Die Zauberhände des Kinos - Nitrate Picture Show

Die überraschende Fragilität eines frühen Sirk-Melodram, die in den Screentests zu Vom Winde verweht aufscheinende Verletzlichkeit, das Leuchten auf dem Gesicht eines todgeweihten Soldaten – ist das die Macht des Nitrats? Eindrücke aus dem George Eastman House in Rochester.

Meinen persönlichen nitrate moment erlebe ich im Finale des britischen Zweiter-Weltkrieg-Dokudramas Western Approaches (1944), die Reinszenierung (und vermutlich schon auch: Fiktionalisierung) eines Gefechts zwischen einem britischen Kriegsschiff und einem nazideutschen U-Boot im Atlantik. Es ist den Briten gelungen, die Deutschen in eine Falle zu locken, aber bevor es selbst auf den Grund des Ozeans sinkt, feuert das U-Boot doch noch ein paar Schüsse auf den Feind ab. Ein Treffer zieht einen britischen Soldaten, der auf Deck beschäftigt ist, in Mitleidenschaft. Der Mann – den wir, wie alle anderen Figuren, in erster Linie nicht als psychologisch ausdifferenziertes Individuum, sondern als Funktionsträger kennenlernen, weshalb wir mit seinem Schicksal umso mehr mitleiden; weil in seinem Tod die Abstraktion des Krieges mit einem Mal, schockartig, einen Körper erhält – sinkt zu Boden. Es folgt eine Großaufnahme des Todgeweihten, in der sich ein helles Leuchten über sein Gesicht legt.

Der leuchtende Unterschied

Dieses Leuchten hat es mir angetan. Auch weil ich schon bei der bloßen Benennung zögere: ein Leuchten oder doch eher ein Schimmern? Eine Illumination jedenfalls, die gleichzeitig von außen und von innen zu kommen scheint und zwischen Weiß- und Gelbtönen oszilliert. Eine Totenmaske, aber auch ein Heiligenschein, Entlebendigung, aber auch Transzendenz. Ist das die Macht des Nitrats, wundere ich mich, und ein paar Tage nach dem Ende der Nitrate Picture Show – einem historischen Festival, das vom George Eastman House in Rochester veranstaltet wird und sich nitratbasierten analogen Filmkopien widmet – möchte ich die Frage mithilfe einer DVD-Fassung desselben Films beantworten. Tatsächlich ist das Leuchten auch auf dem digitalen Bild sichtbar. Aber ist es dasselbe Leuchten? Ich habe meine Zweifel. Das Licht, das sich über das Gesicht des sterbenden Soldaten legt und offensichtlich Resultat einer bewussten künstlerischen Entscheidung ist, ist härter, heller als das Licht in meiner Erinnerung. Der Aspekt der Innerlichkeit, des Schimmerns, der Transzendenz scheint weitgehend getilgt, was bleibt ist die – gleichwohl nach wie vor affektiv nachvollziehbare – Vorwegnahme des Todes.

Letztlich muss ich es beim Zweifeln bewenden lassen; beziehungsweise ist der Zweifel letztlich das Medium der Macht des Nitrats. Nitratfilm diente bis in die 1950er Jahre dem Großteil der professionellen Kinoproduktion als materielle Basis. Aufgrund seiner leichten Entflammbarkeit (und der faktischen Unmöglichkeit, ein einmal entzündetes Nitratfeuer zu löschen) wurde es im Anschluss durch Azetat-, später durch Polyesterfilm ersetzt; deutlich stabilere Materialien, die in der Gegenwart wiederum vom digitalen Kino abgelöst worden sind, das seine Bilder flexibler, aber nicht unbedingt sicherer (und erst recht nicht kostengünstiger) speichert.

Die Nitrate Picture Show beschwört die Macht des Nitrats in Zeiten eines Medienwandels. Während analoger Film aus dem Alltagsbetrieb der Kinos längst komplett verschwunden ist, trifft man sich in Rochester nicht einfach nur, um noch einmal die geliebten, handfesten 35mm-Rollen aus den Archiven zu holen. Stattdessen werden, eben, die ganz alten Filmbüchsen ausgegraben, diejenigen, die in vielen Archiven wenn überhaupt nur noch unter Hochsicherheitsbedingungen gelagert werden dürfen. Diese haben jedoch, und auf dieser simplen Erkenntnis beruht die in den USA stetig wachsende Anziehungskraft der Nitrate Picture Show (Besucherrekord bei der diesjährigen Ausgabe), immer noch das Potenzial, sich im Akt der Projektion zu verlebendigen.

Zumindest solange das Nitratmaterial nicht bereits zu stark geschrumpft sind. Dieser Schrumpfungsprozess ist der größte Feind des Nitrats, und wie die meisten Verfallsprozesse, denen analoge (und auch, vermittels etwas anderer Mechanismen, digitale) Medien unterworfen sind, ist er grundsätzlich irreversibel. Soll heißen: Irgendwann wird schlichtweg kein Meter Nitratfilm mehr existieren, der sich in einen Projektor einspannen lässt. Es geht bei der Nitrate Picture Show also nicht nur um die Wiederbelebung einer historisch älteren Kulturpraxis; sondern auch darum, Bilder sichtbar zu halten, solange es eben noch geht.

Kino als performative Kunst

Doch was genau wird dabei sichtbar? Dass unterschiedliches Trägermaterial in unterschiedlichen Bildern resultiert, ist nur logisch. Ob man diesen Unterschied auch konsistent wahrnehmen kann, ist eine ganz andere Frage. Beantwortbar wäre sie höchstens durch intensive Vergleichsscreenings, und selbst die müssten sich kaum überwindbaren Problemen stellen. So wäre es keineswegs ausreichend, die Nitratkopie eines Films mit einer später gezogenen Azetatkopie desselben Films zu vergleichen. Die Kopien könnten unterschiedlichen Kopiengenerationen entstammen (also unterschiedlich oft, vom Kameranegativ aus betrachtet, zwischenkopiert worden sein), unterschiedlich oft durch Projektoren gelaufen sein, unterschiedlich gut gelagert worden sein und so weiter.

Außerdem ist Nitratmaterial nicht Nitratmaterial und Azetatmaterial nicht Azetatmaterial. Jede Produktlinie jedes einzelnen Herstellers hat ihre eigene Ästhetik. Wie letztlich jede einzelne Filmkopie. Einige Analogkinoextremisten ziehen aus diesem Grund gar die Bezeichnung „Kopie“ selbst in Zweifel. Für Paolo Cherchi Usai, den Gründer der Nitrate Picture Show (inzwischen hat Peter Bagrov übernommen, der ehemalige Chefkurator des russischen Gosfilmofond-Archivs), ist Kino letztlich eine performative Kunst – die technische Reproduzierbarkeit resultiert gerade nicht in einem fordistischen Fließband der Wahrnehmung, sondern in einem Bewusstsein für die Materialität von Technik. (In letzter Instanz gilt auch das noch für das digitale Kino.)

Nach meinen bisherigen Erfahrungen mit Nitratkopien würde ich sagen: Der Unterschied zu historisch jüngeren Trägermaterialien wird vor allem in Schwarz-Weiß-Filmen sichtbar, und zwar in Form einer intensivierten Schärfe und vor allem Plastizität, die den Nitratbildern gelegentlich fast eine Illusion der Dreidimensionalität verschafft. Nah- und Großaufnahmen von Texturen und Oberflächen, von Stoffen, Maserungen und ganz besonders von Haut ist eine Taktilität eigen, die ich aus keinem anderen Medium kenne.

Unheimliche Transparenz des Nitratbildes

Auf der diesjährigen Nitrate Picture Show begeisterte mich in dieser Hinsicht insbesondere eine Vintage-Kopie von Douglas Sirks Schlußakkord (1936), einem Film, in dem der Regisseur zum ersten Mal und mit dem Übermut eines Kindes, das ein neues, faszinierendes Spielzeug ausprobiert, aus dem Vollen der Klischees und Affektökonomien des Melodrams schöpft. Ich mochte den Film bisher nicht besonders und denke noch immer, dass sich Sirk den nationalsozialistischen Ideologemen seines Drehbuchs etwas arg willfährig ergibt; gleichzeitig entdecke ich in Rochester an dem Film eine Fragilität, die ich vorher nicht wahrgenommen hatte, das Handgemachte und Provisorische einer Vision von Spektakelkino, die noch nicht zum routinierten Hochglanz-Kulturindustrieprodukt geronnen ist.

Oder die Screentests für Vom Winde verweht (Gone with the Wind, 1939), die im Rahmen eines Kurzfilmprogramms zu sehen sind. Immer wieder dieselben Dialoge mit wechselnden Schauspieler:innen: Hat der Eindruck von Verletzlichkeit, der aus diesen bislang und nach dem Festival auch weiterhin im Archiv vergrabenen Abfallprodukten des Hollywoodbetriebs spricht, vielleicht ebenfalls etwas mit der unheimlichen Transparenz des Nitratbildes zu tun? Mein eigener vermeintlicher nitrate moment, das Leuchten des sterbenden Soldaten in Western Approaches, ist hingegen eher nicht auf Eigenschaften des Trägermaterials zurückzuführen, sondern dürfte einer komplexen Konstellation aus Technicolor-Farbverfahren, Beleuchtung und realer Drehsituation geschuldet sein. Ein paar Zitate des Kameramanns Jack Cardiff über den Dreh des Films zeigen auf, dass ein filmisches Bild stets als ein Austarieren verschiedener materieller Prozesse beschrieben werden kann.

Dieses Austarieren, da ist Usai komplett recht zu geben, findet seinen stets nur temporären Abschluss immer erst in der Projektion. Die wird auf der Nitrate Picture Show daher auch zelebriert wie nirgendwo sonst. Ganz selbstverständlich stellt das Programheft die Projektionist:innen fast so ausführlich vor wie die Filme. (Ob sie auch entsprechend gut bezahlt werden? Man kann es nur hoffen.) Zu dritt arbeiten sie jeweils in der Vorführkabine daran, den teils fast 100 Jahre alten Spuren eines vergangenen Bildbegehrens eine neue, in manchen Fällen vielleicht letzte, Präsenz zu schenken. Dass sich die Bilder des Kinos nicht von Zauberhand in Bewegung setzen, sondern durch das Ineinandergreifen einer langen Reihe arbeitsteilig organisierter und über die Kontingenz der Zeit-, Technik- und Institutionengeschichte miteinander verschalteter Zauberhände: Das kann man derzeit vielleicht nirgendwo so intensiv erfahren wie in Rochester, während der vier Tage der nach einer zweijährigen Covid-Pause hoffentlich nun wieder im Jahresrhythmus stattfindenden Nitrate Picture Show.

Anders ausgedrückt: Die gesteigerte Aufmerksamkeit für die Materialität von Film ist es eher als die bloße Präsenz dieses einen, wenngleich durchaus spektakulären, Trägermaterials, die die Nitrate Picture Show zu einem Filmfestival ohnegleichen macht; vielleicht gar zu einem der wenigen, die die Bezeichnung Filmfestival überhaupt verdienen. Die meisten anderen wären als AV-Medien-Gemischtwarenläden besser beschrieben.

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