Emotionale Extremlagen – Retrospektive Frank Borzage
So sehr sich Frank Borzages Filme auf die Liebe konzentrieren, so sehr tun sie das im Widerstreit mit einer feindlichen Welt. Das Berliner Arsenal zeigt im September zwanzig seiner Filme.

Schon nach kurzer Zeit als Schauspieler war Frank Borzage (sprich: Borzäitschi) 1915 hinter die Kamera gewechselt. Für etwas mehr als hundert Filme zeichnete er als Regisseur verantwortlich. Bis seine Karriere Ende der 1940er Jahre endgültig ins Stocken kam, verging kaum ein Jahr, in dem nicht mindestens zwei Filme von ihm ins Kino kamen. Es ist ein Werk voller Expressivität, Romantik und Sentimentalität, in dem Erotik und kindliche Keuschheit ein eigenwilliges Amalgam bilden, in dem die Intensität der Gefühle zu märchenhaften, irrealen bis psychotischen Momenten führt. Es gab diverse Versuche, die Eigenschaften der Filme auf einen Kern herunterzubrechen: Hervé Dumont, Autor von Frank Borzage: The Life and Films of a Hollywood Romantic, beispielsweise sah überall einen Freimaurer am Werk, während für Tom Gunning die Sehnsucht nach präödipalem Inzest hinter den Filmen waltet. Solche Ansätze haben aber mit dem Problem zu kämpfen, dass Borzages Werk nicht nur enorm umfangreich, sondern auch äußerst vielgestaltig ist.
Zwischen Murnau und Lubitsch

Der Film, der ihm den ersten je verliehenen Regie-Oscar einbrachte, war 7th Heaven (1927). Er wurde mehr oder weniger back-to-back mit Murnaus erstem Hollywoodfilm Sunrise: A Song of Two Humans (1928) gedreht. Und der stilistische Einfluss von Murnaus (deutschem) Expressionismus ist bei Borzage durchaus zu spüren. Bei Desire (1936) wiederum hält sich das Gerücht, dass Ernst Lubitsch (große) Teile inszeniert hat. Bei all den Türen, durch die gelaufen wird, und dem ironischen Geschlechterkampf voller Maskeraden ist der Lubitsch-Touch förmlich zu spüren. Und doch waren es nur wenige Nachdrehs, die Lubitsch, der den Film eigentlich nur produzierte, in Borzages Abwesenheit verantwortete. So unterschiedlich wie die Stile von Murnau und Lubitsch sind denn auch die beiden Filme. Sowohl 7th Heaven als auch Desire zeigen aber die Handschrift eines Regisseurs, der in den 1930er und 40er Jahren aus der erste Riege Hollywoods verschwand, dessen Sentimentalität irgendwann altmodisch schien, der aber doch immer neue Einflüsse in sein Schaffen aufnehmen konnte.

Dabei sind es aber weniger stilistische Unterschiede, die sein Werk auszeichnen, als seine Neugier und sein Wille, mit ähnlichen Zutaten doch immer wieder woanders hinzukommen. Nehmen wir vier seiner bekanntesten Filme: 7th Heaven, Street Angel (1928), Lucky Star (1929) und Liliom (1930). In allen vieren spielt Charles Farrell eine der beiden Hauptrollen. In dreien steht ihm Janet Gaynor gegenüber. Stilistisch ähneln sie sich in ihren engen, künstlichen Welten, aus denen nur Liebe und Tod einen befreien können. Für die Bestsellerverfilmung 7th Heaven wurde ihm sogar angeboten, on location in Paris zu drehen. Borzage blieb aber lieber im Studio und nutzte wie in den Filmen danach theatralische Bühnen voller krummer Linien, wo die Realität einerseits – durch knappe Horizontalen – beengt wird und die Gefühle sie andererseits – durch weite Vertikalen – öffnen. Die Filme ähneln sich darin so sehr, dass sie zusammen exemplarisch für sein Schaffen einstehen können.

Doch wo 7th Heaven und Street Angel riesige Erfolge waren, da konnten weder Publikum noch Kritiker noch Verleiher etwas mit Liliom anfangen. Wo Street Angel und Lucky Star konzentriert sind, da sind 7th Heaven und Liliom ein ziemliches Durcheinander. Wo sich die Liebe in 7th Heaven und Lucky Star zumeist durch neugierige, erotische Zärtlichkeit ausdrückt, da findet sie in Street Angel und Liliom in Gewalt ihre eindringlichste Form. Und wo Liliom einen irrwitzigen Schalk im Nacken hat – der Film scheint seine klägliche männliche Hauptfigur gutmütig auf den Arm zu nehmen, aber in der Pointe, die der Film für seine Geliebten und sein Kind bereithält, lauert ein geradezu makabrer Humor –, da sind die anderen Filme ätherischer.
Sentimentalität und Destruktion

In ihrer Tendenz zum Extremen aber gleichen sie einander: Extrem in den Gefühlen, wobei nicht die Schnitte für Dramatik sorgen, sondern die Gestaltung der Bilder – weichgezeichnete Gesichter in den Großaufnahmen, harte Hintergründe, die durch Lichtsetzung, Schatten und Nebel etwas Mythisches bekommen. Extrem in den Situationen – überall herrschen Armut und Krieg. Und extrem in ihrem Verbandeln von Liebe und Tod. Jeder Film bietet dabei auf seine Weise Boden für sentimentales Träumen und Fühlen und für Humor, aber auch für Traumata, Psychosen, Regress und Destruktion. Das hochromantische Ende von Street Angel kann ebenso als ein Mord aus Frauenhass gelesen werden, mithin als ein Musterbeispiel für Klaus Theweleits Männerphantasien, wonach Frauen ein brutales Ende finden, sobald die Ahnung aufkommt, dass sie doch keine Engel sind. Oder wie Paul Willemen schreibt: „7th Heaven can easily be seen as a science fiction movie answering the question: what if it were possible to regress back to a pre-oedipal condition without sinking into the nightmare world of psychosis?“

Beim Dreh seiner Stummfilme stand Frank Borzage oft neben der Kamera und sprach kontinuierlich mit seinen Schauspielern. Eine eindringliche Intimität erzeugte er so – am Set wie in seinen Filmen. Eine Intimität, die sich auch in seinen Tonfilmen finden ließ, die regelrecht in sich versunken sind. Voller Sinnlichkeit und Unverschämtheit sind seine – und alle sind sie es – Liebesfilme. Aber die vier genannten Filme zeigen auch einen Regisseur, der sich nicht nur für einen einzigen Ausdruck der Liebe interessiert, sondern für so viele wie möglich. Mit ständigen Perspektivwechseln nähern sich die Filme ihr an. Mal scheint sie eine Krankheit zu sein, mal eine Erlösung. Mal wird von ihr mit Peitschen erzählt, mal mittels einer Haarwäsche, die ein Mann einer Frau mit über ihren Kopf zerschlagenen Eiern verpasst – eine Annäherung, die etwas Sexuelles und Infantiles zugleich hat.

Im dritten Band von The Hollywood Professionals schreibt John Belton, dass Borzages Filme die Liebe über alles andere stellen. Dass die unterschiedlichen Umstände nur da sind, um der Liebe mittels Widerständen, die zu überwinden sind, zur Transzendenz zu verhelfen. Hervé Dumont schlägt in eine ähnliche Kerbe, wenn er behauptet, dass die Filme Borzages nicht an Alltäglichem interessiert seien, sondern nur an romantischer Überhöhung. Dem stehen allerdings Filme wie etwa Bad Girl (1931), für den er seinen zweiten Regie-Oscar erhielt, oder The Magnificent Doll (1945) entgegen. Ersterer, eine romantische Komödie, in der die Liebenden sich wegen der Geschlechterklischees in ihren Köpfen verkennen, ist eine über die Divergenz von Bild und Wort erzählte Geschichte, die sich ganz und gar im Alltäglichen abspielt – Transzendenz fehlt dabei völlig. Letzterer erzählt von der Liebe der Protagonistin zu zwei Politikern, einem Idealisten und einem Abenteurer. Diese Liebe trägt aber nur die Darstellung eines zerrissenen Landes, unentschieden zwischen seinen Idealen und seinen Gelüsten.
Liebe über alles?

Oder da sind seine in Deutschland spielenden Filme, in denen sich graduell der Naziherrschaft angenähert wird: Little Man, What Now? (1934); Three Comrades (1938) und The Mortal Storm (1940). In ihnen wird mittels der Liebe eine Welt dargestellt, die aus den Rudern gelaufen ist. Die Liebe scheint hier eher ein Strohhalm, an dem sich die Figuren klammern angesichts der sozialen Problemlagen, der Geisterwelten, die um sie entstehen. So sehr sich Borzages Filme also auf Liebe konzentrieren, so sehr tun sie das immer im Widerstreit mit einer feindlichen Welt. Einer Welt, in der sich mal märchenhafte Inseln zur Rettung finden, mal ungeschönt erzählter sozialer Horror. Oft beides.

Auf viele Gemeinsamkeiten lässt sich das Werk Frank Borzages herunterbrechen, aber in nichts scheinen sie so verbunden wie in dem Willen ihres Regisseurs, die Extremlagen der Gefühle in immer neue Gefilde zu führen. Sei es die irrwitzig romantische Welt von History Is Made at Night (1937), wo Kellner ganz selbstverständlich zu den Stars und Sternchen gehören, oder die niederschmetternden Welten von Moonrise (1948) oder A Farewell to Arms (1932) – einer von beiden endet mit einem der heftigsten Bilder der Filmgeschichte, der andere beginnt mit einem solchen. Ob es nun Motive sind wie die ewig sich im Kreis bewegenden Achterbahnen und Riesenräder, die Bilder von Gewässern oder die todesähnlichen Situationen, ob es der verspielte Umgang mit der Realität ist oder deren traumatische Auflösung, ob es veraltet Wirkendes ist – der unironische Glaube an die Liebe – oder Hochmodernes – die Aufladung noch der einfachsten Zusammenhänge mit vielschichtigen Bedeutungen –, all das findet sich in vielen Filmen wieder, aber nichts davon findet sich in allen. Das Œuvre des Frank Borzage ist eines, das es zu entdecken gilt.
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