Diskurs-Maloche: Duisburger Filmwoche 2024

Von der Ruhrpottstadt in die Schweiz blicken: Im gewohnten Lagerkoller-Format präsentierte das traditionsreiche Dokumentarfilm-Festival diesmal unter anderem ein erhellendes Zürich-Triple-Feature.

In Duisburg Filme aus und über Zürich zu schauen ist fast wie von einer Welt in eine andere zu blicken. Gefühlt kostet ein einziges Zürcher Seegrundstück mehr als die gesamte Ruhrpottstadt; und die dem deutschen, österreichischen und Schweizer Dokumentarfilmschaffen gewidmete Duisburger Filmwoche zelebriert mit ihrem aufgeheizten Lagerkoller-Format – alle sehen dieselben Filme und reden anschließend darüber, und zwar ausführlich – eine Form von Diskurs-Maloche, die denkbar weit entfernt ist von jeglicher Schweizer Reserviertheit. Vielleicht ist es gerade diese Fallhöhe, die Erkenntnis ermöglicht. Jedenfalls ergab sich im diesjährigen Festivalprogramm die Gelegenheit für ein durchweg erhellendes Zürich-Triple-Feature.

Hochgradig artifizielles Regime: Der unsichtbare Zoo

Als „The Natural“ wurde der Zürcher Zoo von der New York Times einmal bezeichnet, in einem Artikel, der ihn außerdem zu einer der weltweit sechs besten Institutionen seiner Art kürte. Man darf dieses Lob wohl als Würdigung einer vergleichsweise artgerechten Haltung der Tiere verstehen. Die Leitungsebene des Zürcher Zoos ist jedenfalls glücklich über die Auszeichnung und sieht sich in ihrer Strategie bestätigt. Die umfasst, wie in Romuald Karmakars Institutionenporträt Der unsichtbare Zoo zu sehen ist, nicht nur den Bau weitläufiger Käfige, sondern auch, gemäß dem PR-Wahlspruch „Tue Gutes und sprich darüber“, Imagekampagnen, die in die Zoopräsentation selbst installiert sind: Der Zürcher Zoo engagiert sich, erfahren Besucher vor vielen Käfigen, in aller Welt für bedrohte Tierarten.

Ob der Zürcher tatsächlich „natürlicher“ ist als andere Zoos, erfahren wir in Karmakars Film nicht. Aber vielleicht zeigt er uns stattdessen, wie „natürlich“ ein Zoo überhaupt sein und vor allem: nicht sein kann. In jedem Fall zeigt der Film Tiere, die allseitig umstellt sind. Tiere, die hinter Glasscheiben oder Gitter gesperrt und deren Gehege mit mehreren Schichten künstlichen Erdreichs ausgelegt sind. Tiere, die mal von in ihren Auslauf verpflanzten lebenden Büschen und Bäumen umgeben sind, mal aber auch von sonderbaren Baumattrappen – Stahlgerüste, an die verwinkelte Eisenäste montiert werden. Tiere, die, wenn sie zwischen Zoos verschickt werden, in enge Eisenkäfige gelockt und dann eingeschlossen werden. Tiere, die vom Zoopersonal gemessen, gezählt, verarztet, gelegentlich auch getötet und an andere Tiere verfüttert werden. Natürlich auch Tiere, die zum Objekt des menschlichen Blicks werden, wobei zwischen Mensch und Tier oft noch Vermittler geschaltet sind, wie Zooführer oder auch die erwähnten Hinweisschilder, die von den guten Taten des Zoos in fernen Ländern künden.

Schließlich: Tiere, die vor Karmakars Kamera treten. Der Film kann gar nicht anders, als sich bis zu einem gewissen Grad mit der Institution, die er porträtiert, gleichzumachen und also zu einer weiteren Apparatur, einem weiteren Diskurs zu werden, die beziehungsweise der die Tiere umstellt. Und doch gelingt es den Bildern, gleichzeitig einen Eindruck tierischer Autonomie zu vermitteln. Wenn Karmakar (lebende) Tiere filmt, bleibt die Kamera stets unbewegt – sie gibt einen Rahmen vor, der dann von den Tieren gewissermaßen nach deren eigenem Gutdünken ausgefüllt werden kann. Tatsächlich erweisen sie sich eher selten als Rampensäue (nicht verschwiegen werden soll freilich eine ziemlich spektakuläre Koalaeinstellung kurz vor Schluss). Die Szenen, die eher um Menschen herum gebaut sind, funktionieren oft anders. Auch hier bleibt der Film grundsätzlich beobachtend. Aber die Bilder sind den Menschen, die sie zeigen, „auf den Leib“ geschrieben, vollziehen die Arbeitsteilung in einem modernen Wirtschaftsbetrieb, wie ein Zoo einer ist, nach, setzen sich gelegentlich gar gemeinsam mit den Menschen in Bewegung. Zum Beispiel, wenn es einem Zebra an den Kragen geht.

Im Zoo sind Menschen und Tiere, das zeigt dieser klug zurückgenommene Film in immer neuen Variationen, in besonderem Maße aufeinander angewiesen – aber nicht, weil sie eine besonders natürliche Interaktion verschiedener Spezies ermöglichten. Ganz im Gegenteil werden Mensch und Tier im Zoo durch ein hochgradig artifizielles Regime zu einer Funktionseinheit zusammengeschweißt. Durch ein Regime, das keineswegs auf tierisch-menschlichen Spiegelverhältnissen basiert (siehe die in anderen, schlichteren Zoofilmen zum Klischee geronnenen Bilder von Tieren, die uns anblicken wie wir sie), sondern, ganz im Gegenteil, auf einer kategorischen, unüberbrückbaren Differenz, die den Menschen von allen anderen Spezies trennt.

Unzeitgemäßes Überbleibsel: Brunaupark

Knapp sechs Kilometer südöstlich des Zoos liegt, am Fuß des Zürcher Uetlibergs, der Brunaupark – eine in den 1980ern und 1990ern errichtete Wohnanlage, der man, das ist das Fiese daran, sofort ansieht, dass sie veraltet ist, oder genauer: altmodisch. Es geht nur um Kleinigkeiten, zu verwinkelt im Grundriss sind die Gebäude, zu viel Beton überall, zu wenig glatte Fassaden, die Fenster nicht tief genug. Mag sein, dass der Brunaupark auch nicht allzu energieeffizient ist verglichen mit neueren Bauten, aber darum geht es nicht – wenn die Siedlung, dem Willen ihres Besitzers, der inzwischen weitgehend in den einstigen Hauptkonkurrenten UBS integrierten Großbank Credit Suisse, folgend, bald abgerissen und durch eine modernere, größere, teurere ersetzt werden sollte, dann würden Abriss und Neubau ziemlich sicher Energie in einem Umfang verschlingen, der solche etwaigen Einsparungen vernachlässigbar macht.

Im Brunaupark soll schlicht die Architektur der Vergangenheit der Architektur der Gegenwart weichen, so wie auf den Straßen die Kleidung der letzten Saison der Kleidung der aktuellen weicht. Natürlich stehen dahinter Kapitalinteressen – die sich aber nur deshalb durchsetzen können, weil das Neue als Wert an sich (beziehungsweise: als Unterscheidung) kulturell fest etabliert ist. Der Film Brunaupark unternimmt den Versuch, gegen diesen Automatismus anzufilmen. Die Regisseure Felix Hergert und Dominik Zietlow haben über Jahre hinweg im Brunaupark gefilmt und sind doch in gewisser Weise zu spät gekommen. Nämlich zu einem Zeitpunkt, an dem der Neubaubeschluss bereits gefällt und der Brunaupark damit als ein unzeitgemäßes Überbleibsel markiert worden war.

Hergert und Zietlow können noch filmen, wie ein im Film vorwiegend italienisch sprechender Wirt sein Bistro zum letzten Mal zusperrt. Aber die goldenen Zeiten seiner Beiz, lange Zeit wohl eine Institution in der Siedlung, haben keine Realität mehr im Bild. Sie sind verschoben auf Erinnerungserzählungen, auf Beschwörungen einer glücklichen, lebensweltlichen durchmischten Brunaupark-Vergangenheit, die in der Gegenwart einerseits den Kampfeswillen einiger Bewohner antreibt, andererseits mit den bereits heute veränderten sozialen Realitäten kollidiert. Immer mehr Zwischenmieter tauchen im Brunaupark auf, digitale Nomaden, die ihre Zimmer lediglich für ein paar Monate leasen, kaum mehr als eine Matratze und Kleider zum Wechseln mitbringen. In einer ziemlich lustigen Szene versucht einer der Neuen seinen Lebensentwurf – in acht Monaten genug Geld fürs ganze Leben verdienen, in ein paar Jahren dann Kinder – einem verdutzten Altmieter nahezubringen.

Der italienische Wirt wiederum hat sein Bistro derweil ganz nonchalant in die eigene Wohnung verlegt. Da sitzt er jetzt auch weiterhin mit seinen Stammgästen, kocht ihnen Pasta und schenkt vor allem jede Menge alkoholische Getränke aus. Insgesamt ist Hergert und Zietlow ein angenehm undogmatischer Dokumentarfilm gelungen, der verschiedene Sprech- und Bildformen unaufgeregt miteinander vereint. Talking-Head-Statements wechseln sich mit inszeniert anmutenden Szenen und kontingenten Alltagsbeobachtungen ab. Ein Aufzug wird, in rhythmischer Montage, zu einer Miniatur-Theaterbühne; ein Obdachloser, der gelegentlich im Kellersystem der Hochhäuser Unterschlupf sucht, markiert die soziale Grenze der dargestellten Welt; in einem neueröffneten Café, einem auf einsame Laptopmenschen zugeschnittenen Vorboten des neuen Brunauparks, wird derweil ein Mitarbeiter in die Kunst der Capuccinozubereitung eingewiesen: das Herz auf dem Milchschaum muss sitzen, tut es das nicht, dann kipp das ganze Getränk weg und mache ein neues.

Zweifellos ist der Film solidarisch mit dem Kampf der Bewohner gegen den Abriss. Dennoch flüchtet er sich nicht in Nostalgie und igelt sich auch nicht in einer Wir-Aufrechten-gegen-das-böse-System-Wagenburgmentalität ein; sondern bleibt stets neugierig auf seine eigene Gegenwart.

Entleerung und Vergletscherung: Spuren von Bewegung vor dem Eis

Wo in Zürich das Archiv des Pendo Verlags liegt, das in René Frölkes Spuren von Bewegung vor dem Eis ins Bild gesetzt wird, habe ich nicht eruieren können. Möglicherweise befindet es sich in der Forchstrasse 40, einer innenstadtnahen und inzwischen garantiert selbst für Zürcher Verhältnisse sauteuren Gegend, zumindest war das früher eine Adresse des Verlags, der 1971 gegründet und 2008 von Piper übernommen wurde. Verlegt wurde Diverses – Gedichtbände und Romane, aber auch viele Sachbücher, ein Schwerpunkt war Literatur mit Bezug zur damals so genannten Dritten Welt.

Vieles davon liegt nun jedenfalls auf einem Zürcher Dachboden, in einem wenig bis gar nicht erschlossenen Rumpelarchiv. Diese Kisten voller Bücher, Bilder und Dokumente sind ein Ausgangspunkt von Frölkes Film; ein anderer ist die Begegnung mit Theresia Weigner, Tochter der Pendo-Mitgründerin Gladys Weigner. Theresia ist, merkt man schnell, alles andere als eine klassische Nachlassverwalterin, keine Ordnungs-, sondern eine weitere Unordnungsinstanz. Ihre Erinnerungen führen mal hin zum Verlag, mal aber auch weg von ihm. Und am Ende singt sie.

Theresia und das Pendo-Archiv: Das sind schon mal zwei Spuren, die nicht in dieselbe Richtung führen. Frölke folgt dennoch beiden gleichzeitig, und nimmt, etwas später im Film, außerdem eine dritte auf, die noch einmal deutlich schwerer lesbar ist: die Fritz Weigners, Gladys’ Ehemann und Theresias Vater. Der war Maler und außerdem gläubiger Katholik, auf dem Dachboden stößt Frölke auf Schmierzettel mit Aufzeichnungen, die 1943/44, mehrere Jahrzehnte vor Verlagsgründung, im Rahmen eines religionswissenschaftlichen Arbeitskreises entstanden sind. Es geht um die christliche Moral, insbesondere auch hinsichtlich ihrer Überlegenheit gegenüber kommunistischen Weltbildern.

Das liest sich kompliziert und ist es auch. Wobei Frölkes Film, merkt man bald, gar nicht an einer Durchdringung und damit Reduktion von Komplexität interessiert ist. Spuren von Bewegung vor dem Eis sucht nicht nach soliden, „belastbaren“ Zusammenhängen, die die Geschichte des Pendo Verlags zum Beispiel in den Kontext einer breiteren Zürcher Kulturgeschichte rücken; vielmehr ist es gerade, wie der Regisseur auch im anschließenden Filmgespräch darlegt, das Flüchtige und Nutzlose an Wissen- und Zeichenproduktion, was er greifbar werden lassen möchte.

Ein paradoxes Unterfangen, zweifellos: etwas greifbar werden lassen, das sich entzieht; vielleicht gar: etwas als sich Entziehendes greifbar werden lassen. Der Film versucht das, scheint mir, in einer eigenartigen Verschränkung von Konkretion und Abstraktion. Auf der einen Seite versenkt sich Frölke immer mehr in die Spezifik des Materials, das immer kleinteiliger wird: von einzelnen Büchern zu einzelnen Dokumenten, einzelnen Sätzen, einzelnen Buchstaben, einzelnen Linien. Und auf der anderen Seite verunklart er immer gründlicher dessen Kontext, lässt immer weniger die Frage zu: warum ausgerechnet dieses Buch, dieses Dokument, dieser Satz, dieses Wort, diese Linie. Und nicht zuletzt tritt der Film in sich selbst wieder ein: Frölke lässt immer wieder, als ein eigenes, weiteres Archiv, Transkriptionen der Gespräche, die er mit Theresia und anderen führt, in Schriftform im Bild mitlaufen.

Der Clou an der Sache scheint mir darin zu bestehen, dass Frölkes Film, so konsequent (= rückstandslos) wie wenige andere, semantische Kontinuität durch ästhetische ersetzt. Letztere wird gestiftet durch die körnige Schönheit des verwendeten 16-mm-Filmmaterials sowie durch den rhythmisierten Wechsel, beziehungsweise manchmal auch die Gleichzeitigkeit verschiedener Schriftbilder und, allgemeiner, Zeichensysteme. Wenn dabei, insbesondere in der Aufmerksamkeit der Kamera für typografische Muster, Texte als physische, sinnliche Objekte sichtbar werden, mag man gelegentlich an das materialistische Pathos der Filme Jean-Marie Straubs und Daniele Huillets denken. Und doch scheint mir Spuren von Bewegung vor dem Eis ganz anders zu funktionieren. Nicht auf Errettung und Resynchronisierung (von Körper und Text, zum Beispiel) zielen diese Bilder ab, sondern auf Entleerung und Vergletscherung.

Dass dieser sich ganz dem Nichtverwertbaren – und auch der eigenen Nichtverwertbarkeit außerhalb hochspezialisierter Kontexte wie eben dem der Duisburger Filmtage – verschreibende Film ausgerechnet in einer gründlich durchoptimierten Stadt wie Zürich entstanden ist, ist eine weitere Pointe; eine ziemlich gute, scheint mir.

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