Die Zeit unter der Lupe: Ein Berlinale-Mix
Berlinale 2022 – Encounters & Panorama: Die Bilder der neuen Filme von Tim Sutton und Cyril Schäublin sind mal viel zu langsam für ihre Objekte und halten mal traurigerweise ganz genau Schritt.
Endlich bigger than life

Wie wäre das, wenn man dann endlich mal identisch mit seiner Erscheinung wäre? Wenn Person und Persona in eins fallen: Bigger than life sein wollen, das ist Coles (Colson Baker) Problem nicht, denn er ist es. Auch Tim Suttons Taurus erzählt von der durchmedialisierten Gegenwart: auf der Bühne vor den Smartphone-Kameras zugedröhnt ein Konzert geben, im Insta-Livestream auch zugedröhnt sein, im Tonstudio und im privaten Leben eben auch. So geht Suttons gleichförmige Erzählung vom gleichförmigen Popstar-Leben, die schon nicht mehr Abwärtsspirale genannt werden kann, so sehr ist der Verfall auf Dauer gestellt.
Zwar will Taurus ein bisschen zu oft auf die alte Leier der großen Traurigkeit eines Rockstarlebens hinaus, doch der Film verschaltet sich viel zu eng mit unserer Welt, als das man ihn ignorieren sollte: Wer könnte so ein wandelndes Abziehbild besser spielen als jemand, der sich im echten Leben Machine Gun Kelly nennt, dessen ständig unter dem übergeworfenen Cardigan aufblitzender Schlacks von einem Oberkörper von Tattoos und dessen bleiches Gesicht von blondierten Haare bedeckt ist? Das frage ich mich spätestens, als Machine Gun Kelly dann direkt nach dem Film auf einmal vor mir steht und ein paar Autogramme gibt: mit besagtem Cardigan, besagten Tattoos darunter, Cocktail in der Hand und Joint im Mund.
Verlobt ist er mit Megan Fox (das entsprechende Verlobungsvideo verdient eine eigene Filmanalyse) und sie hat hier einen stummen, aber grandiosen Auftritt als Coles Ex-Frau: in echt frisch verliebt und hier schon wieder getrennt. Tatsächlich wirkt Taurus mehr wie eine dystopische Zukunftsvision denn wie eine Geschichte aus unserer Gegenwart. „Don’t you feel like we’re all in a movie“, ist jedenfalls so ein Satz, der in den meisten Filmen so richtig blöd klingen würde. Aber gerade weil Taurus auf das bildgewordene Leben hinauswill, ist er aus dem Mund von Colson Baker auf einmal, wann sagt man das schon noch, authentisch.
Die Zeitlupe auspacken

Was also tun gegen die unaufhaltsam voranschreitende (Abwärts-)Bewegung? Vielleicht den Prozess entschleunigen, die Zeit selbst unter die Lupe nehmen, dorthin zurück, wo auch die Bilder noch ein bisschen Zeit brauchen und die Abstraktionen noch nicht so real sind, aber es gerade werden: Das leistet Cyril Schäublins Unrueh mit seinem Blick auf einen Ort irgendwo im Schweizer Jura des Jahres 1877. Uhren werden hier hergestellt und überall gebraucht: um den Stundenlohn der Arbeiter auszuhandeln, den Profit der Fabrikbesitzer zu kalkulieren, Warentransporte zu organisieren, Infrastruktur aufzubauen, aber eben auch fürs Fotografieren, um die 20 Sekunden Belichtungszeit abmessen zu können, die sich in ein unbewegtes Abbild kondensieren.
Die Bilder sind viel zu langsam, Zeit erstarrt in ihnen zum genau umgrenzten Raum und wird dabei zum universellen Maß einer Gesellschaft und ihrer Machtformen. Gemeinde, Kirche und Fabrik liegen hier alle noch in verschiedenen Zeitzonen, aber brauchen eben die Abstraktion. Schäublin erzählt davon, wie diese Herrschaft in aller Ruhe und mit amtlicher Höflichkeit aufgebaut wird: wie Arbeitsprozesse gemessen und dadurch optimiert und Arbeiter*innen diszipliniert werden, weil man ihnen jetzt eine Stunde zur Strafe abziehen kann. Diese Macht ist total: Schäublins Kino kann sich da nicht ausnehmen, wird davon genauso beherrscht, stülpt keine konträre Form darüber, teilt stattdessen zwischen Totalen und Nahaufnahmen auf, ordnet alles exakt darin an. Auch die Erzählbewegung des Films wird auf ein Minimum an Tempo gestellt und gewinnt genau dadurch ihre entlarvende Entrücktheit.
So etwas wie eine Hauptfigur könnte darin noch die Proletarierin Josephine (Clara Gostynski) sein, die den sozialistischen Anarchisten Kropotkin (Alexei Evstratov) kennenlernt und den Anschluss an die internationale Arbeiterbewegung findet. Schäublin begeistert sich für ihre Arbeit, feiert ihr minutiöses Handwerk des Uhrenbaus, macht die kleinsten Arbeitsschritte mit strahlenden Detailaufnahmen zum Allergrößten. Aber das ist hier nicht einfach nur schöne Hommage. Schäublin schenkt uns letztlich ein Bild der Hoffnung. Egal wie fremd die Herrschaft dem Menschen entgegentritt, egal wie weit sie von ihm abstrahiert: Noch immer ist er es, der sie produziert. Denn mittendrin in der eng verzahnten Mechanik des gleichförmigen Lebens ist etwas verbaut, das sich Unruh nennt.
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