Erstarren im Iran, Plappern in Kolumbien: Sehtagebuch Tallinn

Eine zittrige Eröffnungsszene und eine unvergessliche Schlusssequenz: Große filmische Momente gab es in Tallinn vor allem im Nebenwettbewerb der Spielfilmdebüts zu sehen.

Wenn eine Filmschau innerhalb von nur zwanzig Jahren von einer Reihe aus 22 Beiträgen mit lokaler Bedeutung und 4.000 Zuschauern zu einem sogenannten A-Festival mit einem Weltpremieren-Wettbewerb, über 300 Filmen und fast 100.000 Besuchern aufsteigt – dann darf vermutet werden, dass die Qualität des offiziellen Programms kaum mit der Schnelligkeit des Bedeutungszuwachses mithalten kann. So war denn die häufigste Klage auf dem diesjährigen Black Nights Filmfestival in Tallinn, dessen estnisches Kürzel „PÖFF“ auf zahlreichen Merchandising-Produkten prangt, dass das Festival seine Funktion als Schaukasten mit Wiederholungen der besten A-Festival-Beiträge des zu Ende gegangenen Jahres verloren habe.

Foto Logo POFF

Das hat mit der der Akkreditierung des Festivals durch die Fédération Internationale des Associations de Producteurs de Films vor zwei Jahren zu tun, nach der die Kuratoren dazu gezwungen sind, für ihren Hauptwettbewerb zumindest einigermaßen ansprechende Weltpremieren zusammenzukratzen. Dies ist denkbar schwierig, da Filmschaffende nach wie vor auf Berlin, Cannes, Venedig oder Locarno warten – daneben auf Karlovy Vary oder San Sebastián, auch wenn Tallinn mit dem A-Festival-Stigma nun in derselben Liga mitspielen soll. Gegenüber der prominenten Konkurrenz fiel der diesjährige PÖFF-Hauptwettbewerb qualitativ dann auch weit ab – für viele war Lev shaket von Eitan Anner der einzig gelungene Beitrag. Folgerichtig gewann der israelische Film auch den Hauptpreis. Ein eigenes Profil schafft sich das PÖFF dagegen mit den markanten Nebenreihen: So bot der Wettbewerb aus 13 Debütspielfilmen von nahezu sämtlichen Kontinenten den interessanteren Blick auf neues Kino, die besten Beiträge dieser Reihe vermieden ganz bewusst den globalen Rundumschlag und wandten sich mit einem entspannten – und entspannenden – Selbstbewusstsein lokalen Momenten und Empfindungen zu.

Foto Antardrishti

Da ist zum Beispiel der Blick eines alten Mannes durch ein Fernglas in dem indischen Familiendrama Antardrishti, das fernab von Bollywood und weitgehend unabhängig produziert wurde: Seine drei Töchter sind fast erwachsen und streben aus der rückständigen Provinz des indischen Teilstaates Assam fort von dem pensionierten Geographielehrer, der – ein schönes Bild für sein Aus-der-Zeit-Geworfensein – stapelweise gedruckte Zeitungen archiviert. Auch der Filmtitel, der übersetzt „Der Mann mit dem Fernglas“ bedeutet, wendet eine einfache, aber treffende Metapher an: Wenn der Vater durch sein Fernglas die Töchter auf den Feldern und Wiesen der Umgebung heimlich dabei beobachtet, wie sie die sie umwerbenden Männer treffen, sind sie ihm optisch nah, doch ihr Sehnen und Begehren weit entfernt. Ein Bedeutungsspiel, das Regisseurin Rima ganz offensichtlich auch auf ihr Debüt überträgt. Denn Antardrishti vermeidet jeden politischen oder sozialen Kontext dieses in ruhigem Bilderfluss dahintreibenden Generationenporträts – was insofern provoziert, dass die jüngste der zu verheiratenden Töchter im Film höchstens 14 Jahre alt ist.

Foto Reza a Lenda

Fiebrig und zittrig erregt hingegen die Eröffnungssequenz der brasilianischen Action-Dystopie Reza a lenda von Homero Olivetto, auf den ersten Blick ein Mad Max -Verschnitt und doch ein ganz eigener, wütender Kommentar auf das Lava-Gebrodel unter der heutigen brasilianischen Gesellschaft: Zwei Mädels auf einer nächtlichen Straße in der Einöde Brasiliens starren mit weitaufgerissenen Augen in das Scheinwerfer-Licht einer entgegenkommenden Motorrad-Gang. Nach dem anschließenden Frontalzusammenstoß entspinnt sich ein brutales und sexuell aufgeladenes Abenteuer um eine Gruppe von Outlaws, die sich einen Kampf mit einem Drogenbaron um eine mysteriöse Heiligenstatue liefert. Sämtliche Figuren stehen unter dem Einfluss der gnadenlosen Zentrifugalkraft ihrer Obsessionen, in deren Mitte religiöse Repression, verdrängte Sexualität und Gewalt wirken. Immer wieder kommt es zu Entladungen, die trotz sichtbar geringem Film-Budget mit visueller Wucht in Szene gesetzt werden.

Foto Duet

Den Weg in die entgegengesetzte Richtung schlägt der Iraner Navid Danesh mit seinem Debüt Duet ein. Wie um die Vorgaben der iranischen Zensur durch eine Art Übereifer vorzuführen, finden in dem Liebesdrama aus der Teheraner Oberschicht keine zwischenmenschlichen Berührungen statt, tiefste Emotionen werden durch einfache Blicke, eine vorsichtige Bewegung oder ein Innehalten zum Ausdruck gebracht. Glasklare Bildkompositionen und minutenlange Plansequenzen mit extrem langsamen Zooms erschaffen eine aseptische, eiskalte Welt, in der gewöhnliche Konflikte zu existenziellen Erschütterungen anschwellen: Eine Frau trifft nach vielen Jahren einen Ex-Freund wieder und erinnert sich an die alte Liebe, ihr Ehemann ist verunsichert und spioniert seiner Frau nach. Mehr passiert hier nicht, und doch fühlt es sich so an, als ginge es um Leben und Tod, wenn sich die beiden in der unvergesslichen Schlusseinstellung auf der Treppe ihres Hauses einfach nur anblicken, während ein leckendes Rohr ein Wasserrinnsal die Tapete herunterlaufen lässt. Ein verstörender Einblick in eine Gesellschaftsschicht, in der äußere Erscheinung und Innenleben auseinanderklaffen.

Foto Paris La Blanche

Auf dem Terrain europäischer Filmtraditionen bewegt sich Lidia Leber Terkis Paris la blanche: Mit Rückgriff auf die Nouvelle Vague, aber auch französische Arthaus-Erfolge der jüngsten Zeit, erzählt die in Algerien geborene Drehbuchautorin und Regisseurin sympathisch und melancholisch von der Reise einer alten Algerierin, die nach Paris kommt, um ihren Mann nach Hause zu holen. Vor fast fünfzig Jahren war er als Gastarbeiter nach Frankreich ausgewandert, hat regelmäßig Geld nach Algerien geschickt und ist doch nie selbst zurückgekehrt. „Ich bin zu fremd“, sagt er müde, als ihn seine Frau in einer schäbigen Bleibe einer Pariser Banlieue besucht und bittet heimzukehren. Zuvor war die Kamera durch die heruntergekommenen Vorstädte der französischen Hauptstadt gestreift, wie eine anklagende Beschwörung der tiefen Spaltung der Gesellschaft. Und zugleich spielt Paris la blanche eine leichtfertige Naivität aus, indem Stereotype wie der Stricher mit Herz oder die Putzfrau mit sozialem Engagement bemüht werden, die der Algerierin bei der Ankunft in der Ile-de-la-cité unter die Arme greifen. Ein seltsames, beunruhigendes Selbstporträt des heutigen Frankreich.

Foto Suave el Aliento

Der ehrlichste und schönste Film in der „First Feature Competition“ jedoch war Suave el aliento aus Kolumbien, der in Tallinn mit dem FIPRESCI-Preis ausgezeichnet wurde. Im Zentrum stehen drei Figuren: ein 14-jähriges Mädchen, das ihre Schwangerschaft entdeckt und nicht weiß, wie sie es ihrem gleichaltrigen Freund sagen soll, der sie ständig zu verführen versucht; eine 70-jährige Frau, die ein Leben lang nur die Geliebte eines verheirateten Lebemannes war und jetzt den Heiratswunsch des Todkranken ablehnt, weil sie versteht, dass er nur jemanden braucht, der seine Nachkommenschaft regelt; und schließlich ein 40-jähriger Mann mit drei Kindern von drei verschiedenen Frauen, der sich angesichts des erneuten Kinderwunsches seiner vierten Frau in eine Depression zurückzieht. Als Tochter, Großmutter und Vater sind die drei familiär miteinander verbunden und bilden ein vielschichtiges Panorama der Geschlechterverhältnisse in Kolumbien. In wunderschön komponierten Schwarz-weiß-Plansequenzen – in denen nur ein Rotton eingefärbt ist, der der Farbe der als Liebessymbol zitierten Erdbeeren gleicht – plappert und erzählt dieser Film so entspannt wie tiefgründig über Männer und Frauen, über Alte und Junge. Und darüber, dass am Ende der Umgang miteinander darüber entscheidet, ob wir glücklich sein können oder nicht.

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