Die Sache mit der Authentizität: Zur Inszenierung im Dokumentarfilm

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Kommentare zu „Die Sache mit der Authentizität: Zur Inszenierung im Dokumentarfilm“


Marvin Yag

Je länger ich darüber nachdenke desto wütender macht mich die Reaktion der Filmwelt und des NDRs, die sich als unschuldige Opfer darstellen und nicht das Verhalten von Frau Lehrenkrauss, das natürlich verachtenswert ist, aber mit ihrer individuellen Persönlichkeit erklärt werden kann. Genau wie der Beltracchi-Fall mehr über die Kunstwelt offenlegt, als über die banalen Motive des Künstlers...
Nur sind Beltracchis Bilder geniale Fälschungen, Lehrenkraussfilm hingegen offenkundig nicht: die Inszenierung im Film schreit einen förmlich an, erfüllt jede Tickboxen, bestätigt jedes Vorurteil, keine Widersprüche, Reibungen etc. Mit seinem vor Zeitgeist triefenden Inhalt scheint der Film der "feuchte Traum" eines jeden Redakteurs und Festivals zu sein, die in Ihrem Rausch ihre eigenen Vorstellungen von fremden Lebensrealitäten bestätigt sehen zu können, jegliches Maß und Intuition für die Falschheit der gezeigten Realität zu verlieren scheinen (man denke an den fassungslosen Redakteur in der Reportage). Das Zuschauer ihre Zweifel beiseite legen, weil sie der Fachwelt vertrauen einen Dokumentarfilm entsprechend beurteilen und einordnen zu können ist nachvollziehend. Aber das die Fachwelt, diese wirklich auch einfach schlechte Inszenierung von Realität an allen "Kontrollpunkten" durchgewunken hat, sagt leider mehr über die Branche aus, als über die Regisseurin. Wenn Dokumentarfilm nichtmehr die Widersprüche und Komplexität von Realität eforschen, sondern nurnoch unsere Vorstellungen von ihr bestätigen will, haben wir alle verloren. Es ist die Aufgabe von Redakteuren und Sendern ersteres zu beschützen und ihr Versagen der eigentliche Skandal.
Gerade in den letzten Jahren und durch jüngere Generationen von Redakteuren werden Erwartungen an den Dokumentarfilm und die darin gezeigte Realität gestellt, welche immer schlüssigere Dramaturgie, glattere Ästhetik und spektakuläre Inhalte über ein aufrichtiges Interesse an Authentizität und Reibung stellt. Die Arbeit von Regissereur*innen die sich letzterem verschreiben, deren Film vll subtilere, weniger plakative, aber auf den zweiten Blick so viel wichtigere und aufrichtigere Erkenntnisse über Realität und Menschen zeigen, werden von dieser Tendenz zunehmend marginalisiert oder müssen sich anpassen. Da droht dem deutschen Dokumentarfilm, was dem deutschen Spielfilm im internationalen Vergleich schon längst passiert ist. (Lovemobil erinnert eben auch mehr an einen normalen schlechten deutschen Spielfilm). Ich will keine ganze Branche etc. über einen Kamm ziehen, sondern auf eine Tendenz hinweißen, gerne auch ein bisschen polemisch. Es ist kein Zufall, dass so ein Film "durchgerutscht" ist, weil die Erwartungen und Vorstellungen an einen Dokumentarfilm sich dieser glatten künstlichen Realität eben so weit angenähert hat das es zu Verwechslungen kommen kann. Es war ehrlich gesagt nur eine Frage der Zeit - und Frau Lehrenkrauss auch ein Produkt dieser Zeit.
Dieser Fall sollte als Hilfreschrei des Zustands und Systems des deutschen Dokumentarfilms betrachtet werden und ich hoffe das geht bei dem ganzen Echauffieren über die Regiesseurin nicht unter.


IJ.Biermann

Ungeachtet dessen, wofür man Elke Lehrenkrauss kritisieren kann, finde ich es ja, ehrlich gesagt, journalistisch schon ein wenig unlauter, wie ihr Zitat, das hier markant an den Textanfang gestellt wurde, regelmäßig verkürzt wiedergegeben wird, was es eindeutig verzerrt darstellt.
In dem STRG_F-Beitrag sagt sie eindeutig: "Diese Realität, die ich in dem Film geschaffen habe, ist eine viel authentischere Realität, als ich sie mit Direct Cinema hätte herstellen können."
Der Punkt ist: Sie sagt *nicht*, dass die Realität im Film viel authentischer sei als die "echte Realität", sondern dass die Realität, die sie in ihrem Film zeigt, "viel authentischer" sei, als eine, die sie mit den Mitteln des "Direct Cinema" herstellen hätte können. Damit sagt sie etwas über ihre Haltung und Arbeitsweise (evtl. auch über ihre Unzulänglichkeiten mit oder ihre Ablehnung von Direct Cinema) aus, aber nichts über die Realität an sich. Ich finde es schon etwas ärgerlich, dass das in den letzten Tagen so oft falsch wiedergegeben wurde.


IJ.Biermann

...will sagen: Man kann über die Aussage durchaus diskutieren – gerne auch mit der Regisseurin selbst (als Interviewer bzw. Gesprächspartner hätte ich an der Stelle nachgefragt, hätte wissen wollen, warum sie meint, dass sie das nicht konnte - oder nicht wollte - ob es Unvermögen, Ablehnung, andere Idee von Direct Cinema etc war), aber dazu sollte man das Zitat doch auch mal richtig wiedergeben.


Maurice

@IJ Biermann: Danke für den Hinweis, wir haben das Zitat ergänzt. Allerdings scheint mir der Bedeutungsunterschied marginal zu sein: Mit dem Satz begründet die Regisseurin im einen wie im anderen Fall, warum sie sich „nicht vorwerfen kann, die Realität gefälscht zu haben“ – den Bezug zu „der Realität“ stellt sie also so oder so selbst her. Dass sie damit lediglich etwas über ihre Haltung und Arbeitsweise sagt, scheint mir eine sehr wohlwollende Interpretation.


Felix

Also was mich an diesem Text und eigentlich bei fast allen Beiträgen zu diesem Film schon erstaunt: Es gibt selbst in Filmmacher- und filmbesprechenden Kreisen eigentlich kaum ein Verständnis für den Unterschied zwischen einem (Kino-)Dokumentarfilm und einer (Fernseh-)Dokumentation/"Doku". Da werden einfach wild die Begriffe durcheinander geworfen als wäre und wollte alles das Gleiche. Dem ist allerdings nicht so.
Ein großes Trauerspiel des Genres Dokumentarfilm ist leider, dass es so in der Form gar nicht existiert, weil kaum einer seine Existenz im engeren Wortsinn anerkennt. Das Interpretieren, das subjektive Sehen ist für den 'Dokumentarfilm' ein zentraler Bestandteil seiner Existenzberechtigung. Das verwischen der Linien zwischen diesem berechtigten Anliegen und, man kann es nicht anders sagen, der Polemik, es gehe dabei um die "Ästhetisierung", also um irgendeine Art "messbaren" Werts von "Güte" (Stichwort: Sportvergleich), schadet auch hier wieder viel mehr als es nützt, weil es nicht das Verständnis für eine Filmart oder ein Anliegen stärkt, sondern höchstens eine gute Ausgangslage für wütendes Meinungsaustauschen darstellt.
Das zemetiert leider die Vorstellung, ein Dokumentarfilm habe fernsehjournalistische Kriterien zu befolgen - der Fernsehjournalismus ist aber eine andere Gattung und bedient ein anderes Medium. Nur weil es überschneidungen in der Werkzeugkiste der "Doku" und des Dokumentarfilmes gibt (und natürlich Mischformen), rechtfertigt das noch lange keine Gleichsetzung. Die Gleichsetzung wird natürlich auch dadurch gefestigt, dass es in Deutschland de facto keinen anderen ernstzunehmenden Finanzier dokumentarischer Inhalte neben den öffentlich-rechtlichen 'Fernseh'-Sendern gibt.
Wenn also irgendein systematisch bedingter Fehler zu vorschnellen Urteilen führt, dann ist es weniger der "Druck zu liefern", als vielmehr auch das sträfliche Vernachlässigen einer filmgeschichtlich außerordentlich relevanten Filmart.

Ich konnte den Film leider nicht rechtzeitig sehen, weder auf Festivals, noch in der Mediathek bevor er dort zurückgezogen wurde. Von daher kritisiere ich hier lediglich die mediale Diskussion, die ich verfolge. Zum Film selber kann ich wirklich nichts sagen, solange ich ihn nicht gesehen habe.


IJ.Biermann

@Maurice:
Danke für die Rückmeldung. Ja, als "wohlwollend" würde ich meine Auslegung auch bezeichnen.
Der Unterschied mag vielleicht marginal sein (zumal ich nicht meine, dass sie "lediglich" etwas über ihre Haltung und Arbeitsweise sagt, aber zu vernachlässigen finde ich es wiederum auch nicht), aber ich meine auch, dass – wie gesagt, bei aller Kritik, die man ihr machen kann – wir ihr gegenüber diese erstmal positive Einstellung durchaus haben sollten – eben weil diese Mittel für Dokumentarfilme, wie derzeit viele Beitrag zum Thema ja auch darlegen, keineswegs per se verwerflich sind und für jede Regieperson eine bewusste Entscheidung bedeuten*. Die einen bevorzugen die Methoden von Frederik Wiseman, andere die Methoden von Stanislaw Mucha; Dunja Bialas' Text finde ich hierzu ganz wertvoll: https://www.artechock.de/film/text/artikel/2021/03_25_lovemobil_documentaries_are_lies_bialas.html

[*dass E.L. da einiges bewusst unterschlagen hat und das Missverständlich lange unaufgeklärt gelassen hat, ist selbstredend nicht so erfreulich; das bestreite ich nicht.]


IJ.Biermann

@ Felix:

Danke für diesen engagierten Beitrag. Dieselbe Mühe im Erläutern der Unterschiede von "Doku" und Dokumentarfilm mache auch mir seit langer Zeit stetig. Selbst im Kulturjournalismus (Deutschlandfunk, "Corso" usw.) und in zahlreichen journalistischen Textbeiträgen, aber auch in Gruppen wie "Filmemacher" bei Facebook etc. werfen viele Leute das durcheinander – und ich denke, damit geht in der Tat auch eine gewisse Geringschätzung (oder wenigstens ein Missverständnis) unserer Arbeit als Dokumentarfilmemacher einher.
Ein wenig (wenn auch deutlich einschneidender) ist das wie mit dem Begriff „O-Ton“, mit dem Fernseh- dun Radioleute Interviewaufnahmen meinen, wogegen Ton- und Filmprofessionelle mit „O-Ton“ den am Motiv aufgenommenen Originalton der Szene bezeichnen.


Marc Bertram

Im Artikel wird die These aufgestellt, dass "Lovemobil" im Gegensatz zu den Reportagen von Relotius keine klare erzählerischen Zielsetzung hat. Ich bin der Meinung, dass der Film eine eindeutige erzählerische Zielsetzung hat, nämlich den weißen heterosexuellen Mann (Freier und Zuhälter) als schmieriges, perverses, rassistisches und Morde begehendes Monster darzustellen. Die Regisseurin forderte den Darsteller des Zuhälters sogar ausdrücklich dazu auf, die schwarze Prostituierte rassistisch herabzuwürdigen und einen Mord zu erfinden (Quelle: Aussage der Cutterin bei Strg_F). Meine Vermutung ist, dass gerade dieses eindeutige und ausdrücklich erwünschte Narrativ dazu geführt hat, dass der Film so großen Anklang gefunden hat und nicht kritisch hinterfragt wurde.






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