Explodierende Illusionen: Das 67. Filmfestival von Locarno
Die Erwartungen waren hoch, und sie wurden nicht enttäuscht. Das Filmfestival Locarno 2014 beglückte mit illuminierten Hafennächten, Wasserspritzern auf der Kameralinse und einer Reise ins goldene Zeitalter des italienischen Kinos.

Ein Mann trifft eines Nachts auf einem Pier eine Frau. Sie wartet dort vergeblich auf ihre große Liebe, er dagegen verbringt in dem Küstenort eine einjährige Auszeit. Sie beginnen zu sprechen, zuerst zurückhaltend und vorsichtig, dann jedoch immer offener und emotionaler. In den darauffolgenden drei Nächten treffen sie sich an derselben Stelle wieder, und es entspinnen sich Gespräche, die zwischen Melancholie und Heiterkeit pendeln und die fast in einer Liebesbeziehung münden. White Nights on the Pier (Nuits blanches sur la jetée) des Franzosen Paul Vecchiali war einer der schönsten Filme des diesjährigen Wettbewerbes. Es ist ein durch und durch romantischer Film, frei von jeglicher Sentimentalität, der von den beiden Darstellern Astrid Adverbe und Pascal Cervo getragen wird. Der Pier, auf dem sie sich treffen, wird von Vecchiali sprichwörtlich in eine Bühne verwandelt, das Licht des Hafens und des Leuchtturms umhüllt die Darsteller in einem traumähnlichen Zustand. Am Ende steht der Mann alleine da, der Morgen bricht an. Was übrig bleibt, sind Erinnerungen.
Phantome der Geschichte

Diese nächtliche Stimmung teilt White Nights on the Pier mit dem neuen Film von Pedro Costa, der ebenfalls im Wettbewerb lief. Horse Money (Cavalo Dinheiro) lässt sich am ehesten als ein Film über Geister beschreiben. Wie bereits in Colossal Youth (Juventude em Marcha, 2005) folgt der Regisseur Ventura, einem illegalen Immigranten von den Kapverden, der ehemals in Fontainhas, einem Armenviertel in Lissabon, lebte. Dieses Viertel existiert mittlerweile nicht mehr, und Costa inszeniert Ventura als eine Figur, die doppelt heimatlos ist. Nicht nur ist sein Zuhause verschwunden, Ventura scheint auch aus der Geschichte gefallen zu sein und geistert nun durch nächtliche Korridore, Krankenhäuser und Katakomben. Die Gespräche, die er führt, kreisen nicht nur um sein eigenes Leben, sondern auch um die Geschichte der Kapverden und Portugals. Ohne profundes Wissen des geschichtlichen Kontextes ist es für den Zuschauer stellenweise schwer, die Anspielungen und Hintergründe zu verstehen. Dass trotzdem keine Frustration aufkommt, verdankt sich einer Offenheit der Erzählung, die verschiedene Lesarten zulässt. Und wie bereits in seinen früheren Werken erweist sich Costa als ein herausragender Bildgestalter, Horse Money ist ein überwältigendes visuelles Erlebnis.

Der dunkle Fluchtpunkt, auf den Lav Diaz’ Wettbewerbsbeitrag From What Is Before (Mula sa kung ano ang noon) unaufhaltsam zusteuert, ist Ferdinand Marcos Proklamation der Verordnung Nr. 1081, die dem philippinischen Diktator 1972 uneingeschränkte Macht verlieh und das Kriegsrecht im ganzen Land ausrief. Diaz beginnt die Handlung zwei Jahre zuvor in einem abgelegenen Barrio. Dort geschehen merkwürdige Dinge, Kühe werden geschlachtet und Fremde tauchen auf. Gleichzeitig legt sich über die Gegend eine unüberwindliche Zukunftslosigkeit. Schließlich übernimmt die Armee die Kontrolle. In bestechendem digitalem Schwarz-Weiß gedreht, ist From What Is Before ein Film, der im Gegensatz etwa zu Horse Money die politischen Zusammenhänge offen darlegt und erläutert. Gleichzeitig unterläuft Lav Diaz immer wieder die diegetische Einheit der Erzählung. Wasserspritzer auf der Kameralinse oder eine teils schlechte Tonqualität stören die Illusionsmaschine des Kinos. Am Ende wird ein Bauer von Milizen gefoltert und mit einem Strick an einem Baum aufgehängt. Die Kamera zeigt uns mehrere Minuten lang den Mann, dann bäumt er sich plötzlich auf, der Film endet. Handelt es sich um einen letzten, symbolischen Akt des Widerstandes? Oder konnte der Schauspieler vor lauter Schmerzen nicht mehr in dieser unbequemen Position ausharren? In dieser letzten durch und durch radikalen halben Sekunde dieses 338 Minuten langen Werkes wird der körperliche Schmerz greifbar, und jegliche Illusion explodiert förmlich vor unseren Augen.
„Willkommen an Bord, liebe Passagiere“

Seit mehreren Jahren zeigt das Filmfestival Locarno regelmäßig die dokumentarischen Arbeiten des an der Harvard-Universität angesiedelten Sensory Ethnography Lab. Nachdem er bereits als Co-Regisseur mit Foreign Parts (2010) und People’s Park (2012) am Festival vertreten war, wurde J.P. Sniadecki dieses Jahr mit seinem neuen Film in den Wettbewerb eingeladen. The Iron Ministry zeigt uns ein China, das mit 300 km/h in die Zukunft rast. Während drei Jahren filmte Sniadecki in verschiedenen chinesischen Zügen, und im fertigen Film verdichtet er seine Aufnahmen zu einer endlosen Zugfahrt. Wir sehen Menschen beim Schlafen, Kochen, Spielen und Sich-Langweilen, wir hören allerlei Geräusche, das laute Reden der Reisenden, die Durchsagen im Zug, und über allem liegt das Rattern. Ist die erste Hälfte eine Ergründung des visuell-auditiven Raumes der Eisenbahn, so stehen im zweiten Teil eine Reihe von Gesprächen im Zentrum. Zwei Jugendliche sprechen über die Möglichkeit auszuwandern, eine andere Gruppe erwähnt die politischen Umstände in Tibet und was es bedeutet, wenn eine große Anzahl Menschen in andere Gebiete zieht.

Wie in seinen bisherigen Filmen versteht sich Sniadecki nicht als ein unsichtbarer Beobachter des Geschehens, sondern als ein aktiver Teil davon. Es geht ihm nie nur um die reine Beobachtung, sondern stets auch um eine Interaktion. Offenbart sich uns Zuschauern auf der Leinwand ein Mikrokosmos, so sehen die Passagiere ihrerseits einen jungen Mann mit Kamera und gehen neugierig auf ihn zu.
Die Genialität des Systems

Der Erfolg und die Anziehungskraft von Locarno liegen nicht nur in der Auswahl an zeitgenössischem Kino begründet. Fast die Hälfte des Programms ist der Filmgeschichte gewidmet. Die Auszeichnungen für Lebenswerke (dieses Jahr u.a. für Agnès Varda, Víctor Erice und die Produzentin Nansun Shi) werden von kleinen Werkschauen begleitet. Über all dem thront jedoch die Retrospektive, die das Festival dem italienischen Studio Titanus widmete und die der unbestrittene Höhepunkt des Festivals war. Gegründet 1904 in Neapel und bis heute als Familienunternehmen geführt, entwickelte sich Titanus schnell zu einer treibenden Kraft des italienischen Films – zuerst als Verleiher, dann auch bald mit eigenen Studios – und prägte vor allem das Nachkriegskino nachhaltig. (Heute ist es ausschließlich auf Fernsehproduktionen fokussiert.) Sein Programm zeichnet sich durch eine große Offenheit aus und lässt sich nur schwer auf einzelne Titel reduzieren. Gerade diese Aufgeschlossenheit gegenüber diversen ästhetischen wie kulturellen Strömungen macht Titanus zu einem faszinierenden wie ergiebigen Prisma, durch das sich das goldene Zeitalter des italienischen Films erschließen lässt.

Die Kuratoren der Retrospektive legten ihren Schwerpunkt auf Filme, die die Unterteilung in Genre- und Autorenkino aufbrechen, und weniger auf Arbeiten von bekannten Regie-Stars wie Federico Fellini, Michelangelo Antonioni oder auf „Autoren-Super-Spektakel“ eines Luchino Visconti (wie Der Leopard / Il Gattopardo, 1963). So gab es gleich mehrere Melodramen von Raffaello Matarazzo zu sehen, wohl dem emblematischen Regisseur des Studios, oder die Komödien von Valerio Zurlini. Oder auch Frauen und Wölfe (Uomini e lupi, 1956) von Giuseppe de Santis, in dem Eckpfeiler des Neorealismus – die Arbeit mit Laiendarstellern, das harte Leben der Landbevölkerung, die Arbeit an Originaldrehorten – auf ein melodramatisches Starvehikel mit Yves Montand und Silvana Mangano treffen. In Francesco Rosis frühem Film (mit dem leider unglücklichen deutschen Titel) Auf Sankt Pauli ist der Teufel los (I magliari, 1959) sucht dagegen eine Gruppe Italiener zuerst in Hannover, dann in Hamburg ihr Glück im Betrugsgeschäft. Rosi und sein Kameramann Gianni di Venanzo dringen mit ihrer Kamera tief ins Hamburger Hafenviertel ein und schaffen Bilder, die vor lauter Details zu zerbersten drohen und bei denen man immer wieder vergisst, die Untertitel zu lesen.
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