DOK Leipzig 2018: Film als Defibrillator
Den Sozialismus reanimieren, die Unendlichkeit darstellen, eine komplette Stadt kartografieren. Auf dem DOK Leipzig hat das Kino ganz schön viel zu tun.
Kino als Defibrillator: Symphony of the Ursus Factory

Zu Beginn gibt es Bilder sozialistischer Propaganda: Junge Männer beim Morgenappell. Einzelne ernste Gesichter werden aus der Masse herauskadriert. Der Blick der Kamera leicht untersichtig, der Blick der Männer entschlossen Richtung Zukunft. Alles in einem Rhythmus, der Schnitt des Films und die stampfenden Maschinen. Der Arbeitsablauf aus einem Guss, genau wie die hergestellten Stahlträger für das Endprodukt: Eins, zwei, drei – immer mehr Traktoren rollen aus dem Werk, bis der 50.000. Kühler mit der Marke „Ursus“ versehen wird. Alles zu Orchestermusik. Kein pathetisch-heroischer Originalscore, sondern eine Musik, der eine wunderbare Lebendigkeit innewohnt. Sozialistische Bilderwelten gibt es in Symphony of the Ursus Factory nicht, damit wir uns von ihnen abgrenzen, sondern um eine Vitalität zu beschreiben, die es wieder zu erreichen gilt. Einst haben die Häuser gebebt, die Kronleuchter gezittert, als die Produktion der Fabrik begonnen hatte, heißt es in den nostalgischen Erinnerungen der ehemaligen Arbeiter, die sich als geisterhafte Stimmen über den Film legen.
Jaśmina Wójciks Film ist deswegen eine filmische Reanimation. Die Wiederbelebung einer Stadt, deren Wege zur Fabrik wie Adern auf ein Herz aus Schutt und Asche zulaufen. Ehemalige Angestellte hat sie aufgesucht und mit ihnen eine Performance eingeübt, in der die Menschen ihre alten Arbeitsroutinen zwischen den Trümmern der Fabrik reenacten. Arbeit als pantomimische Performance und scheppernde Maschinengeräusche aus den Erinnerungen der Menschen mit dem Mund abgespielt – Sounds, die sich im Loop zum berstend-treibenden Soundtrack des Films verbinden. Eine Kamera, die nie zur Ruhe kommt und Schnitte immer wieder so belebend wie die gezielten Stöße eines Defibrillators. Symphony of the Ursus Factory nutzt die Audiovisualität des Kinos als kinetische Kraft – und als Hauch des Lebens für eine ganze Stadt.
Am eigenen Prinzip scheitern: Architektur der Unendlichkeit

Wer einmal eine Arbeit des US-amerikanischen Künstlers James Turrell erlebt hat, weiß um die Auswirkung, die Kunst auf die menschlichen Sinne haben kann. Sein Prinzip ist meist das gleiche: Ein architektonisch begrenzter Raum jedweder Form, der plötzlich grenzenlos wirkt – allein durch die Art wie Turrell das Licht darin formt –, ja sogar grenzenlos wird. Turrell ist nur einer der Künstler, an denen sich Christoph Schaub in seinem Film Architektur der Unendlichkeit abarbeitet, aber das Phänomen, dem er sich widmet, lässt sich anhand des Lichtkünstlers wohl am besten explizieren: „Es kommt mir vor, als ob erst durch Begrenzung eine Vorstellung der Unendlichkeit entsteht“, sagt ein Sprecher zu Beginn, der uns mit seiner ruhigen Stimme den Film über begleitet. „Grenzen sprengen, durchs Grenzen setzen“, heißt es später nochmal, und immer geht es in diesem Film um die ausufernde Wirkung, die ein in sich geschlossener – in diesem Film meistens sakraler – Raum haben kann. Von transzendentalen Erfahrungen ist die Rede, architektonische Ereignisse beschreibt ein anderer, und manchmal sei man wie ein Kind nur noch in seiner eigenen Welt, sagt wieder die Erklärstimme.
Das Problem von Architektur der Unendlichkeit ist, dass es bei diesen Beschreibungen bleibt und sich das entsprechende Gefühl beim Zuschauen des Films selbst nie einstellt. Vielleicht weil Schaub sich in seiner Inszenierung selbst Grenzen baut. Visuell ist der gezeigte Raum kaum erfasst, schon kommt der Schnitt und präsentiert die nächste Perspektive. Und selbst wenn die Kamera doch mal ein wenig verweilt, erläutert die Sprecherstimme eine durchaus faszinierende Möglichkeit der Raumwahrnehmung, die aber eigene Erfahrungen gleichzeitig ausschließt. „Grenzen sprengen durchs Grenzen setzen.“ Schaubs Film scheitert letztlich an dem Prinzip, das er so verehrt.
Kino als expressive Kartografie: Charleroi, Land of 60 Mountains

Der Versuch, eine Karte zu malen: Ein Finger hinterlässt einen Kreis auf einer staubbedeckten Fläche. Das sei der Umriss der Stadt, meint eine Stimme. Ein Strich quer durch den Kreis und zwei bis drei punktuelle Kritzeleien außerhalb – der Fluss, der die Stadt durchfließt und die Hügel, die sie umgeben. „Hilft das, die Gegend hier ein wenig besser zu begreifen? Nicht wirklich, ich weiß...“, sagt die Stimme und muss kichern. Ein Bild als Metapher für das, was in den nächsten zwei Stunden folgen wird: der Versuch, die belgische Stadt Charleroi filmisch in alle Richtungen zu durchmessen, sie in ihrer Topographie zu begreifen – und gleichzeitig das Geständnis, dass dies gar nicht vollständig möglich sein wird. Und trotzdem begreift der Film sein Vorhaben erfreulich umfassend: Nicht nur weil er sich an zahlreichen großen Institutionen und Personen der Stadt abarbeitet, auch weil die Leinwand zwischen den dazugehörigen Interviews immer wieder Platz für ästhetische Experimente bietet: etwa das goldene Licht, das sich plötzlich über die ganze Stadt legt; animierte Bilder als Stellvertreter für Theorien, die nicht filmbar sind; oder der plötzliche Schnitt auf eine rasante Bilderwelt, weil in einem Interview kurz angemerkt wurde, dass Schönheit erst durch Bewegung entsteht. Kinematografische Experimente als persönliche Zugänge, die hier nicht bloß Anekdoten am Rande sind, sondern genauso Teil der Stadt wie ihre Einwohner, ihre Gebäude, ihre Landschaft – eine expressive Kartografie.
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