Entdeckungsreisen im Ameisenstaat

Drei argentinische Filme auf DVD

Das junge argentinische Kino blüht auf. Hinter dem hochtrabenden Etikett „Meisterwerke des lateinamerikanischen Films“ verbergen sich kleine, zurückhaltende Geschichten zwischen Wolkenkratzern und Wohncontainern in der Pampa.

Martín (Hache)

In Argentinien nennt man sie verniedlichend „hormiguitas“, kleine Ameisen. Junge argentinische Talente haben ihr Land mit kleinen, häufig eigenproduzierten Filmen über die vergangene Dekade zu einer der interessantesten und vielfältigsten Kinolandschaften der Welt gemacht. Hierzulande bekommt man davon wenig mit. Nur ein winziger Bruchteil der international ausgezeichneten Festivalfilme schafft es bis in heimische Programmkinos. Das Label „Icestorm Revolution“ hat es sich nun vorgenommen, gegenzusteuern: Die DVD-Reihe „Meisterwerke des lateinamerikanischen Films“ versammelt jüngere, unveröffentlichte Werke des kubanischen, mexikanischen und brasilianischen Kinos, darunter auch die drei argentinischen Produktionen Der Glasbehälter (El Frasco), Die Methode (El Método) und Martín (Hache).

Der Glasbehälter

„Du bist vom Mars“, sagt Romina ganz ruhig zu Perez. Tatsächlich wirkt Perez (Darío Grandinetti) der Welt ein wenig abhanden gekommen. Starr, verschlossen und wortkarg, wie ein Verirrter aus einem Film des Finnen Aki Kaurismäki. Jeden Tag fährt er auf derselben Strecke durch die argentinische Pampa, übt mechanisch die gleichen Gesten aus. Der etwas ungeschickte Busfahrer, der eine besondere Neigung hat, Dinge fallen zu lassen, wird von der Lehrerin Romina (Letitia Brédice), für die er heimliche Gefühle hegt, gebeten, ein fragiles Glas zu einem Labor ins Nachbardorf zu bringen. Das Glas wird zum „MacGuffin“, zum eigentlich austauschbaren Objekt für eine minimalistische, lakonische Erzählung von zwei zerbrechlichen Seelen, in der vor allem Darío Grandinetti als stiller Komiker aufblüht. Der Glasbehälter (El Frasco, 2008) von Alberto Lecchi ist ein schleichendes Road Movie, eine „amour fou“ mal etwas leiser.

Die Methode

Das Szenario von Die Methode (El Método) kommt einem nicht ganz unbekannt vor: Eine Gruppe von Menschen sind von einer „höheren Macht“ in einem Raum eingeschlossen worden und werden dabei überwacht, wie sie sich gegenseitig ausstechen. In diesem Fall handelt es sich aber um kein Landhaus, in dem sich ein paar Meisterdetektive gegenseitig überlisten (wie Peter Falk und Peter Sellers in Eine Leiche zum Dessert, Murder by Death, 1976), sondern um die Chefetage eines Großkonzerns in Madrid. Sieben hochqualifizierte Bewerber wurden zu einem Auswahlgespräch für einen Managerposten eingeladen, um ihre Führungskraft unter Beweis zu stellen. In einem kleinen Besprechungszimmer werden die Kandidaten per Monitor mit Fragestellungen konfrontiert und systematisch unter Druck gesetzt. Die Methode wird in der Folge zu einer Miniatur der Ellbogengesellschaft. Es entsteht eine Dynamik von Allianzen, Intrigen, vordergründigen Freundschaften und Demütigungen. Marcelo Piñeyro passt sich der Methode sozusagen filmisch an: Dekors und Farbtemperatur schaffen eine sterile, unterkühlte, seelenlose Atmosphäre, die Montage ist schnell und effektiv. Zu Beginn führt ein Split-Screen mehrere Protagonisten gleichzeitig ein, in der Folge verharrt die Kamera, meist in Nahaufnahme, niemals länger als nötig auf einem Gesicht. Der Film, dem ein Theaterstück zugrunde liegt, ist ein makellos designtes und glattpoliertes Kammerspiel. Irgendwo da draußen zwischen den Häuserschluchten, davon kündet die Tonspur, protestieren tausende Menschen währenddessen gegen die Weltbank. Doch die Sprechchöre dringen nur gedämpft ins Innere des Besprechungsraums und werden bald von beiläufigen Bossa-Nova-Sounds überlagert. Wir folgen den Auswüchsen des Systems quasi aus der Ego-Perspektive des Unternehmens. Die Kritik an den zynischen Methoden des kapitalistischen Arbeitsmarktes bleibt so buchstäblich implizit.

Martín (Hache)

Martín (Hache) von Adolfo Aristarain gilt für einige mittlerweile als ein argentinischer Klassiker der 90er Jahre, ohne dass man in Deutschland bisher davon Notiz genommen hat. Der 19-jährige, stille Hardrock-Gitarrist Hache zieht nach einer Kokain-Überdosis von Buenos Aires nach Madrid zu seinem Vater Martín, einem ehemals berühmten Filmemacher. Der verschlossene, egozentrische Martín, Gefangener seiner selbst, projiziert seine Ideale der künstlerischen Verwirklichung auf den so ungleichen Sohn. Er nimmt Hache zunächst nur widerwillig in seine neu gegründete Patchwork-Familie aus der impulsiven Geliebten Alicia und dem Freigeist und Schauspieler Dante auf. Eine Konstellation, die fast zwangsläufig langsam, aber unaufhaltsam auf eine Katastrophe zusteuert (die kathartische Reinigung inklusive). Der Autor Aristarain holt weit aus und entwirft das vielschichtige und treffende Bild einer Vater-Sohn-Beziehung zwischen Selbstsucht und Selbstsuche. Man erahnt das Vorhaben eines renommierten Regisseurs, eine zutiefst persönliche Geschichte zu erzählen. In der Zeichnung der Charaktere und Beziehungsgeflechte mag dieses Projekt Widerhall finden, auf der Ebene der filmischen Form dagegen nicht. Während Drogen als eine Art Leitmotiv den ganzen Film durchwirken, bleibt die Ästhetik des Films „clean“ – eine biedere, uninspirierte, illustrative Filmsprache, ohne eigene Handschrift. Erzählt wird der Film weniger in Bildern als vor allem in Wörtern. Es bleibt der Verdacht, dass Martín (Hache), dessen Diskurse und komplexe Charaktere sich in endlosen Dialogpassagen entfalten, auch als Hörspiel funktionieren könnte.

So lobenswert das Projekt ist, lateinamerikanisches Kinoterrain auch hierzulande zugänglich zu machen: Die wirklich spannenden, formal gewagten, radikalen Werke des „nuevo cine argentino“, die mit klassischen Erzählmustern brechen – Filme von Lisandro Alonso, Lucrecia Martel, Martín Rejtman oder Diego Lerman – sind noch immer nicht in Deutschland erschienen. Es wird Zeit, dass mehr deutsche Verleiher abseits der sogenannten Meister ein Auge für die „hormiguitas“, die kleinen Ameisen am Wegrand, entwickeln.

Weiterführende Links:

Informationen des DVD-Labels mit Trailern zu den Filmen

 

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