Eine Serie, die das Kino meint – Locarno 2018 (I)
VoD: Die Karten liegen auf dem Tisch. Der gut 14-stündige La Flor erzählt vom Erzählen des Kinos und setzt zu Beginn aufs B-Movie. Über keinen Film wurde schon vor dem Festival so viel gesprochen wie über diesen.

Es ist eine der großen Fragen in Locarno zu Beginn des 71. Festivals: Wie kann man den über 14-stündigen Wettbewerbsfilm La Flor in sein Programm drängen? Allzu viele Möglichkeiten gibt es dafür nicht, denn er läuft nur zwei Mal. Zunächst in acht recht kurzen Akten, gegen Ende des Festivals nochmal in drei längeren Teilen. Da ich nicht so lange bleibe, kann ich ohnehin nur ein paar Abschnitte sehen, doch die Neugier ist größer als der Verstand, größer als das Wissen darum, dass ich in den Film nur hineinblicken, ihn aber nicht überblicken können werde. Sei’s drum.
Sind lange Filme besser?

Es ist ein guter Einstieg ins Festival, schon weil der Film gleich zu Beginn sein Programm offenlegt, uns erklärt, es werde vier Geschichten geben, die in der Mitte aufhören, eine fünfte mit einem Ende und eine sechste, die in der Mitte anfängt, um zum Ende zu gelangen. Der Regisseur sitzt im Grünen, ein prächtiger Baum wirft Schatten, er guckt in die Kamera und zeichnet die Struktur seines Films in ein Notizbuch. Zur Erklärung gehört auch, dass die Teile unterschiedliche Genres aufrufen, der erste ist im Stil eines amerikanischen B-Movies gehalten, der zweite tritt als Musical auf, der dritte als Agentenfilm und so weiter. Ich schreibe “und so weiter”, weil ich bei Aufzählungen so schwer zuhören kann. In welchem Stil die Teile sein werden, das kann ich dann ja immer noch sehen.
Der Regisseur heißt Mariano Llinás, er kommt aus Argentinien und gehört zum kleinen Filmemacherkollektiv El Pampero Cine. Beim BAFICI-Festival hat La Flor bereits die wichtigsten Preise abgeräumt und kein Film wurde so oft im Vorfeld erwähnt wie er. Die Länge ist nicht alles, wissen wir ja, und vergessen es aus lauter Ehrfurcht dann doch. Argumente gegen überlange Filme fallen mir dennoch kaum ein und ich höre sie in der Regel nur von Leuten, die sie gar nicht erst gucken. Was die in aller Regel ignorieren: dass sehr lange Filme meist viel besser mit Zeit umzugehen wissen als kurze oder mittellange. Das trifft auf die ersten 90 Minuten von La Flor in jedem Fall genauso zu wie auf fast alles von Lav Diaz und Wang Bing. Koinzidenz oder Korrelation? Besser umgehen heißt: Sich nicht aus Gründen der Zeitökonomie Eskapaden verkneifen, weil nichts so kurzweilig ist wie das Überflüssige, dafür aber besonders ökonomisch das Notwendige inszenieren, weil die Zeit noch kostbarer ist, wenn man viel davon haben will. Kann nicht jeder, und zum Glück macht nicht jeder Filme mit zweistelliger Stundenzahl.
Lust am Spiel statt gut geölter Reigen

B-Movie heißt im Fall von La Flor, dass es sowas wie Dreckskerle gibt und Frauen, die nicht lange rumfackeln, und Mumien und Ansteckungen und magische Kräfte und weite Landschaften und Hektik und Schockmomente, und alles ist ein bisschen over the top. Eine für mich recht schnell wesentliche und ungeklärte Frage ist, welches Verhältnis der Film eigentlich zu den Genres hat, die er antriggert, zitiert, deren Gewand er sich anzieht. Was will er von ihnen? Abgesehen davon, dass er Spaß an all dem hat, werde ich den Verdacht nicht los, dass La Flor doch gleichzeitig auch eine Distanz zum Bahnhofskino sucht, oder vielleicht genauer: dass er die Effekte, auf die es ankommt, herunterdimmt, hinauszögert, im Timing absichtlich verfehlt.
Es ist irritierend, auf welche Weise der Meta-Aspekt von Anfang an eine Rolle spielt. Das Genre wird nicht ironisch gebrochen, aber es findet eine Form von Austausch statt, in dem die Gratifikation durch den gut geölten Schock-Thrill-und-Albernheiten-Reigen ersetzt wird durch die Lust am Spiel. Vier Hauptdarstellerinnen kennt die Serie, die La Flor mit ihrer episodischen, zur gestaffelten Sichtung einladenden Struktur auch ist, und sie werden unterschiedliche Rollen spielen. Es geht um die Frauen, die die Darstellerinnen sind, genauso wie um die Frauen, die sie sein können. Das spürt man in ihren Performances genauso wie in ihren Nicht-Performances. An einer Stelle kommt es deswegen sogar zum Szenenapplaus. Nicht viel später endet die erste Episode wunderbar brutal, gefühlt mitten drin. Sollte so sein. Die Vorfreude steigt, ganz ohne Cliffhanger.
Der 1. Teil von La Flor steht bis zum 30.09.2021 in der Arte-Mediathek.
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