Erinnerte Lichter: Cannes 2024 – Nachlese

Roberto Minervini bewahrt seinen dokumentarischen Blick auch bei einem Historienstoff, Guan Hu lässt sich von einem Hund von seinem Racheplot ablenken, und Payal Kapadia rettet im Alleingang den diesjährigen Cannes-Jahrgang. Ein letzter Streifzug durch drei Filme, die bleiben werden.


The Damned

Der in Texas lebende Italiener Roberto Minervini macht eigentlich Dokumentarfilme, zuletzt mit What You Gonna Do When the World Is on Fire das Porträt einer Schwarzen Community in New Orleans. Sein neuer Film ist sein Spielfilmdebüt, allerdings mutet The Damned nicht nur in seiner Inszenierung mitunter dokumentarisch an, auch Minervinis Herangehensweise ähnelt dem Vorgehen bei seinen früheren Filmen. So führte der Regisseur beim Casting für die Rolle der Freiwilligen, die im Jahr 1863 im Dienste der Union-Army das Grenzgebiet im Westen kontrollieren, mit seinen Darsteller:innen erstmal ausgiebig Gespräche über Geschichte und Politik der USA, wollte sie ebenso gut kennenlernen wie die Figuren seiner Dokumentarfilme.

Auch im Film selbst gibt es ein paar ausgiebige Gespräche. Weil die Gruppe weit entfernt von den Fronten des US-Bürgerkriegs ist, verbringt man viel Zeit mit Warten, und hier bleibt Minervini seiner Ästhetik der intimen, aber respektvollen Beobachtung treu. Man zeigt sich gegenseitig, wie mit den Waffen umzugehen ist, man teilt Essen und Wasser auf – ein bisschen an Kelly Reichardts Meek’s Cutoff (2010) erinnert The Damned in diesen Szenen des tagtäglichen hardships an der Frontier, nur weniger stilisiert –, man diskutiert aber auch über den Glauben an Gott oder seinen Verlust, über die Gründe für den Krieg und die eigene Motivation, an ihm teilzunehmen. Minervini will auch darauf hinaus, dass die Geschichte des Bürgerkriegs – Lincolns die Nation wieder einende Reden, die Abschaffung der Sklaverei, die großen Schlachten – mit einer Bedeutung aufgeladen ist, die Zeitgenoss:innen noch nicht spüren konnten. Die Gespräche sind auffallend willkürlich.

In diesem Sinne ist The Damned kein schlechtes companion piece zu Alex Garlands Civil War, nicht nur weil der Krieg einmal in ähnlich unmittelbarer und lauter Manier in das bis dato so friedvolle Geschehen hineinbricht, wie es bei Garland die ganze Zeit passiert – und wir auch hier den Feind nicht sehen können, weil er Silhouette bleibt. Sondern vor allem, weil die großen Frontlinien und Diskurse unsichtbar bleiben oder verschwinden, bei Garland im Kriegsgetöse, bei Minervini hinter Alltagssorgen und Phrasen. The Damned ist ein Zoom in die Geschichte, an einen vollkommen willkürlichen Ort während eines Ereignisses, das Geschichte und Gegenwart der USA prägt wie kein zweites. Gerade, weil der Film mehr vielleicht gar nicht will, weil er sich als offenes Angebot gibt, Dinge nur andeutet und suggeriert, erscheint er mir lohnender als Garlands Bürgerkriegsfilm über die Zukunft.

Black Dog

Wo dieser Film überall landet! Man meint zu Beginn, Black Dog sei ein Gangsterfilm, die Geschichte von Lang (Eddie Peng), der aus dem Gefängnis zurück in seine Heimatstadt in der Wüste Gobi kommt, weil er am Tod eines Mannes beteiligt war. Lang trägt Schuldgefühle mit sich herum, fürchtet außerdem die Rache von einem Ganoven namens Butcher Hu, Onkel des Opfers, versucht sich aber erstmal in einem häuslichen Alltag einzurichten, ohne groß aufzufallen, während China den Countdown zu den Olympischen Spielen 2008 hinunterzählt und auf eine Sonnenfinsternis wartet.

Die Gegend ist verlassen, ein paar Hügel, ein paar leere Häuser, viel Brache, ein Zoo mit ein paar wenig übriggebliebenen Tieren, nur ein Wanderzirkus bringt irgendwann Leben hinein. Ein Wasteland also, und als dächte ich ein paar Tage nach der Premiere von Furiosa: A Mad Max Saga nicht ohnehin schon an George Millers postapokalyptische Welt, ist Lang auch noch ein ehemaliger Motorbiker, der auf seiner alten Maschine mittlerweile aber nur noch einen Hügel hochfährt, um von dort auf den Zoo hinunterzugucken, wo sein kranker Vater seine letzten Jahre herumschuftet.

Weil er Geld braucht, versucht Lang, bei der großen Straßenhunde-Fangaktion zu helfen, was er aber bekommt, ist die große Freundschaft dieses Films, die Beziehung zwischen einem wortkargen Menschen und einem wortlosen Hund, die Black Dog fortan viel stärker interessiert als das menschliche love interest (eine Frau vom Wanderzirkus, die vor dem ortsansässigen Tiger nicht kuscht, sondern spielerisch zurückbrüllt) oder die drohende Rache von Butcher Hu, dem alte Schlangengiftdealer, auch wenn der unter anderem mit einem mafiösen Anschlag mitten in einem Bungeesprung alles versucht, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen.

Es ist sehr viel los in Black Dog, aber Guan Hu gelingt ein grandioser Spagat zwischen den erhabensten Momenten – eine Sonnenfinsternis in der Wüste, aus dem Zoo ausbrechende Tiere, eine respektvoll schweigende Hundegemeinschaft – und dem albernsten Slapstick, wenn es Lang mal wieder nicht gelingt, mit seinem für den Hund ausgebauten Motorrad eine Holzbrücke zu überqueren. Zwischen diesen Extremen lauern schönste Anekdoten: Als Lang während des etwas holprigen Kennenlernens seines vierbeinigen Freundes gebissen wird, vermutet man im Dorf, der Hund könnte ihn mit Tollwut angesteckt haben, auf der sicheren Seite sei er erst, wenn das Tier nach ein paar Tagen noch nicht gestorben sei. Also gründen die beiden wie in besten Corona-Zeiten eine Infektionsgemeinschaft, bleiben ein paar Tage zu Hause. Wie eine Tollwut-WG kommt mir auch dieser Film vor, entschuldigt den Kalauer: ein großes Haus, in dem die Wut, die im Genreplot keimt, irgendwann ganz klein wird, weil alles andere so toll ist.

All We Imagine as Light

Der Koffer ist bereits gepackt, als ich in die Spätvorstellung gehe, um einen letzten Film zu sehen, der zugleich der schönste Film ist, den ich während des gesamten Festivals gesehen habe. Ein wenig wie durch einen Schleier erinnere ich mich heute an die ersten Bilder von Payal Kapadias All We Imagine as Light, in denen ich mich noch ein wenig verlor, aus denen sich erst langsam ein paar Figuren und ihre Geschichten herausschälten.

Prabha (Kani Kusruti) arbeitet als Pflegerin in einem Krankenhaus, ebenso ihre jüngere Mitbewohnerin Anu (Divya Prabha), beide finden sich in nicht ganz einfachen amourösen Verstrickungen wieder: Prabhas Mann ist nach Deutschland gegangen, meldet sich immer seltener, schickt ihr einen rätselhaften Reiskocher; Anu ist immerhin glücklich in einen Mann verliebt, der aber als Moslem vor Eltern und Kolleg:innen eher versteckt werden muss als ihnen vorgestellt werden kann. Dann gibt es noch Prabhas Freundin und Kollegin Parvaty (Chhaya Kadam), die wegen eines städtischen Großprojekts aus ihrer Wohnung verdrängt wird.

Auswanderung, Hindu-Nationalismus, Stadtentwicklung: Wie Kapadia politische Verhältnisse in ihren Film webt, hat nichts Aufgesetztes, sondern etwas völlig Selbstverständliches. Auch diese Dinge tragen nur bei zum Gefühl einer Einsamkeit, die der Film eher beschwört als zeigt oder ausspricht und für die er ebenso Ausdrucksmittel wie Trost ist. Ich weiß nicht, ob ich einen Film schon mal so leichtfüßig von der Schwermut habe sprechen hören.

Die Ereignisse geschehen nicht in eigens dafür bestimmten Szenen, sondern schieben sich in einen Alltag, den Kapadia – die nach ihrem Dokumentar- und Essayfilm A Night of Knowing Nothing ihr Spielfilmdebüt hinlegt – zurückgenommen beobachtet und dabei doch so etwas wie eine Poesie der Stadt findet, eine Poesie der Dissonanzen, wie könnte es anders sein in einer solchen Metropole, auch Bilder und Töne überlagern sich eher, als aufeinander zu folgen, reiben sich eher aneinander als ineinander aufzugehen.

Zwischen der engen Wohnung, dem Krankenhaus und dem vollen Nahverkehr spielt sich All We Imagine as Light zunächst ab, bevor die drei Protagonistinnen im zweiten Teil ans Meer fahren, in Parvatys Heimatdorf, wohin sie nun zurückziehen muss. Hier ist auf einmal vieles möglich, es kommt zu Geständnissen und zu einer rührenden Sexszene, und zu einem Schlussbild, das mich noch lange begleiten wird, gerade weil es nicht zu viel will, sondern, wie eigentlich alles in diesem Film, ein richtiges Maß findet.

Überhaupt erinnere ich die Bilder dieses Films, wie ich sonst nur Bilder der Filme von Claire Denis erinnere, merkwürdig rahmenlos, nur in der Bewegung zu denken, nicht als Porträt stillzustellen. Kein Moment ist herausgehoben, keine dramatische Zuspitzung bekommt einen formalen Ausbruch geschenkt, alles verbleibt in einem Rhythmus, einer Stimmung, die eben dieser Film ist. Wie sehr so ein Abschluss versöhnen kann mit einem Festival, das sich ansonsten merkwürdig unbefriedigend anfühlte. Als ich aus der Spätvorstellung komme, sind Schlafdefizit, falsche Filmentscheidungen und filmische Enttäuschungen jedenfalls vergessen, habe ich auf einmal wieder große Lust auf Kino, und vor allem große Lust, All We Imagine as Light außerhalb des Festivaltrubels noch einmal zu sehen.

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