Entgleiste Erwartungen – Il Cinema Ritrovato 2022

Auf dem Retrofestival konnte man sich dieses Jahr unter anderem fragen, was im deutschen Kino noch alles möglich gewesen wäre und wen Hollywood-Regisseur Hugo Fregonese als Nächstes ins Gefängnis steckt. Gesammelte Eindrücke aus Bologna.


Zwischenhalt in L.A.

Nachdem ich wegen eines verspäteten Abflugs geschlagene sechs Stunden in der BER-Tristesse gefangen war, ist der Ankunftsbereich am Flughafen von L.A. ein erholsames Kontrastprogramm. Die Gänge sind kühl und beinah menschenleer, und für die betörend schöne, futuristische Sechziger-Jahre-Architektur habe ich ohnehin seit jeher ein Faible. Das ikonische Theme Building des LAX war erst ein Jahr, bevor diese Schwarzweißaufnahmen für Franco Rossis Film Smog (1962) – meinem ersten nach meiner Ankunft in Bologna – entstanden, eröffnet worden. Dass die in Streifenmustern gefliesten Wände dieselben sind, an denen auch Jackie Brown bei Tarantino auf dem Laufband vorbeigleitet, wäre mir ohne den Hinweis im Einführungsvortrag vielleicht entgangen, doch das Wiedererkennen verstärkt nur das Gefühl, am richtigen Ort angekommen zu sein.

Auch sonst ist Smog der perfekte Ankunftsfilm: Zum Auftakt meiner Festivalwoche begleite ich einen Italiener nach Hollywood. Der erste italienische Film, der komplett on location in den USA gedreht wurde, ist ganz aus der Perspektive eines Besuchers aus der Fremde inszeniert. Um sich die Wartezeit bis zur Ausstellung seines Visums zum Weiterflug nach Mexiko zu vertreiben, lässt sich der römische Scheidungsanwalt Vittorio durch die City of Angels treiben, zunächst als ein auf den endlosen Straßen der Autostadt verlorener Fußgänger, der vergeblich nach einem Taxi sucht, bald auf dem Beifahrersitz im Wagen seines zwielichtigen Landsmanns Mario, dem er allzu leichtfertig verrät, ohne Ausweis der Stadt quasi rechtlos ausgeliefert zu sein. In episodischer Folge landet er mit ihm – und später mit der geheimnisvollen Schönen Gabriella – auf verschiedenen Zusammenkünften italienischer Einwanderer. Ihr Austausch über ihre Erfahrungen vor Ort macht den Film zum aufschlussreichen Zeugnis zeitgenössischer italienischer Blicke auf die USA und in der Rückspiegelung auf ihr Herkunftsland.

Vor allem aber ist Smog eine faszinierende und gänzlich untouristische Stadtführung durchs Los Angeles der frühen 1960er Jahre. Es geht in Kunstgalerien und auf Bowlingbahnen, in alte Villen mit musikbeschallten Swimmingpools und auf VIP-Partys in Beverly Hills bis zu den Ölfeldern am Stadtrand; in wunderschönen Bildern von Ted McCords Kamera festgehalten, vom jazzigen Score Piero Umilianis untermalt. Die Anziehungskraft der für diese Ära spezifischen, coolen Modernität lässt mich auch nach den Flughafenszenen nicht los. Nach Episoden von skurriler Komik und sanfter Melancholie endet Smog offen und recht abrupt – später erfahre ich, dass es noch eine längere Fassung mit einer Schlusssequenz gibt, die in der in Bologna vorgeführten Version nicht enthalten war und die die existenzialistische Note des Films ins Unheimliche wendet: Vittorio findet sich darin verlassen und womöglich eingesperrt in einer transparenten, wie eine Raumstation anmutenden Kuppelresidenz; abgeblendet wird mit seinem Klopfen gegen die Wand. Ich dagegen laufe beim Verlassen des Kinosaals meinen Gefährten in die Arme und bin nun bis zur Abreise außer zum Schlafen fast keinen Moment mehr außer Gesellschaft.

Maurice Lahde

 

Angriff auf Spanish Boot

Irgendwann wurde es beim Festival zum Running Gag. Wie würde Hugo Fregonese seine Figuren wohl diesmal ins Gefängnis stecken? Apache Drums aus dem Jahr 1951 ist zwar keiner der Knastfilme des argentinischen Regisseurs, aber er drängt sein Ensemble (mal wieder) in eine Art Sackgasse. Wobei der Ausweg in den Fregonese-Filmen häufig von einer Übermacht verstellt wird: Polizisten, Banditen, Barbara Stanwyck …

Im famosen Finale von Apache Drums wird das Fregonese-Szenario so aufgebaut: Krieger der Mescalero-Apachen belagern das Städtchen Spanish Boot, die Bevölkerung flieht in die burgartige Kirche. Die besteht aus dicken Mauern, Fenstern wie Schießscharten. Durchlässigkeit ist die Sache dieser Gemeinde nicht.

Der erste Eindruck der Stadt gibt schon das Thema vor: Jemand fegt den Dreck der letzten Tage von der Türschwelle. Spanish Boot will sich seiner Frontier-Laster entledigen, also wird Spieler Sam (Stephen McNally) vom baumstämmigen Bürgermeister der Stadt verwiesen. Was Spanish Boot rauswirft, fällt jedoch auf die Stadt zurück, weil jede Tat in einem Fregonese-Film Konsequenzen hat, die die narrativen Wände näherrücken lassen. Deswegen landet Sam am Ende in der Kirche und die Belagerer vor ihren Mauern.

Das erste Bild des Films ist nämlich nicht die Putz-Szene. Vielmehr hören wir zwischen Landschaftsaufnahmen, wie die Kolonisierung den Mescalero-Apachen den Lebensraum nahm, bis ihnen nur der Hunger blieb – und die Gewalt. In die Enge getrieben, treiben sie andere in die Enge. Die Überlebenden von Spanish Boot hocken also in der Kirche, wachgehalten von den Trommeln und Kampfschreien, den dämonisch leuchtenden Körpern, die durch die Fenster herabspringen. Mit den Leibern bricht der Horror ins Westerngefüge ein, und übrig bleibt ein filmischer Vorbote von S. Craig Zahlers Kannibalen aus Bone Tomahawk (2015). Die großartige Sequenz gehört handwerklich zum Besten, was die Fregonese-Retrospektive in Bologna zu bieten hatte.

In seinen Gefängnissen, Fallen und Sackgassen findet Fregonese Spektakel dieser Art, aber er sucht befreiende Momente der Klarheit. Früher im Film stehen Spieler Sam und der Hass predigende Reverend des Örtchens (Arthur Shields) in der flachen Einöde. Weit und breit nichts außer Hitze. Dann erscheint eine galoppierende Staubwolke am Horizont. Die Unbewaffneten sind sich des nahenden Todes sicher. Es ist eine weitere Falle. Und in diesem letzten Moment der Introspektion erscheint sozusagen ein Ausweg vor Sam. Nur stehen da nicht Apachen, Gangster, Banditen im Weg, sondern er selbst mit seinen Fehlern, die er für Stärken hielt. Ob er sich diesem Anblick stellt oder nicht, bleibt ihm überlassen. Das macht ihn zum waschechten Fregonese-Helden.

Jenny Jecke

 

Filmischer und kulinarischer Urlaub

Was dem Römer seine Via Veneto, ist dem Il-Cinema-Ritrovato-Besucher seine Via delle Lame. Die Straße verbindet Cineteca, Arlecchino und Jolly – also die drei wesentlichen Kinos des Festivals – und wird Ende Juni nahezu ausschließlich von dessen BesucherInnen frequentiert, erkennbar am um den Hals baumelnden Festivalpass. Kaum einmal geht man die knapp zehn Wegminuten, ohne auf ein bekanntes Gesicht zu treffen. Ja, das hat mir gefehlt in den letzten zwei Jahren. Bologna ist nicht nur stupides Gerenne von einem Film in den nächsten, sondern Begegnung mit KollegInnen und Gleichgesinnten – theoretisch aus der ganzen Welt –, die in der Hitze der Stadt auf der Suche nach Abkühlung sind, ob im Kino (inzwischen noch besser klimatisiert als in meiner Erinnerung) oder in der nächstbesten Bar (mein heuer entdecktes Highlight diesbezüglich: crema al caffè – eine „iced“ Variante, genau das Richtige).

Was das Filmprogramm betrifft, hat sich seit 2019 allerdings – for better, for worse – nichts getan. Immer noch herrscht ein Überangebot vor, die einzelnen Reihen wirken beliebig, und an Klassikern wird gewissermaßen alles, was nicht bei drei am Baum ist, kredenzt. Und trotzdem sitze ich von neun Uhr früh bis spätabends im Kino und erfreue mich dieses filmischen und kulinarischen Urlaubs, der es mir erlaubt, von einem Stummfilmserial aus den 1910er Jahren zu einem Western aus den 1950ern, von einem „Frauenfilm“ (ja, da könnte man in Bologna tatsächlich noch etwas nachbessern) aus Schweden zu einer italienischen Komödie mit Sophia Loren zu wechseln. Sehenswert ist nahezu alles, den Drang, aus einem Film rauszugehen, habe ich fast nie.

Meine eigene Programmgestaltung richtete sich daher nach schnöden Kriterien wie Anfangszeit, Spielort, Dauer und Herkunft der Filme und wenig bis fast gar nicht nach ihrem Inhalt oder Regisseur. Auf diese Weise entdeckte ich drei Besonderheiten: den für seine Entstehungszeit extrem stilsicheren, seiner Zeit (1926) wohl meilenweit vorauseilenden Ménilmontant von Dimitri Kirsanoff, ein Film über zwei Schwestern, denen von klein auf ein schicksalhaftes Leben vorbestimmt war, ein wahres Fest für die Augen. Den etwas anstrengenden, insgesamt aber sehr lohnenden Canoa: memoria de un hecho vergonzoso (1976) von Felipe Cazals um eine mexikanische Studentengruppe, gestrandet in einem Dorf voller Antikommunisten, die, angeführt von einem sonnenbrillentragenden Priester, zum Halali auf die Städter blasen – based on a true story und voller Irritationsmomente und Verfremdungseffekte. Und schließlich ein Lektionen in Finsternis avant la lettre: Yek atash (1961) von Ebrahim Golestan über die Bemühungen, eine brennende Ölquelle im Südwesten Irans zu löschen, ein von Rückschlägen, Fehlversuchen und Arbeitskraftverschleiß geprägtes Unterfangen, das in extrem sinnlichen Bildern (Montage: Forough Farrokhzad) eingefangen wurde – und genau richtig war für die Hitzetage in der Emilia-Romagna.

Florian Widegger

 

Das zersetzende Gefühl von Ereignislosigkeit

Während draußen die Nachmittagssonne alle unter die Arkaden trieb, hatten sich mehr Leute als von mir erwartet für ein gut fünfeinhalbstündiges Screening von Kahdeksan surmanluotia / Eight Deadly Shots (1972) in Bolognas bestklimatisiertem Kino, dem Cinema Jolly, eingefunden. Der Film ist in seiner finnischen Heimat ziemlich bekannt, bei der gestaffelten Erstausstrahlung des Fernsehvierteilers war laut der Einführung fast das ganze Land dabei. Ursprünglich auf 16-mm-Material gedreht, gab es in Bologna einen restaurierten 4K-Scan zu sehen, der aber schönerweise von einer frisch gezogenen 35-mm-Kopie gespielt wurde. Der Referent merkte eingangs auch an, das sei ein Film, den man sein Leben lang nicht vergisst – keine Phrase, das wird stimmen.

Eine Ansage ist Eight Deadly Shots zunächst einmal schon wegen seiner Länge (die leider, glaube ich, viele im Vorfeld abgeschreckt hat). Fünfeinhalbstunden, das klingt entweder nach epischer Breite oder nach meditativem Slow Cinema. Beides trifft nicht zu. Es ist ein Film, in dem sich kontinuierlich Dinge ereignen und entwickeln, der dabei eigentlich nie tableauhaft oder ausladend wirkt. Er ist im Gegenteil ziemlich straight. Aus seinen gräulichen, eng kadrierten Schwarzweißbildern spricht Klarheit und der Wille, gleichermaßen die Alltäglichkeiten wie auch die besonderen Augenblicke in einer einfachen Geschichte aufzuspeichern; um schöne Bilder geht’s dabei nicht vordergründig. Und es braucht die Laufzeit, weil in dem Landstrich, den er uns peu á peu auffächert, die Zeit wie stillzustehen scheint, sich hier Ähnliches bis Immergleiches ereignet. Seine Kraft entfaltet Eight Deadly Shots daraus, dass wir die Figuren über den Wechsel der Jahreszeiten und ihre persönlichen Höhen wie Tiefen (mehr und mehr überwiegen die Tiefen) hinweg dabei begleiten, wie sie aus einem erfahrungsarmen Leben in der nordfinnischen, von Armut und archaischer Land- und Forstarbeit geprägten Einöde das Beste zu machen versuchen.

Man merkt nicht von Anfang an, dass das intensiv werden wird – dafür braucht es Wiederholungen, das Gefühl von Ereignislosigkeit, das auch manchen Figuren zusetzt. Alles kreist dabei um eine verarmte, kinderreiche Bauernfamilie. Pasi, der vom Regisseur Mikko Niskanen mit einem von mir lange so nicht gesehenen Naturalismus gespielt wird, lebt mit seiner Frau Vaimo und den vier kleineren Kindern in einer Holzhütte mit verrußter Kochstelle, kargem Mobiliar, einer klapprigen Milchkuh und einem alten Arbeitspferd. Mal gibt es Arbeit, mal gibt es keine. Dann fängt Pasi mit seinen Kumpeln an, im Wald Schnaps zu brennen. So beginnt die Tragödie, die der Film bei aller Unaufgeregtheit auch ist. Die rigide Bezirksadministration wird auf den Nebenverdienst der Bauern aufmerksam – sie stellen sich auch alles andere als clever an –, Pasi driftet immer weiter in den Suff ab, lichte Momente werden rarer, für die Familie ist es ein Terror. Die Szenerie pendelt immer heftiger zwischen Zärtlichkeit und Rohheit, Momenten der Solidarität und krasser Vereinzelung hin und her.

All das erinnert mich an den Filmkosmos des texanischen Independentfilmers Eagle Pennell, dem es auch um Menschen geht, die gut sein wollen, aber Schlechtes tun, nicht weil sie schlecht sind, sondern weil sie es nicht besser können. Und dann musste ich während des Sehens noch an einen anderen amerikanischen Film denken, den ich kurz zuvor im Berliner Arsenal gesehen hatte: Belfast, Maine (1999), Frederick Wisemans umfassendes Porträt des gleichnamigen Städtchens – Arbeitsvorgänge, Institutionen, Gemeinschaften, Missstände, Landschaften. Denn trotz des starken Fokus auf die besagte Familie schafft es Eight Deadly Shots, das Bild einer von der Natur geprägten Kleinstadt auf eine Weise zu zeichnen, dass man denkt, man kenne sie. Man kennt die Wege, weiß, wie die Leute sprechen und denken, wie und was sie arbeiten, an welche Mythen und Hoffnungen sie sich klammern. Ein im besten Sinne humanistisches, von seinen sozialen Orten her gedachtes Kino.

Tilman Schumacher

 

Contanti O Carta

Mittlerweile ist so etwas ja erwähnenswert: Man konnte auf dem Festival in Bologna, wenn man die Beharrlichkeit aufbrachte, den Akkreditierungsclub umgehen, stattdessen einzeln Kinokarten aus Papier kaufen und dafür mit Bargeld bezahlen. Man wusste also, dass ein Handel stattfand, dass man etwas Konkretes hergab und etwas Konkretes bekam, für das man eingelassen wurde in zwei Stunden Dunkelheit. Ein altmodischer Austausch, der das irrationale Gefühl hervorrief, man habe mittels Bargeld einen persönlichen Anspruch auf den Film erworben.

Geld war auch zentrales Thema in etlichen Filmen. So in Hugo Fregoneses Black Tuesday (1954), in dem Edward G. Robinson eine extrem hässliche Rolle übernimmt. Er sitzt am Anfang in der Todeszelle, nebenan singt jemand traurig den Blues, und statt ins Romantische abzusacken, wird der Plot unterbrochen durch seinen Wutschrei, es möge gefälligst Ruhe herrschen. Zynisch und finster ist er nach seinem Ausbruch aus dem Knast, erst durch einen Koffer voll Bargeld wird er befriedet. Geld ist das Mittel, das die Atmosphäre verändert, es sichert die Hoffnung, auch die auswegloseste Situation zu bewältigen.

Die Hoffnung wird zur Gier in The Devil and Daniel Webster (1941, Alternativtitel All That Money Can Buy). Da legt der Teufel einen Berg von Münzen aus, um seine Opfer zu verführen. Die Idee funktioniert, das Geld lässt sich berühren, streicheln, einstecken – was ist dagegen eine Seele. „Die kann man gar nicht anfassen“, meint der Teufel, schon kriegt er sie als Pfand. Nur Daniel Webster, der Anwalt, der eine davon vor Gericht zurückgewinnen will, sieht andere Werte. In der einzig spannenden Passage des süßlichen Dramas von William Dieterle hält er Schönheit oder Vaterlandsliebe gegen die Verblendung von materiellem Besitz, und eine Jury aus toten Dieben versteht tatsächlich, was er meint.

Mit dem äußerst lustigen Gregory Peck wiederum lernt man, dass Frauen die Sache mit dem Geld einfacher regeln. Sie kennen es als Köder, aber sie nehmen sich lieber den Mann, der es hat. Das ist nicht immer legitim, aber bei Sophia Loren wirkt es verdammt praktisch. Obwohl sie natürlich heimlich andere Ziele verfolgt, sie will Wissen stehlen, Menschen retten, den Weltfrieden. Es gibt im Luxus eine Moral, jedenfalls in Stanley Donens Arabesque (1966).

James Mason hält von reichen Frauen wenig. Sie sollen freier denken, fordert er in Caught (1949), selber arbeiten, statt ihre Zukunft auf das Konto eines Mannes zu setzen. Geld verderbe den Charakter, das kann man dann an Robert Ryan sehen, hier ein paranoider Millionär. Eine höllische Mischung aus Herrschsucht und Selbstmitleid tobt durch sein Wesen, die Gattin muss den Reichtum mit Unterwerfung ausbaden, sie bezeichnet sich als „paid companion“. Max Ophüls bleibt beim simpelsten Zweck des Geldes, beim Zahlungsmittel, und doch hat er den brutalsten Film darüber gemacht.

Natürlich wurden draußen, jenseits der Vorstellungen, diverse Lokale besucht. In einem der Cafés kam beim Zahlen stets die Sprache auf Geld, man erhielt vom Besitzer kleine Italienischtipps – was heißt Bargeld, Kleingeld, Wechselgeld –, und passend dazu schob man auf der Theke die Münzen oder Scheine herum. Das war ziemlich charmant, nicht nur wegen der Haptik, sondern wegen der dabei entstehenden Kommunikation. Was also bleibt zwischen Kino und Realität in Bologna 2022: contanti si! Ja zum Bargeld.

Doris Kuhn

 

Early-Cinema-Budenzauber

Ein Kurzfilmprogramm, das der Produktion des Jahres 1902 gewidmet ist, enthält zwei Filme, die auf den katastrophalen Vulkanausbruch des Montagne Pelée auf Martinique am 8. Mai desselben Jahres reagieren. Indem sie ihn nachstellen, als Early-Cinema-Budenzauber. Beide Filme werden in halluzinatorisch gelb-rötlich eingefärbten analogen Kopien vorgeführt – die digitalen Surrogate, die sich auf YouTube vorfinden lassen, vermitteln nicht einmal eine leise Ahnung, wie spektakulär das auf der großen Leinwand ausschaut. Für das historische Publikum mag in diesem Spektakel auch Zeitgenossenschaft mitgeschwungen haben – Zeitungsschlagzeilen, die plötzlich zum Leben erwachen. Sieht man die Filme jedoch heute, unterstreicht ihr lebensweltlicher Bezug nur das Phantasmagorische, Megalomanische, rettungslos Artifizielle an ihnen.

Éruption volcanique à la Martinique von Georges Méliès zeigt in einer Totalen den Vulkan und davor die Stadt Saint-Pierre. Berg wie Stadt sind erkennbar gemalt und entsprechend statisch, das Feuer, das dem Berg entsteigt, ist jedoch animiert und ergießt sich, mithilfe kunstvoller Komposit-Techniken, bald auch über das Bild selbst. Mehrmals kopiert Méliès außerdem Flammen über die Stadt – die allerdings von denselben unangetastet bleibt. Auch am Ende des eher pittoresk denn archaisch tobenden Films schaut sie noch genauso aus wie am Anfang. Der Méliès-Vulkan wütet vergebens.

La catastrophe de la Martinique von Méliès’ weniger bekanntem, aber kaum weniger produktivem und erfindungsreichem Zeitgenossen Ferdinand Zecca verwendet eine etwas andere Technik. Auch bei ihm ist der Vulkan gemalt (deutlich naturalistischer allerdings) und ein Teil der Stadt vermutlich auch. Aber das Meer vor der Stadt ist „echt“, oder jedenfalls zumindest aus Wasser, und zumindest ein paar Häuser und Boote scheinen als Modell aufgebaut zu sein. Wieder wütet der Vulkan in der Totalen, und siehe da: Zecca gelingt es tatsächlich, die Stadt in Flammen zu setzen und in eine Brandruine zu verwandeln. Das Kino ist seinem Ziel, die Welt in Bild zu verwandeln, einen Schritt näher gerückt.

Lukas Foerster

 

Hitze und Alkohol

Ermattet wedeln sich die jungen Männer mit ihren Fächern Luft zu. Der Ausweg aus dem sommerlichen Hitzeinferno liegt eigentlich in Blickweite: das kühle Meer. Aber Kenji Misumis Yukio-Mishima-Adaption Ken handelt vom Ideal einer Stärke, die auf Widerstand und Verzicht beruht. Der unvermeidliche Sprung ins Wasser wird deshalb zur Grenzüberschreitung und zum dramatischen Kipppunkt.

Ken handelt von einem Studenten, der als Leiter eines Kendo-Clubs ein hartes, etwas faschomäßiges Regiment führt. Ist ja nur ein popeliger Uni-Verein, könnte man meinen, tatsächlich verdichten sich hier aber sehr grundsätzliche Konflikte zwischen Tradition und Moderne, Loyalität und Egoismus sowie zwischen Disziplin und Genuss. Der studentische Leiter ist dabei eine ebenso tragische wie rätselhafte Figur. Wir sehen seine Unzulänglichkeit, aber woher sein Ordnungswahn kommt, warum er jegliches Lustempfinden so scheut und sich nicht aus seiner reinen Männerwelt raustraut, bleibt ein Geheimnis.

Misumi zeigt im Film gerne schweißbenetzte Gesichter und das grelle Tageslicht außerhalb des Dojos. Es ist, als würde die Hitze die zunächst noch unterschwellige Eskalation lähmen. Auch in Bologna war es dieses Jahr wieder brütend heiß. Tagsüber wirkt das Leben in der Stadt wie in Zeitlupe. Ob im Supermarkt oder in der Eisdiele, die Angestellten scheinen sich möglichst langsam und energieeffizient zu bewegen. Selbst bei der Mimik wird gespart. Erst wenn die Temperaturen gegen Mitternacht erträglicher werden, platzt die lärmende Energie der Stadt aus allen Nähten.

Der Aperitivo markiert die Grenze zwischen dem Filmeschauen untertags und dem redseligen Beisammensein am Abend. Bei der Getränkewahl habe ich dieses Jahr auf stärkere Negronis aufgestockt, die belebend bitter sind und gleich in den Kopf steigen. Ähnlich verführerisch, aber weitaus verhängnisvoller ist ein Getränk in Seven Thunders vom argentinischen Hollywood-Regisseur Hugo Fregonese. Ein von einem hünenhaften Doktor gereichtes, mit Schlafmittel versehenes Gläschen Cognac führt hier für zahlreiche Figuren in den sicheren Tod.

Der Film spielt im wuseligen und glühenden Marseille, wo sich während des Zweiten Weltkriegs die Schicksale von Flüchtlingen und den unter der Nazi-Besatzung leidenden Bewohnern kreuzen. Der dem realen Serienmörder Marcel Petiot nachempfundene Doktor nutzt die missliche Lage seiner kriegsgebeutelten Opfer aus, um sich an ihnen zu bereichern. Was genau er mit ihnen in seinem immer wieder erwähnten Keller anstellt, überlässt Fregonese, ganz auf die dunkle Vorstellungskraft seiner Zuschauer vertrauend, im Verborgenen. Man würde dem kaltblütigen Doktor sogar zutrauen, dass er seine Opfer frisst.

Bezeichnend an diesem Kriegsprofiteur ist, wie isoliert von der Außenwelt er in seinem festungsgleichen Haus lebt. Seine Taten kennen keine Ideologie oder Moral, nur günstige Gelegenheiten. Nur wir empfinden Mitleid, wenn etwa ein verzweifelter älterer Jude in seine Fänge gerät, oder kichern, wenn es zufällig mal ein paar Nazis trifft.

Auch in Peter Weirs mir bis dahin unbekannten Picnic at Hanging Rock braut sich aus Hitze und Alkohol ein einprägsamer Moment zusammen. Im angenehm klimatisierten Kinosaal fühle ich mich ein bisschen wie der Engländer Michael, der im schützenden Schatten eines Baums steht, während er mit dem kernigen Kutscher seiner reichen Eltern bondet. Während der Kutscher schmatzend seine Brotzeit verdrückt, bietet er dem Jungen einen Schluck aus seiner Weinflasche an, streckt sie ihm allerdings nur so weit entgegen, dass Michael sich nach vorne beugen muss. Er kommt ihm zwar entgegen, nimmt aber sofort wieder Abstand, indem er mit seiner Jacke die Brösel vom Flaschenhals wischt. Als sich das Spiel wiederholt, lehnt sich der Kutscher diesmal weiter nach vorne, worauf Michael nach kurzem Zögern und einem konspirativen Lächeln darauf verzichtet, die Flasche zu reinigen.

Der Film selbst geht mir mit seiner prätentiösen Geheimnistuerei rund um eine Gruppe verschwundener Internatsschülerinnen zwar ein bisschen auf den Wecker, aber es ist doch mal wieder aufschlussreich, wie viel es manchmal selbst bei vermeintlichen Enttäuschungen zu entdecken gibt. So wie in diesem Fall: eine sich langsam steigernde Choreografie, die ihre Spannung aus dem Unausgesprochenen schöpft sowie dem präzisen Wechsel zwischen Intimität und Distanz.

Michael Kienzl

 

Am Ende Kater und Beklemmung

Drei Männer saßen an einer Bar, und je länger die Einstellung anhielt, desto drückender war die Spannung, ob Das Lied ist aus (1930) noch etwas bereithalten würde. Als dann der Schriftzug „Ende“ auf der Leinwand prangte, platzte es aus jemanden zwei, drei Sitze weiter neben mir heraus: „Was?! Was?! Ja, ist sowas denn erlaubt?“

Ein überschwänglicher Film war zu Ende gegangen, der mit unseren Erwartungen spielte. Der mittels großer Kunstgriffe (beispielsweise einer ausladenden Puppentheaterszene) oder kleinen eingeschobenen Details (einen Adelstitel etwa, der in einen unbedeutenden Dialog eingeschmuggelt wurde) immer wieder andeutet, wie die Geschichte enden wird. Der sich aber einen Spaß daraus macht, Erwartungen entgleisen zu lassen. Von Illusionen erzählte Das Lied ist aus, von Chancen, die nicht wahrgenommen werden. Auf knappen Raum zeigt uns Géza von Bolvárys Film damit – sowie durch fantasievolle Einfälle und groß aufspielende Schauspieler –, was noch alles im deutschen Kino möglich gewesen wäre. Die Zeit der Stummfilme wurde mit diesen und anderen Operettenfilmen, die in Bologna zu sehen waren, heiter zu Grabe getragen.

Es endet aber mit einem Kater und Beklemmung. Das Lied war einfach aus. In einer aufgeräumteren Welt wäre dieser Film nicht am Ende der wilden Zwanziger erschienen, sondern wäre der letzte gewesen, der vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler in die Kinos gekommen wäre. Und doch überlebte die Weimarer Republik noch ein paar Jahre. Und doch kamen noch andere Filme wie Das Lied ist aus in die Kinos, wie beim Il cinema ritrovato zu sehen war. Weil es in dieser unsauberen Wirklichkeit eben immer noch weitergehen kann, auch wenn das Ende sich schon am Horizont abzeichnet.

(Es war auch nicht der letzte Film meines Festivalbesuchs. Passenderweise folgte für mich danach George Cukors Heller in Pink Tights (1960). Es konnte einfach nur noch mit einer Schmierenkomödie weitergehen.)

Robert Wagner

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