Die Zukunft passiert nicht, sie müsste gedacht werden

„Die Zukunft des Kinos passiert jetzt!“, verkündete Festivalleiter Daniel Sponsel nach der ersten Online-Ausgabe des DOK.fest München. Der Kulturarbeiter Alejandro Bachmann und die Diagonale-Leiter Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber melden Zweifel an.

Am 26.5.2020 erschien auf blickpunktfilm.de ein Beitrag von Daniel Sponsel, dem Leiter des DOK.fest München. Er trägt den Titel „Die Zukunft des Kinos passiert jetzt!“. Sein Festival, das als Reaktion auf die Corona-Krise online stattfand, ist zu diesem Zeitpunkt seit ein paar Tagen vorbei. Mit Blick auf die gemachten Erfahrungen und den Erfolg des neuen Formats formuliert Sponsel sieben Thesen zur Zukunft des Kinos und zur Rolle von Festivals mit Blick auf die digitale Verbreitung von Film.

Uns ist nicht daran gelegen, die sieben Thesen zu überprüfen. Zum einen ist das nicht möglich, weil es eben Thesen sind, die Zukunftsszenarien für das Kino (oder zumindest für eine bestimmte Vorstellung davon) entwerfen. Only time can tell. Zum anderen aber ist es uns nicht möglich, entlang dieser Thesen über die Zukunft des Kinos nachzudenken, da die Beobachtungen und vor allem die Begrifflichkeiten dazu nicht annähernd ausreichen. Sie müssen erweitert werden, um überhaupt einen umfassenden Begriff von Kino, geschweige denn von seiner Zukunft zu bekommen. Den Errungenschaften der Kulturtechnik Kino, die sie zum Fixpunkt essenzieller Erfahrungen in den Biografien von Menschen macht, kommt man ohne eine solche Erweiterung in keiner Weise nahe.

Verbunden mit diesem Vokabular ist auch eine Idee, was ein Filmfestival (und in Erweiterung eine Kinemathek, ein Programmkino) sein kann und sollte, sowie die Frage, was Filmfestivals zu einem Begriff von Kino und seiner Zukunft beitragen. Zumindest solange wir uns danach sehnen und davon ausgehen wollen, dass Filmfestivals nicht ausschließlich digital stattfinden, sondern für den analogen Raum entworfene soziale Ereignisse in und vor allem auch zwischen den Kinos (in den Foyers, den Bars, der Umgebung) sind.

Marktlogiken und Zahlenspiele

Darauf hinzuweisen, dass Sponsel den Dokumentarfilm ein Genre nennt, was er nicht ist, könnte als pedantische Spitzfindigkeit gelesen werden. Im Zusammenhang seines Textes aber macht dies etwas deutlich: Die Zukunft des Kinos wird hier recht weit entfernt von seinem Gegenstand – den Filmen – gedacht. Sie orientiert sich stattdessen fast ausschließlich an Dimensionen und Begriffen des Marktes. In ökonomisch existenzbedrohenden Zeiten ist das nachvollziehbar. (Dokumentar-)Filme spielen dann vor allem eine Rolle hinsichtlich ihrer „Verwertungskette“ und „Reichweite“, im Zentrum stehen – zweifelsohne wichtige – Fragen der „Auswertung“ und, verbunden damit, Themen wie Rechtsansprüche auf der einen Seite und das Erreichen neuer Zuschauerschichten auf der anderen. Nicht selten münden solche Überlegungen in agendagetriebenen Programmierungen – jedem Film seinen Markt: Baggerfilme für Baggerfahrer*innen, Klimafilme für Umweltaktivist*innen, um es polemisch zu formulieren. Die beachtlichen Zahlen, die Online-Ausgaben von Filmfestivals dieser Tage vorweisen, sind in dieser Logik richtungsweisend: Größere Märkte lassen sich vor allem durch das Abwandern in die digitale Präsentation erschließen, Verwertungsketten werden optimiert, Reichweiten expandieren, Rechtsansprüche müssen gewahrt bleiben. Gerahmt von ein wenig Protektionismus (Geoblocking, zeitliche Einschränkungen etc.), findet der Film seinen Weg zu ganz neuen Endgeräten. Zweifellos ist die erhöhte Reichweite des Digitalen erfreulich. Sie ist aber kein ausreichender Marker für eine Zukunft des Kinos.

Was sind in diesem Kontext etwa „Zuschauer*innen“? Gezählt werden nicht Menschen, die sich in Gesellschaft begeben haben, um gemeinsam und zugleich einzeln eine Filmerfahrung zu machen. Gemeint sind Personen, die etwas eingekauft haben (nämlich eine Akkreditierung) oder etwas angeklickt haben (einen Stream, einen Download). Zuschauer*innen sind in dieser Denkweise ausschließlich eine Größe in einer Kalkulation, eine Zahl. Je größer sie werde, desto besser sei das für das Kino. Genau weil eine solche Wahl der Begriffe relativ eindimensional ist und sie häufig ungenau angewendet wird, potenziert sich das Gewicht der Zahlen. Am Ende steht da im Fall des DOK.fest München die selbstbewusste 75.000 – was angesichts ernüchternder Box-Office-Werte für Dokumentarfilme im deutschen wie österreichischen Kinobetrieb fraglos vielversprechend ist.

Hier tut sich, wohl nicht zufällig, eine deutliche Parallele zu der Art und Weise auf, wie viele Politiker*innen und ein großer Teil der Medien (in Österreich) derzeit über die Krise sprechen: Es sind Zahlen, die interessieren – Tote, Genesene, Infizierte. Sie benennen, wie gut wir mit der Krise umgehen. Wenn die Zahlen stimmen, ist die Nation gesund, ist auch das Kino gesund.

Erfahrung, Gemeinschaft, Reibung

Was die Krise individuell und gesellschaftlich auslöst, wie es uns in der Krise geht, hat jedoch nur bedingt mit Zahlen zu tun. Um zu beschreiben, was die Krise wirklich ist und wie eine Zukunft (des Kinos) nach der Krise aussehen könnte, braucht es vor allem andere Begriffe. Begriffe, die das Kino als ästhetische Erfahrung und gesellschaftliche Praxis beschreiben und ihm zudem eine Geschichte andenken. Nur mit ihnen lässt sich erfassen, was die Krise – im gegebenen Fall die Schließung aller Kinos, das Aussetzen aller Filmfestivals oder ihr Eintreten in den digitalen Raum – überhaupt bedeutet. Den Menschen geht es nicht schlecht, weil es zu wenige Filme im Netz gibt. Den Filmemacher*innen wiederum geht es nicht nur schlecht, weil sie nicht drehen können oder ihre üblichen (ohnehin sehr fragilen) Verwertungsketten gestört sind. Die ökonomische Dimension der Krise ist real. Aber das Kino ist mehr als Ökonomie und der Schmerz seiner Abwesenheit ist weitaus tiefgreifender.

Das zu betonen müsste auch und insbesondere die Rolle von Festivals, Kinematheken, jedem einzelnen Kino sein. Zu beschreiben, was abhandengekommen ist, was die Schließung der Kinos einer Gesellschaft vorenthält. Zuschauer*innen müssen dann nicht nur als Zielgruppen und Zahlen gedacht werden, sondern als lebendige Körper, mit Bedürfnissen, auf der Suche nach ästhetischen Erfahrungen, mit denen sie Verbindungen eingehen und an denen sie sich reiben können. Sie wollen nicht nur den Finger an der Maus bewegen, sie suchen Erfahrungen, die sie in Gänze in Bewegung setzen. Sie suchen Stimulation – zerstreuende, fordernde, verstörende, vielleicht auch bestätigende. Filme können als Träger solcher Erfahrungen gedacht werden – auch wenn das Kino längst seinen Status als Leitmedium eingebüßt hat. Festivals und Kinos sind dann nicht nur Plattformen, die die Verbreitung von Filmen unterstützen, sie sind Orte und Institutionen, die Rahmungen herstellen und Kontexte aufmachen, um diese Erfahrungen, dieses Berührtwerden überhaupt zuzulassen – in sich eigens dafür versammelnden temporären Gemeinschaften. All das lässt sich nicht in Zahlen fassen. Mehr noch: Im Zusammenhang mit einem Nachdenken über die Zukunft des Kinos verdeckt der Rausch der Zahlen diese Dimensionen.

Begriffe wie Erfahrung, Gemeinschaft und Reibung haben die Eigenschaft, erst einmal schwammig und uneindeutig zu wirken (obwohl sie es nicht sein müssen, sie lassen sich definieren), und sind daher schwerlich in Zahlenspiele zu übersetzen. Sie machen es uns deutlich schwerer, uns eine Zukunft vorzustellen. Vielleicht deswegen wird ihnen eine gewisse Romantik unterstellt – irrationale Spinnereien einiger weniger. Es ist wichtig – auch als Argumentationsgrundlage gegenüber Politik und Förderstellen –, Film als Wirtschaftszweig ernst zu nehmen und darzustellen. Insbesondere mit Blick auf das Kino aber ist es ebenso wichtig, seine sozialen Funktionen zu betonen und auf Fragen von Gastgeberschaft und temporärer Gemeinschaft hinzuweisen. Der derzeitige Erfolg von Online-Festivals zeigt, dass die Krise nicht als Chance zu ideologisieren ist; er verdeutlicht vielmehr Probleme, die bereits zuvor in Latenz bemerkbar waren: überschaubare Box-Office-Zahlen etwa. Sie sind aber nicht nur ein ökonomischer Faktor, sondern stellen die Frage nach der Relevanz der Filme auch kulturell: Wie vielen Leuten liegen Film und Kino noch am Herzen? Wer lässt sich von einem einmaligen Erlebnis im Lichtspieltheater heutzutage noch begeistern? Wer erinnert sentimental und gefühlsduselig besondere Kinomomente? Möglicherweise mehr Leute, als wir derweil zu glauben meinen. Das große digitale Interesse an Festivalfilmen könnte ein Hinweis sein. Ob der dahinterliegenden Sehnsucht mit einer Abfolge von Online-Events begegnet werden kann, wäre zu diskutieren, jenseits der Zahlen.

So ließe sich etwa dafür plädieren, Filmerfahrungen als Wert zu popularisieren und ernster zu nehmen. Vom zeitgeistigen Mantra der Zielgruppenarbeit unterscheidet sich diese Forderung dadurch, dass sie das Publikum nicht nur als zu erlegende, anonyme target group denkt, sondern als mündiges Gegenüber, das mit den Filmen, Filmschaffenden, Festivals und Kinos in einen Austausch treten kann und will. Wenn Sponsels nachvollziehbare Hinweise auf die Probleme des Dokumentarfilms und die daran anknüpfende Forderung nach mehr Aufmerksamkeit die eine (digitale) Seite der Medaille sind, könnte ein Plädoyer für mehr Resonanz, Erfahrung und ein historisches Bewusstsein um die Vorzüge der Kulturtechnik Kino die andere (analoge) Seite sein.

Nicht zu kalkulieren

Eines der zentralen Merkmale dieser Krise ist, dass es schwer wird, Dinge zu kalkulieren: den Urlaub in vier Wochen, die Geschäftsreise in zwei Tagen, die Einkünfte in den nächsten sechs Monaten. Oder, weniger zahlenorientiert: wann das Kind seine Großeltern wiedersieht, wann wir unsere Freunde drücken können, wann die Angst schwindet und Vertrautheit mit der Welt wieder eintritt. Warum also auf Teufel komm raus jetzt schon Vorschläge für die Zukunft des Kinos ins Feld führen? Warum nicht erstmal den Abgrund, der sich aufgetan hat, spürbar werden lassen, um ihn überhaupt einzuordnen? Steckt in diesem Bedürfnis nicht auch die Logik der kurzen und effektiven Verwertungsketten, der kalkulierten Umsätze, der Positionierung auf dem Markt der Meinungen? Ist es wirklich zu viel verlangt, auch nach einem Festival, das ins Digitale abgewandert ist, dazustehen und zu sagen: „Es war nur eine Prothese, es war nicht, was wir wollen und was wir uns wünschen, obwohl die Zahlen uns positiv überraschen!“ Ist nicht mal in der Krise eine Relativierung der Erfolgsdiskurse denkbar?

Filmfestivals sollten unserem Verständnis nach Orte sein, die genau diese Unkalkulierbarkeit spürbar und verhandelbar machen: Bei Festivals kann man Filmen begegnen, die kaum je einen Markt haben werden und doch gezeigt werden müssen – viele von ihnen werden weder im Regelkinobetrieb, schon gar nicht aber im Wust des Internetangebots eine Chance haben. Bei physisch stattfindenden Festivals kann man zufällig in den einen oder anderen Film hineinlaufen, etwas erfahren, was kein Zufalls-Algorithmus je bereitstellen könnte. Im Digitalen ist die innige Begegnung mit dem Unerwarteten weitaus unwahrscheinlicher, das Angebot richtet sich nach den Vorlieben, auch weil die Wirksamkeit des Sitzenbleibens und Durchhaltens, die Schwelle des analogen Raums, notgedrungen fehlt. Selbst engagiert programmierte Online-Festivals können diese Lücke nicht schließen: Was auf den ersten Blick nicht gefällt, wird rasch weggeklickt. Stehen Entdeckungen und Neugierde damit überhaupt noch im Vordergrund? Gibt es ein Sehen von Dingen, die eigentlich gar nicht gesehen werden wollten, ein Sehen, das nicht geplant war, das die Grenzen verschiebt? Diese (und andere) Fragen müsste man auch an digitale Festivals richten, um ihr Potenzial, das Kino in die Zukunft zu tragen, richtig einzuschätzen.

Festivals können Orte sein, an denen Filme über eine rein ökonomisierte Betrachtungsweise hinaus Platz finden, um gerade ein anderes Modell von Zukunft zumindest für einen kurzen Moment spürbar zu machen. Paradoxerweise wirken sie dabei besonders in ihrer örtlichen Festlegung – München, Graz, Oberhausen, Cannes etc. – dem Phänomen der „Provinzialisierung“ in einer globalisierten, digitalisierten Welt entgegen: jenem Trugschluss, vermeintlich international zu agieren, während man in den eigenen vier Wänden auf einen Bildschirm starrt. Es muss nicht für jede Pitching-Session und jedes 15-Minuten-Inputreferat bei einer Branchenveranstaltung ans andere Ende der Welt gereist werden. Es sollte aber gleichzeitig der Faktor Austragungsort eines Festivals nicht als Beliebigkeit im vermeintlich globalen Digitalen aufgelöst werden. Festivals sind auch sinnliche Erfahrungsräume über die Leinwand hinaus. Soziale Geflechte, verortet und bestenfalls eng verwoben mit den jeweiligen Austragungsorten. Ein Kino und/oder Festival zu programmieren und zu bespielen bedeutet im besten Fall auch, seine Nachbarschaft und sein Publikum zu kennen. Der Rückzug ins Digitale ist so gesehen auch ein Verlust an Nähe und Perspektiven auf die Welt. Alles verfügbar, nichts erfahrbar. Alle adressierbar, jedoch kaum jemand erreichbar.

Es ist naheliegend und verständlich, in einer Krise nach Auswegen zu suchen und sie, sofern erfolgreich, in einen Alltag nach der Krise zu überführen. Wenn es dabei auch gelingt, strukturelle Probleme und Ungleichheiten (innerhalb der Filmverwertungsketten) zu überwinden – umso besser. Wie Sponsel richtig andeutet, sollte das alles mit Bedacht und ohne unnötige Expansionsfantasien passieren. Die richtige Wahl der Begriffe könnte Teil einer Vorsicht sein, der besonnene Umgang mit Zahlen vor falschen Träumen schützen. Das digitale Glücksversprechen kann, so weit gehen wir mit, das haptische Festival und Kino ergänzen. Es kann und wird in der Zukunft des Kinos eine beträchtliche Rolle spielen, aber nur, wenn es sich den Begriffen und Vorstellungen stellt, die das Kino bis hierhin begleitet haben.

Neue Kritiken

Kommentare zu „Die Zukunft passiert nicht, sie müsste gedacht werden“

Es gibt bisher noch keine Kommentare.






Kommentare der Nutzer geben nur deren Meinung wieder. Durch das Schreiben eines Kommentars stimmen sie unseren Regeln zu.