DOK Leipzig 2021: Auf Knopfdruck

Das DOK Leipzig ist zurück im Kinosaal. Notizen zu Filmen, in denen an Autos ebenso herumgeschraubt wird wie an den Affekten der Zuschauenden. Die reagieren manchmal durchaus verwirrt.


Spielerische Komplexität: Kopf Faust Fahne – Perspektiven auf das Thälmanndenkmal

Ein Mädchen sieht zur Kamera, eine ordentliche, kleine Pionierin mit Halstuch, Bluse, Käppi, die die Hand zum Gruße hebt. Es handelt sich um keine Unbekannte, sondern um die Filmemacherin selbst, die in das Kamera-Auge schaut und den Blick eines zukünftigen Ichs erwidert; eine Szene, in der Betina Kuntzsch sich in den Bildern der Vergangenheit wiedererkennt, als sie etwas sieht, was wir nicht sehen und was wir erst bemerken, als sie uns davon per Voice-over berichtet. Entstanden ist diese Aufnahme 1986 bei der Enthüllung des Ernst-Thälmann-Denkmals im Prenzlauer Berg, wo die Regisseurin aufgewachsen ist. Nicht einen, sondern gleich zehn Filme hat Betina Kuntzsch gemacht, um sich dem Gelände um das kontroverse Bronze-Monument, dieses Fossil aus einer anderen Zeit, das in den 1990ern abgerissen werden sollte und 2014 unter Denkmalschutz gestellt wurde, zu nähern – und, sehr subtil, auch der eigenen Biografie und Familie.

Kopf Faust Fahne – Perspektiven auf das Thälmanndenkmal ist ein vielgestaltiges Wesen. Zehn Miniaturen zeugen von verschiedenen zeitlichen und politischen Phasen, ordnen mithilfe von Anekdoten Berliner Stadtgeschichte, geben Angebote, um diesen Thälmann zu fassen zu kriegen. Sie variieren in Form, Farbe und den Gesten des Dokumentarischen, die sie bedienen. Animierte Sequenzen wechseln sich mit Fotografien von Schulheftseiten und Kinderbildern ab, ein Elektriker präsentiert stolz einige der 200 Dias, die er als Hobbyfotograf zur Zeit des massiven Wohnungsbaus rund um das Denkmal und dessen Park einst anfertigte. Die einzelnen Kurzfilme, für sich abgeschlossen, werden gerade durch ihre Kombination spannend, bei der Kuntzsch spielerisch mit Komplexität umgeht.

Dabei ist Kopf Faust Fahne – Perspektiven auf das Thälmanndenkmal passenderweise Teil eines weiteren Projekts der Künstlerin. Im Rahmen der Stadtraum-Intervention Vom Sockel denken will sie mehrere rote Betonsockel nahe dem Ernst-Thälmann-Denkmal errichten, auf denen es sich quatschen, abhängen, streiten lässt. Per QR-Code können dort auch die Kurzfilme abgerufen und angeschaut werden. Mit dieser direkten, räumlichen Kommentierung des Monuments führt Kuntzsch einen Gedanken fort, den auch ihr Film formuliert: Das Denkmal erscheint als Projektionsfläche für Lebenswelten und das, was als Erinnerungskultur verstanden werden will. Diese funktioniert nicht linear, nicht immer faktisch, sondern schlummert in den Menschen mit ihren Geschichten und ihren Blicken, die sie mitunter auf sich selbst zurückwerfen.

Wiederauferstehung im Digitalen: kitchen.blend

kitchen.blend ist ein Film, der auf einem Desktop spielt und dessen Dramaturgie aus Arbeitsschritten besteht. In der 3D-Software „Blender“ erstellt Nataliya Ilchuk ein detailgetreues Modell der Küche ihrer Großeltern in der Ukraine. Fotos und Videoaufnahmen, die Freund*innen und Bekannte gemacht haben, helfen der von der Familie räumlich getrennten, in Frankreich lebenden Filmemacherin dabei. So lässt sich in kitchen.blend eine Art Familienzusammenführung beobachten, wenn die Küche als nachgebauter Gedächtnisort im Digitalen wiederaufersteht und ein Stückchen Schokolade aus der Hand der Oma zur größeren Herausforderung wird.

In dem Kurzfilm wird der Prozess des Animierens und gleichzeitigen Dokumentierens per Bildschirm-Aufnahme sichtbar. Während sich beim Nachgespräch Regisseurin Ilchuk mit André Eckardt von der Auswahlkommission über die Ästhetik von Pixeln unterhält, über digital art und mixed media, bittet eine ältere Frau aus dem Publikum um eine Übersetzung – und fügt hinzu, dass sie die Intention des Filmes nicht verstehe. Eckardt vermittelt, während Illchuk vom Tod des Großvaters und der Trauer der Großmutter berichtet, von dem Willen, eine Erinnerung festzuhalten. Und dennoch bleibt die Verwirrung bei der Zuschauerin über die Vorgehensweise der Filmemacherin: „Warum tut man das, wenn man Menschen nah sein will, dass man auf einen Knopf klickt?“ In der Diskussion von kitchen.blend offenbaren sich Generationenkonflikte, die sich vor allem am Umgang mit Technik und an Fragen der Speicherung von Welt aufhängen. Dabei sind die Filmemacherin und die ratlose Frau aus dem Publikum eigentlich gar nicht so weit voneinander entfernt. Nur die Mittel, mit denen sich beide der Welt nähern, müssen andere sein. „Trotzdem bisschen merkwürdig“, brummelt die Zuschauerin.

Miteinander, gegeneinander: Bucolic

Zwei Frauen leben auf dem Land, Mutter und Tochter, abgeschieden vom Rest der Welt. Mit dem Fahrrad werden die Einkäufe erledigt, ehe sich wieder um die Tiere gekümmert werden muss. Von denen gibt es reichlich, Kühe, Ziegen, Schafe, Hunde und Katzen. Letztere dürfen auch mit ins Haus, das ein bisschen düster und rumpelig ist. Ein Badezimmer haben Danusia und Basia nicht, aber die Tochter besitzt ein Handy. Basia versteckt es manchmal, wenn die die Mutter ins Wohnzimmer kommt. „Ich? Nichts. Ich sitze zu Hause“, antwortet sie einmal dem Anrufer, während sie draußen auf dem Feld eine Zigarette raucht. Und in einer anderen Szene mit enttäuschtem Pragmatismus: „Ich weiß, dass du nicht kommen konntest.“

Über eine Dauer von vier Jahren hat Karol Pałka das Zweiergespann aus der Einöde begleitet. Pałka, eigentlich Fotograf, entwirft in dunklen Bildern und langen Einstellungen eine familiäre Dynamik zwischen Mit- und Gegeneinander. So kann Bucolic mit Hinblick auf Basia als Coming-of-age-Film gelesen werden, deren Handy inklusive Freund/Liebhaber neben dem Fernseher, dem sonntäglichen Gottesdienst und einem Postboten die einzigen Verbindungen in ein Außen darstellt. Und während die Jahreszeiten munter wechseln, geht Mutter Danusia ihrem Glauben nach und fabuliert von Teufeln und Seelen, die sie auf Spaziergängen gesehen habe. Die Musik nimmt diese teils esoterischen Spuren auf, überhöht sie mit Blick auf die schlammig-neblige Umgebung des Hauses, wagt es, am Anfang und am Ende völlig episch zu werden und auszubrechen, während Danusia und Basia zurückbleiben. Bucolic ist ein spröder, ein eigenartiger Film, den die Erfahrung des Übernatürlichen fasziniert, die das Älterwerden bereithält.

Aufführungen von Männlichkeit: Garage, Engines & Men

Die Stadt habe sich verändert, die Bäckerei sei nicht mehr da. Die Tourist*innen kämen zur Erholung, meint Claire Simon, nicht aber, um in Claviers, ihrem Geburtsort, zu leben. Leben heißt in der französischen Gemeinde, aufs Auto angewiesen zu sein, was Simon den Aufschlag für ihr neues Werk bietet. In Garage, Engines & Men wird genau das gezeigt, was der Titel verspricht. Simon besucht eine Garage, in der zwei Männer an den Motoren von Autos und Motorrädern (zumeist von anderen Männern) herumwerkeln. Gelegentlich kommt ein neuer Kunde vorbei und fragt, wie es denn mit der Familie so läuft. Verwandte und Fahrzeuge dienen in Simons Film als Eisbrecher zwischen all den Typen, die beiläufig in Gespräche geraten. Es bedarf Referenzgrößen, etwas, worauf sie sich berufen können, wenn sie sich unterhalten. Ein Fachvokabular zwischen Winkelzahnrad und Kurbelwelle ist als Back-up mit von der Partie.

Unterdessen führt Garage, Engines & Men eine Art Studie durch in Sachen Haltungen, Körper, Aufführungen von Männlichkeit, wenn mit Zigarette im Mund Reparaturen gemacht werden und in der häufig gestellten Frage, wie lange der Wagen noch Garantie hat, ein nicht weiter ergründetes Sicherheitsbedürfnis zum Ausdruck kommt. Die Frauen, die in diesem Film auftreten, sind überwiegend stumm, auch Simon hält sich zurück, fragt einmal bei einer Kundin nach, als die boys schon nicht mehr zuhören. Eine weitere erhält ungebeten Tipps zu ihrer bald anstehenden Geburt, ein Vorgang, den die beiden Männer aus der Garage wie einen weiteren technischen Ablauf verstehen. Die Regisseurin nutzt die Soundebene, um den inhärenten Sexismus zu kommentieren. Ein Hämmern wird durch Hall verstärkt, erinnert an den Score eines Horrorfilms. Gleichzeitig ist Garage, Engines & Men aber eben der Film einer Regisseurin über den Ort, aus dem sie kommt und dem sie sich zugehörig fühlt, so sehr sich Claviers auch verändert haben mag. „Das Problem ist die Länge der Schrauben“, meint einer der Männer mal, und irgendwie lässt sich die Fachkenntnis, sein ganzes Wissen auch bewundern, und wie sich diese Menschen an einem Ort eingerichtet haben. Simon filmt ein Milieu, das sie kennt, das sich kennt, und wo Sympathie sich in der zügigen Bestellung von passenden Teilen äußert.

Enthüllungen machen: Aktion J

Es ist eine bemerkenswerte Retrospektive, die Ralph Eue in diesem Jahr unter dem Titel Die Juden der Anderen programmiert hat. Unterschiedliche „Stile“, wie Eue sie nennt, wollen in dieser Reihe zur Anschauung gebracht werden, quasi rhetorische Figuren des filmischen Blickens auf jüdisches Leben in Deutschland, von Regisseur*innen aus DDR und BRD. Ein Beitrag aus dieser Reihe: Walter Heynowskis Aktion J von 1961, der sich die Figur Hans Globke als „Bürokrat des Todes“ vornimmt. Anhand von Fotografien und signierten Dokumenten zeichnet Heynowski dessen Karriere im nationalsozialistischen Machtapparat nach und parallelisiert sie mit der Shoah, für die Globke die gesetzlichen Grundlagen schuf. „Wäre Globke nicht gewesen, wäre Eichmann nicht gewesen“, verkündet die schneidig-scharfe Stimme von Herwart Grosse in einer Szene. Globkes spätere Berufung zum Leiter des Bundeskanzleramts unter Adenauer ist folglich besonders brisant.

Auffällig an Aktion J ist, wie hier von Macht erzählt wird. Denn Objekte sind es, die sie im Film sichern wie erzeugen: die gepflegten Schuhe, der hübsche, hölzerne Schreibtisch, Uniformen, Orden, ein Fenster mit Blick auf das Reichstagsgebäude. Doch es ist ein Objekt wiederum (ein Schlüssel zu den in diversen Archiven versteckten Akten über Globkes berufliche Laufbahn, halb symbolisch gemeint, halb tatsächlich), das Abgründe auf- und erschließt. Ein Film der Beweise lautet der Untertitel von Aktion J, der über jene plakative, genüsslich-detaillierte Überführung des Schreibtischtäters die BRD in eine faschistische Tradition stellt. Und um einen „Film der Beweise“ handelt es sich im (mindestens) doppelten Sinne, wenn Heynowskis „Enthüllungsfilm“ als Auftragsarbeit des SED-Funktionärs Albert Norden erkennbar wird, als Propagandafilm, der Materialen teils umdatierte oder als dokumentarische Aufnahmen ausgab, obwohl sie es nicht waren.

„Was wird hier eigentlich enthüllt?“ ist insofern eine schöne Frage, die an den Film auf unterschiedlichen Ebenen zurückgespielt werden kann, vor allem im Hinblick auf seine Inszenierungsstrategien, die über Aktion J hinausgehen und zu einer größeren Reflexion über die Mittel des Kinos einladen: über die Kraft der Montage, in der drastische Aufnahmen aus Konzentrationslagern von Eisler’scher Orchestermusik begleitet werden; die Schnelligkeit von Heynowskis Anordnung, die aus NS-Propagandafilmen übernommen scheint; die Darstellung von Kindern und entzweiten Familien (und wie der Regisseur sie für ein größeres Narrativ instrumentalisiert); das Verständnis von Komik in diesem Film, das sich in den polemischen Texten offenbart, die über den Bildern liegen und die in ihnen liegende Gewalt, wenn überhaupt möglich, weiter verstärken. Permanent ist Grosses Stimme präsent, lässt die Ohren kaum los und setzt mit jeder Szene dazu an, sich um die Augen zu schmiegen. Manchmal schafft sie es. Aktion J demonstriert die Schwierigkeit, sich gegen die Autorität einer Stimme im Film zu verhalten, ihr Widerstand zu leisten, eben weil es so leicht sein kann, ihr einfach zu glauben.

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