Entspanntes Verhältnis zum Glamour – Antalya Film Festival 2019
Ganz zudecken lassen sich die politischen Spannungen bei der Eröffnung des Festivals nicht. Aber in erster Linie gehört der Abend den Stars – inklusive einer Glitzerdivaperformance, wie sie in Deutschland undenkbar wäre.

Die Parade der Stars habe ich leider verpasst. Knapp nur, denn als ich aus dem Hotel zur Straße eile, auf der soeben, wie stets zum Auftakt des International Antalya Film Festival, die Publikumslieblinge des türkischen Kinos in blankpolierten Cabrios an Scharen ihrer Fans vorbeigerollt waren, löst sich die Veranstaltung gerade auf. Ich sehe sogar noch einige Nachzügler, die, während der normale Verkehr langsam wieder überhandnimmt, sich huldvoll winkend der Menge präsentieren; aber vielleicht sind das auch nur Spaßvögel, die lediglich so tun, als wären sie Stars. Um mich herum brechen die Fans langsam ihre Zelte ab, es herrscht eine gelöste, noch immer leicht euphorische Stimmung; viele Rosen und Luftballons …
Zurück zu den Wurzeln
Die türkische Filmszene scheint auch Jahrzehnte nach der Hochzeit der Yeşilçam-Produktion ein entspanntes, natürliches Verhältnis zum Glamour zu haben. Die Eröffnungsgala (schräg gegenüber vom Festivalhotel; da hier verkehrstechnisch amerikanische Verhältnisse herrschen, werde ich trotzdem mit dem Shuttle-Bus hinverfrachtet) macht das erst recht deutlich. Sie findet in einer gigantischen Sporthalle statt, die Zuschauertribünen reichen bis unters Dach und sind bis auf den letzten Platz gefüllt. Eine mittlere Zweitligakulisse dürfte das mindestens gewesen sein. Die über meinen Kopf hinweg blitzenden Laserstrahlen der Lightshow zu Beginn fühlen sich jedenfalls der Sache komplett angemessen an.
Kurz darauf, bei den Eröffnungsreden, ist zu erfühlen, dass die Eröffnung und die gesamte Veranstaltung auch eine politische Dimension haben, ganz besonders in diesem Jahr. 2017 und 2018 hatte der damals regierende AKP-Bürgermeister dem Festival einige hochgradig umstrittene Neuerungen verordnet und unter anderem den nationalen Wettbewerb abgeschafft – was zu einem weitgehenden Boykott des größten türkischen Filmfestivals durch die türkische Filmindustrie führte. Nachdem nun Erdoğans AKP zuletzt bei den Kommunalwahlen nicht nur, wie vielfach berichtet, Istanbul, sondern unter anderem auch Antalya an die Opposition verloren hatte, kehrt das Festival, gemäß dem diesjährigen Motto, „zu den Wurzeln“ zurück.
Dass der neue sozialdemokratisch-kemalistische Bürgermeister, eine echte Rampensau in weißem Anzug und schwarzer Fliege, seine Eröffnungsrede gleich mit einem Atatürk-Zitat (nicht dem einzigen des Abends) beginnt, dürfte vor diesem Hintergrund kein Zufall sein. Doch auch die Erdoğan-Regierung ist vertreten, in Gestalt des Ministers für Kultur und Tourismus, der in seiner Rede mit keinem Wort auf die Querelen der letzten Jahre eingeht und stattdessen im Schnellfeuertempo die Erfolgszahlen der türkischen Film- und Fernsehindustrie durchgibt.
Stoffumflorte Beine hinterm LKW

Ganz zudecken kann und will der Glamour solche Spannungen nicht. Aber in erster Linie gehört der Abend den Stars. Allen voran der Sultanin des türkischen Kinos der 1960er und 1970er Jahre, Türkân Şoray. Sie ziert das diesjährige Festivalplakat und holt sich auf der Eröffnungsgala mit souveränen Gesten ihre Standing Ovations ab. Später im Hotel suche ich auf YouTube nach ihren Filmen und finde ihren bekanntesten sogar mit englischen Untertiteln: Selvi Boylum Al Yazmalım (Das Mädchen mit dem roten Kopftuch) von Atıf Yılmaz aus dem Jahr 1978 ist ein erstklassiges Melodram, in dem Şoray ein Dorfmädchen spielt, das zwischen einem gefährlich gut aussehenden, aber unzuverlässigen Lastwagenfahrer und einem anderen, treuen, auf seine solidere Art ebenfalls ziemlich gut aussehenden Mann (letzterer gespielt von Ahmet Mekin, der auf dem Festival ebenfalls geehrt wird) entscheiden muss. Die erste Begegnung mit dem gefährlichen Mann ist super: Er sieht Şoray zunächst nur unter seinem Lastwagen (der einen Namen trägt und im weiteren Verlauf mehr oder weniger die Rolle des Heiratsvermittlers übernimmt) hindurch. Sie trägt, auf Geheiß der Mutter, konservative Dorfkleider. Mit Blick auf ihre von wallenden Stoffen umflorte Beine spricht er sie mit „Hey, Großmutter!“ an, aber als sie sich dann, musikalisch perfekt akzentuiert, umdreht, ist ihr Glamour natürlich sofort unübersehbar und er auf der Stelle hin und weg.
Am Ende der Eröffnungsfeier fährt die Videoleinwand hinter der Bühne hoch, und ein ausgewachsenes Orchester wird sichtbar. Candan Erçetin, ein rothaariger Megastar, tritt auf und singt nicht nur ein, zwei Lieder, sondern einfach immer weiter. Eine wunderbare Glitzerdivaperformance, die mir gleich noch einmal deutlich macht, wie weit Deutschland von einer solchen Form populärer Kultur entfernt ist. Denn wer, bitte, hätte auf der Berlinale einen ähnlichen Auftritt hinlegen können? Gute, konsensfähige Popmusik dieser Art gibt es bei uns nicht mehr. Schon lange nicht mehr, wahrscheinlich. Zuletzt hätte das vielleicht bei jemandem wie Hildegard Knef funktioniert.
Schade allerdings, dass beim Festivalempfang vor der Eröffnung keine alkoholischen Getränke ausgeschenkt wurden. Ich wäre in Rotweinstimmung gewesen.
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