“ oder „von“. Klingt kompliziert, aber versucht mal zu erklären, was Kino ist und was nicht.
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