Erhabene Jahrmarktsattraktionen - Martin Scorsese zum 80.
Martin Scorseses große Kunst liegt nicht in der Perfektion. In seiner Liebe zum Kino hat er sich den Sinn fürs Rumplige und Vulgäre stets bewahrt, bekommt jede Form von Klasse ein paar Schmutzspritzer ab. Eine Würdigung.

In Hugo Cabret (Hugo, 2011) werden Menschen mit Maschinen gleichgesetzt. Entweder sie funktionieren – bei den Menschen heißt das, dass sie einen Sinn in ihrem Tun finden –, oder sie sind kaputt und müssen repariert werden. Filmpionier Georges Méliès (Ben Kingsley) ist zur Zeit der Handlung verbittert und grantig geworden. Sobald er an seine Vergangenheit erinnert wird, versinkt er in Tränen. Nicht länger kann er als Regisseur, Schauspieler, Dekorateur und Magier der Bilder Träume erschaffen – er ist defekt und muss repariert werden. Da erinnert ihn ein Junge daran, welche Kraft seine Bilder besaßen und besitzen. Hugo Cabret wird so zur filmhistorischen Verbeugung und zur Feier der Schöpfungskraft des frühen Stummfilms. Das Medium Film wird zur erhabenen Jahrmarktsattraktion stilisiert, die uns staunen und mit offenen Augen träumen lässt. Die uns buchstäblich aus den Sitzen haut.
In Widersprüchen gefangen

Das Kino des Martin Scorsese ist bevölkert von Getriebenen und Gangstern, von Leuten, für die Religion ein Werkzeug der Selbstgeißelung ist, von verlorenen Seelen, von Einzelgängern und Männerbünden. Frauen sind dabei stets das Andere der im Mittelpunkt stehenden Männer und locken und verführen mit ihren Versprechen von Seligkeit. Sie trösten oder sind Statussymbole, an denen die Männer zu spät bemerken und es oft nicht akzeptieren können, dass es sich bei ihnen um vollwertige Lebewesen handelt. Fasziniert starrt Scorsese förmlich auf seine Figuren, bis es anfängt zu schmerzen.

Berühmt und berüchtigt waren seine Filme besonders vor der Jahrhundertwende, als sein Image noch von seiner Kokainsucht geprägt war. Als die Obsessionen noch weniger gebändigt in seinem Schaffen wirkten, er die Qualen seiner Figuren noch ungehemmter erzählerisch nutzbar machte. Bevor er zur grauen Eminenz und Onkel Marty wurde, dem doch endlich der Oscar zu geben sei – The Departed sollte ihm dann 2006 endlich den Academy Award für den besten Film einbringen. Aber auch heute noch sind Scorseses Filme in Widersprüchen gefangen. So stecken sie zwischen der Verteufelung von (toxischer) Männlichkeit und deren aufrichtiger Verehrung fest. Noch die überzogensten Gangsterkarikaturen werden nicht am Ring durch die Manege geführt. Noch in der Darstellung der frommsten Christen (von den jesuitischen Missionaren in Silence (2016) bis hin zu Jesus selbst in Die letzte Versuchung Christi (The Last Temptation of Christ, 1988)) oder der passivsten Figuren eines Kostümdramas wie Zeit der Unschuld (The Age of Innocence, 1993) findet sich eine unangenehme Übergriffigkeit. Das Scheitern der Figuren wird nicht von außen, sondern von innen betrachtet.
Jukebox voller Evergreens

Der Einfluss seiner Arbeit seit den 1970er Jahren ist enorm. Wenn Filme heute mitunter wie Jukeboxen mit einer Handvoll Evergreens wirken, die Gefühle oder das Flair von Orten und Zeiten schnell vermitteln sollen, dann lässt sich das zu Werken wie Hexenkessel (Mean Streets, 1973) zurückverfolgen. Dort macht Scorsese nicht nur Johnny Ace’ Pledging My Love zum Leitmotiv der Selbstzerstörung der von Harvey Keitel gespielten Hauptfigur, sondern nutzt daneben eine eklektische Auswahl weiterer (Pop-)Songs, um eine ranzige Oper von der Straße zu entwickeln.

So sehr seine Filme dergestalt zum Zwielicht streben, so sehr findet sich Scorsese aber auch, wenn nicht sogar noch mehr, in den eingangs beschriebenen Momenten einer an Charles Dickens gemahnenden Kindergeschichte. Die Liebe zum Kino, zu Filmen, zur Filmgeschichte und zur Geschichte (des 20. Jahrhunderts) bestimmt seine Spielfilme, seine Dokumentationen, seine Interviews, seine Videogrußbotschaften an die Filmfestivals der Welt. Nie wird er müde, über diese Geliebten zu sprechen. Mit der 1990 von ihm gegründeten Film Foundation und dem 2007 folgenden World Cinema Project und deren Arbeit in Sachen Bewahrung und Sichtbarmachung der Geschichte des Weltkinos hat er sich vielleicht noch mehr verdient gemacht als mit seinem filmischen Werk.
Expressiver Exzess statt guter Geschmack

Hinzu kommt, dass seine Filme den Jahrmarkt der Attraktionen nie hinter sich gelassen haben. Zugleich besaß er den Nerv, die berühmte Klammer von Citizen Kane (1941) zu nutzen, um seinen The Aviator (2004) zu rahmen. In seiner Liebe kennt er anscheinend keinen Takt und keine Berührungsängste, sich an den heiligsten Kühen der bisherigen Filmgeschichte zu vergreifen. In Filmen wie Kap der Angst (Cape Fear, 1991) oder Bringing Out the Dead (1999) interessiert er sich mehr für expressiven Exzess als für guten Geschmack. Oder kann sich in The Silence am Ende einer ambivalenten Geschichte, die sich kategorisch einer klaren moralischen Auflösung verweigert, die große Geste, das große Bild doch nicht verkneifen. Einen Sinn für das Vulgäre, das Laute und Rumplige durchzieht seine Filme. Und so sehr sie zum Epischen tendieren und in der Mehrzahl länger als zwei Stunden laufen, bekommt jede sich darin zeigende Form von Klasse doch durch seine Direktheit und seine Freude daran, aufregende Dinge zu zeigen, ihre Schmutzspritzer ab. Seine große Kunst liegt jedenfalls nicht in der Perfektion.

Vor allem ist da aber sein Tatendrang. Seit 50 Jahren dreht er Film auf Film. Im Schnitt gibt es alle zwei Jahre einen Spielfilm, auch wenn die Pausen zuletzt länger wurden. Dazwischen steht er für Dokumentationen, Fernsehproduktionen und Kurzfilme vor und hinter der Kamera. Sein Werk ist unübersichtlich und tendiert bei aller Kohärenz doch zum Ausfransen. Seine Interessen sind doch zu weitschweifig. Müssten wir uns also einen Martin Scorsese vorstellen, der keine Filme mehr machen darf, für dessen Meinung zu Filmen sich niemand mehr interessiert, der der Nachwelt keine Filme mehr retten kann, dann wäre das Bild Méliès’ in Hugo Cabret, der Kinder anblafft und seine Verbitterung nach außen trägt, ziemlich naheliegend. Zu seinem, zu unserem Glück liegt eine solche Zeit für ihn nun mit selbst 80 Jahren noch in weiter Ferne.
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