DOK Leipzig 2023: Gegenbilder

Stock Footage im Patriarchat, queere Familiarität in Armenien und ein dramatischer Einsatz auf dem Mittelmeer: So verdienstvoll die Filme beim DOK Leipzig meist sind, das Sprechen über sie ist mitunter befremdlich.

Patriarchat auf Vorrat: getty abortions

Frauen, die aus dem Fenster schauen, ohne Geschichte und ohne Gesicht, oder zumindest so in Szene gesetzt, dass sich beides nicht erkennen lässt: Als en masse verfügbare Stockfotografien aus einschlägigen Bildarchiven wie Getty Images, Shutterstock oder Alarmy prägen sie die mediale Berichterstattung über Abtreibungen, an denen sich die Redaktionen zu Illustrationszwecken nur gerne bedienen. Dabei ist das Verhältnis von Bild und Text durchaus konstruiert, wie der Kurzfilm getty abortions von Franzis Kabisch zeigt, haben doch die Bilder gar keinen Bezug zu Schwangerschaftsabbrüchen und können in den Datenbanken bloß mithilfe anderer Schlagwörter („women alone and depressed“) gefunden werden.

Ausgehend von einer persönlichen Abtreibungserfahrung betreibt Kabischs Desktop-Miniatur eine komische Bestandsaufnahme, analysiert Darstellungskonventionen, Farben und bestehende Motive (Schwangerschaftstest, Ultraschallbild, OP-Ausstattung, schlechtes Wetter, Regentropfen an der Fensterscheibe, auf die ein einsamer Körper schaut), um sie ins Verhältnis mit der eigenen Lebenswirklichkeit zu setzen. Nicht nur auf welche Art die Bilder Welt zur Schau stellen, ist in diesem Film zentral. Zwischen verpixelten Fruchtsäcken, Bravo-Jasmins und diskursiv-kritischer Medienpraxis stellt getty abortions vielmehr die Frage, was sein könnte, wenn wir andere Bilder wagen würden, abseits eines patriarchalen Blicks, der auf Vorrat produziert.

Am Abknutschen: Beauty and the Lawyer

Der Lippenstift hat seine Spuren hinterlassen. Als Gariks Mund von Hasmiks Gesicht abrückt, sind die vielen roten Markierungen einer Liebe zu sehen, die Beauty and the Lawyer begleitet und bewundert. Bei der gemeinsamen Arbeit in der Initiative Pink Armenia, die sich für LGBTQIA-Rechte einsetzt, hat Filmemacher Hovhannes Ishkhanyan das Paar kennengelernt. Während die abgeklärte Hasmik dort als Anwältin tätig ist, tritt Garik als bekannte Drag-Performerin Carabina auf, aufgedreht, leidenschaftlich, pathetisch, verträumt, ungestüm, stets im Angesicht einer armenischen Gesellschaft, in der queere Menschen systematisch ausgeschlossen werden und Gewalt erfahren.

Vorwiegend in Innenräumen vollziehen sich deswegen die Szenen dieser Beziehung, immer wieder unterbrochen von kurzen theatralen bis musicalhaften Momenten, in denen Garik/Carabina auf das vergangene Dasein als Sex Worker zurückschaut und mit einem bloßen Schnippsen Schläge in Schmetterlinge verwandeln kann. Ein Kind wird geboren, ein Ring an den Finger gesteckt, ein Tannenbaum an Weihnachten aufgestellt, ein Haus unter väterlicher Aufsicht gebaut. Solche Stationen heteronormativer Bürgerlichkeit werden in Beauty and the Lawyer absolviert, gleichzeitig aber unterlaufen von diesem Duo, das für sich ein ganz eigenes familiäres Zusammenleben entwirft, an dem die Kamera so lange teilhaben darf, bis das nächste Küsschen beginnt.

Verteilte und geteilte Aufmerksamkeit: Einhundertvier

Der Timecode, der eingeblendet wird, beginnt nicht am Nullpunkt. Es sind schon etwas über zwölf Minuten vergangen, darauf verweist die Anzeige, bevor das erste Filmbild einsetzt. Weitere Kameraeinstellungen werden dazu kommen, gelegentlich besteht die dokumentarische Anordnung von Jonathan Schörnig aus sechs verschiedenen, simultan ablaufenden Perspektiven, die sich hinzu-, dann wegschalten, auf- und abtauchen wie Fische von einem Schwarm, der den Blick zerstreut. Der Timecode wird bleiben. Gegen die Zeit ist das Team von Kapitän Claus-Peter Reisch auf dem Mittelmeer unterwegs, der Notruf eingegangen.

Die GoPros sind schon installiert an den Menschen und den Fortbewegungsmitteln, weil Schörnig eigentlich als Journalist eine Fahrt des Rettungsschiffs Eleonore begleitet, das von Freiwilligen der Organisation Mission Lifeline besetzt wird und im August 2019 Gegenstand internationaler Berichterstattung wird. Einhundertvier heißt sein Film, der quasi nebenbei entstanden ist und dessen Titel vorgibt, was in Echtzeit geschieht. 104 Personen gilt es von dem kaputten Gummiboot zu evakuieren, Passagier für Passagier, step by step. Die Handlungen und Sprechakte wiederholen sich, kleine Gesten, knappe Sätze, die Aufgaben sind klar verteilt. Immer wieder ertönt derselbe Funkspruch von Reisch, den die internationalen Behörden ignorieren; immer wieder bittet Clara Richter, heute zum ersten Mal in dieser Funktion bei der Seenotrettung dabei, die Menschen darum, sich hinzusetzen, ihr und den anderen Mitgliedern der Crew zu vertrauen. Schörnig und Kameramann Johannes Filous werden unweigerlich Teil der Gruppe, gliedern sich in die Abläufe ein, helfen mit, so gut sie können.

Nicht nur die repetitiven Vorgänge sind unerträglich an Einhundertvier, sondern dass hier Menschen bei der Arbeit zu sehen sind, kontinuierlich die Fasson wahren zu müssen, während die ganze Umgebung an Form verliert, die Luft aus dem Ventil weicht; und dass es diesen Film überhaupt gibt, ihn geben muss, um die Unmenschlichkeit der Europäischen Union weiter besprechbar zu machen und zu dokumentieren, falschen Behauptungen schlicht das Wissen davon gegenüberzustellen, wie diese Einsätze auf hoher See tatsächlich funktionieren (und wie beschwerlich sie sind).

Auf Interviewaufnahmen verzichtet der Film, konzentriert sich ausschließlich auf die Rettungsaktion als Betriebssystem, das abläuft, und schafft mittels split screens eine verteilte, aber eben doch auch merkwürdig geteilte Aufmerksamkeit bei dieser 66. Festivalausgabe für die Dauer seiner 93 Minuten. Obwohl sich die Zeiteinblendung aus der dramaturgischen Logik von Einhundertvier erklärt, führt sie zu einer erheblichen Dramatisierung des ohnehin schon dramatischen Geschehens. Sie spitzt zu, sortiert die Ruhen der Routinen und Phasen der Desorientierung, stellt Spannung her, die gegen Ende eine Entspannung suggeriert, die es nicht gibt und prinzipiell nicht geben kann.

Das Sprechen in Leipzig über diesen Beitrag ist mindestens befremdlich („bräuchte eine Fortsetzung“, „hätten gerne mehr gefilmt“), die Moderation betont, wie „wahnsinnig aktuell“ Schörnigs Film sei, der aufgrund der derzeitigen Debattensituation sogar „noch aktueller geworden“ wäre. Aber dass Einhundertvier auf verschiedenen Ebenen Formen der Solidarität praktiziert und die stummen Auftritte der libyschen Küstenwache festhält, die keinerlei Interesse besitzt, den zu ertrinken drohenden Menschen zu helfen, und die ihre Macht demonstriert, indem sie so dicht an die Eleonore heranfährt, dass sie den Rettungseinsatz gefährdet, das sind zwei der Verdienste dieses Films.

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