Die Sache mit der Authentizität: Zur Inszenierung im Dokumentarfilm

Die Regisseurin Elke Lehrenkrauss ist mit Lovemobil Täterin und Opfer eines Systems, das sie nicht erfunden hat, aber gefällig bedient. Warum sich der Vergleich mit Claas Relotius trotzdem verbietet und der Fall exemplarisch für eine Tendenz des zeitgenössischen Dokumentarfilms ist.

Ich kann mir auf jeden Fall nicht vorwerfen, eine Realität verfälscht zu haben. Weil, diese Realität, die ich in dem Film geschaffen habe, ist eine viel authentischere Realität, als dass ich sie mit Direct Cinema hätte herstellen können.“
Elke Margarete Lehrenkrauss in einem Interview des NDR-Reportageformats STRG_F zur Begründung der Inszenierungen in ihrem Film Lovemobil.*

Allein der Filmtitel Lovemobil will schon so viel mehr, als eine Dokumentation über Sexarbeit in Wohnmobilen am Rande einer Landstraße zu benennen. Was dann folgt, ist Szene für Szene eine hoch ästhetisierte und arrangierte Narration in einem Milieu, in dem niemand einfach ohne Wenn und Aber drehen darf. Der Schritt, die handelnden Personen in diesem Film mit „Stellvertretern“ aus dem Milieu zu besetzen, ist vom dramaturgischen und ästhetischen Ergebnis her gedacht konsequent, führt aktuell jedoch zu einer allgemeinen Überraschung und zum Entsetzen in der Branche und beim Publikum. Die Regisseurin Elke Margarete Lehrenkrauss hat die ungeschriebenen Gesetze des dokumentarischen Arbeitens gravierend gebrochen, und niemand als sie wird mehr bereuen, die Methoden der Herstellung dieses Films nicht offengelegt und gekennzeichnet zu haben. Sie hat sich auf diese Weise um den Lohn ihrer filmischen Arbeit gebracht, ist über Nacht vom Paulus zum Saulus geworden. Ob ihr Film wirklich ein „realistisches“ Bild von dem Milieu zeichnet, von dem er erzählt, oder es sich um eher fahrlässigen Voyeurismus handelt, soll hier nicht Thema sein. Nachfolgend geht es um die Frage, warum sich der Dokumentarfilm großteils in eine Richtung entwickelt hat, die diese Form der „Gestaltung“ von Realität nicht nur zulässt, sondern in der Regel sogar belohnt.

Zu wahr, um schön zu sein?

„Authentizität“ ist ein geduldiger und geschmeidiger, aber wenig präziser Begriff, wenn es darum geht, über die mediale Repräsentation – ja, von was eigentlich? – zu sprechen: Realität, Wirklichkeit, Wahrhaftigkeit, Wahrheit. Genau hier liegt das Dilemma. Es existiert keine Welt ohne ein ihr gegenüberstehendes Subjekt, das diese sinnlich wahrnimmt und interpretiert. Das gilt für die Macherin eines Dokumentarfilms gleichermaßen wie für ihr Publikum. Was in den Medien, und im Besonderen in Dokumentarfilmen, Wirklichkeit konstituiert, ist in der Medienwissenschaft seit Langem hart umkämpftes Terrain. Über die Definition des Verständnisses von Wahrheit streitet sich die Philosophie schon seit mehr als zweitausend Jahren. In unserer durch und durch medialisierten Gesellschaft dürfen wir uns fragen, ob die Realität die Vorlage für die mediale Verarbeitung darstellt oder ob es mittlerweile nicht vielmehr umgekehrt ist. Der Dokumentarfilm steht dabei nicht außerhalb der allgemeinen Entwicklung der Medienökonomie – ganz im Gegenteil, er ist möglicherweise ein zentraler Aspekt und darum vor der Versuchung am wenigsten gefeit.

Die Überlegung, die sich in diesem Fall aufdrängt: Ist nicht allein der Versuch, in diesem Milieu, das aus guten Gründen das Licht der großen Öffentlichkeit scheut, filmische Bilder finden zu wollen, naiv und auch falsch? Ja, aber trotzdem verbietet sich der mittlerweile mehrfach zitierte Vergleich zum Journalisten Claas Relotius. Dieser hatte seine Reportagen mit einer klaren erzählerischen Zielsetzung am Reißbrett geplant und gestaltet. Elke Lehrenkrauss dagegen musste feststellen, dass nach drei Jahren Arbeit und jeder Menge intensiver Rechercheerlebnisse die tatsächlichen Situationen eben nicht mit der Kamera umsetzbar waren. An diesem Punkt gibt es zwei Möglichkeiten: den Film sein lassen oder die Flucht nach vorne antreten. Keine leichte Entscheidung nach der umfangreichen Vorarbeit. Dass sie ihren in vielerlei Hinsicht nachvollziehbaren Entschluss, die Szenen nachzustellen, mit der verantwortlichen Redaktion besprechen muss, versteht sich von selbst. Dass aber gerade das nicht passiert ist und erst jetzt auffliegt, steht wiederum exemplarisch für eine Tendenz des zeitgenössischen dokumentarischen Arbeitens.

Wie soll das gehen, ein Dokumentarfilm im Rotlichtmilieu?

Das Dilemma beginnt schon beim Wording: Was sich hinter dem Etikett „Dokumentarfilm“, auch gerne allgemein und oft „Doku“ genannt, verbirgt, hält nur in ganz seltenen Fällen, was der Name verspricht. Es ist eine Binsenweisheit, dass die Anwesenheit einer Kamera jede vorfilmische Realität beeinflusst, die Auswahl und Montage die Dramaturgie gestalten. Wenn dann auch noch der Sound bearbeitet wird und Musik dazukommt, ist es mit dem „Dokument“, das wir erwarten, nicht mehr weit her. Was wir sehen, ist der subjektive Blick einer Autorin oder eines Autors auf die Welt. Das dokumentarische Arbeiten lässt sich in Bezug auf die konkrete Arbeit mit der Kamera und ihre Wechselbeziehung mit den Protagonistinnen und Protagonisten von jeher in drei Kategorien einteilen: die Improvisation, das Arrangement und die Inszenierung. Bei der Improvisation wird keinerlei Einfluss auf die Ereignisse und Abläufe vor der Kamera genommen. Das Arrangement beinhaltet Verabredungen verschiedenster Art über Ort, Zeit und Inhalt einer Szene. Die Inszenierung schließt darüber hinaus den direkten Einfluss der Regie auf die Ereignisse ein.

Die wenigsten Dokumentarfilme kommen durch reines Improvisieren zu ihrem Material. Die Inszenierung ist an sich verpönt, bringt durch Autoren wie Ulrich Seidl allerdings immer wieder viel beachtete und populäre Ergebnisse hervor. Mit dem Arrangement wiederum arbeiten die allermeisten Dokumentarfilme, ohne dass dies kenntlich wird oder das Publikum es hinterfragt. Allerdings gibt es Sujets, bei denen sich der Dokumentarfilm per se unwohl fühlt. So drückt er sich seit jeher um das, was ein essenzieller Nährstoff des fiktionalen Films ist: die Liebe und alles, was dazugehört. Fiktional hat dieses Kernthema zahllose Subgenres hervorgebracht, vom Liebesdrama bis zur Romantic Comedy. Doch ob tragisch oder komisch, im Mittelpunkt steht immer eine der intimsten und heikelsten menschlichen Erfahrungen überhaupt. Ein Dokumentarfilm, der von diesem Sujet erzählt, macht sich möglicherweise verdächtig, in der Frage der Dramaturgie wie in der Frage der Herstellung seines szenischen Materials. Aus genau diesem Grund müssen Dokumentarfilme oft ohne szenisches Material mit agierenden Menschen auskommen und arbeiten mit einer Erzählebene, die der Spielfilm nicht kennt, dem Interview.

Von der Exposépoesie zur Juryprosa

Klaus Wildenhahn, der Gründer und überzeugende Verfechter des rein improvisierenden „Direct Cinema“ in Deutschland, war bis Anfang der 1990er Jahre selbst Redakteur beim NDR und musste deshalb für die Idee zu seinem nächsten Film niemanden überzeugen. Seine Methode des dokumentarischen Arbeitens: interessante Menschen mit einem zentralen Konflikt finden und dann abwarten, was passiert – ins Offene arbeiten. Dafür erhielt er regelmäßig 60 Rollen unbelichtetes 16mm-Filmmaterial und konnte einfach anfangen zu drehen.

Nach heutigen Spielregeln ist es undenkbar, unter diesen Maßgaben die Freigabe der Mittel für einen Film zu erhalten. In der Branche redet man jetzt über die Protagonistinnen und Protagonisten eines Dokumentarfilms genau wie von der Besetzung eines Spielfilms. Man spricht von Helden, Antagonisten, Sidekicks und Bodys. Die Protagonist*innen werden für den Film „gecastet“, das heißt auf ihre Tauglichkeit für die Arbeit mit der Kamera geprüft. Denn: Was nützt mir die interessanteste Person, wenn sie vor der Kamera nicht „rüberkommt“? Es gibt den sogenannten Recherchedreh, der mittlerweile von Redaktionen und Förderern als Entscheidungsgrundlage mehr oder weniger vorausgesetzt wird. Darüber hinaus muss für die Anträge seitenweise Papier produziert werden, das bekanntermaßen geduldig ist. In diesen Exposés werden die Erwartungen an die Dramaturgie, am besten mit klassischer Heldenreise, die Ästhetik und natürlich der Unique Selling Point für diesen Film wortgewandt formuliert. Der ganze Bereich der Projektentwicklung und -vermarktung hat mittlerweile einen unverhältnismäßig hohen Stellenwert bekommen – eine Entwicklung, für die sich nicht leicht ein Schuldiger ausmachen lässt. Hier ein Preis auf einem Festival mit der entsprechenden Jurybegründung, dort mehr Geld für intimere und spektakulärere Sujets mit einer immer ästhetischeren Kamera- und Tonarbeit.

Elke Lehrenkrauss ist mit ihrem Film Lovemobil Täterin und Opfer eines Systems, das sie nicht erfunden hat, aber gefällig bedient, eines Systems, in dem das Mediale immer schneller, höher, weiter hinauswill und damit gut ankommt beim Publikum (und sich auch selber feiert). Wer aber mag schon gern hinter den hochgesteckten Erwartungen zurückbleiben? Die Regisseurin hat nach eigenen Angaben dabei den Moment verpasst, sich und ihrem verantwortlichen Umfeld das Scheitern an der „dokumentarischen Darstellbarkeit“ ihres Sujets einzugestehen. In diesem Kontext spielt auch das Thema Geld eine entscheidende Rolle. Die Angst vor dem Versagen an den eigenen Ansprüchen folgt bei der Arbeit auch immer ökonomischen Zwängen. Ohne in die Details zu gehen, lässt sich sagen, dass der Film von Elke Lehrenkrauss im Verhältnis zum Aufwand, der betrieben wurde, gravierend unterfinanziert war. Das ist ein notorischer Zustand in der deutschen Dokumentarfilmbranche und wird gerne mit der Leidenschaft der Autorinnen und Autoren für ihr Genre gerechtfertigt.

Die Inszenierung, das Doping für den Dokumentarfilm?

Aus meiner eigenen Geschichte als Leistungssportler drängt sich mir ein unlauterer Vergleich auf: Das Publikum, die Journalistinnen und Journalisten und natürlich die beteiligte Branche waren begeistert von den Erfolgen Jan Ullrichs, des ersten und einzigen Siegers der Tour de France aus Deutschland. Seine Erfolge feierte Ullrich in einer Sportart, in der offenkundig seit jeher jenseits des Regelkonformen die Leistung manipuliert wurde. Wie begründet sich dann aber der Mechanismus, dass am Ende, wenn die Seifenblase platzt, immer nur der gedopte Athlet den Schaden tragen muss und alle anderen aus dem System und aufseiten des Publikums sich einfach nur im großen Stil öffentlich entsetzt zeigen dürfen?

In einem neuralgischen Punkt unterscheidet sich der Fall: Jan Ullrich hätte zu keiner Zeit frei heraus zugeben können, gedopt zu sein. Er wäre mit sofortiger Wirkung aus dem System verstoßen worden. Die Inszenierung im Dokumentarfilm hat zwar möglichweise eine ähnlich toxische Wirkung wie das Doping im Sport, weil sie die „Leistungsspirale“ immer höherschraubt. Elke Lehrenkrauss dagegen hätte ihre Mittel offenlegen können, ohne solch drastische Sanktionen befürchten zu müssen. Sie hätte dann sicher nicht den Deutschen Dokumentarfilmpreis gewonnen, aber trotzdem eine respektable filmische Leistung hingelegt. Wie eingangs gesagt: Ob Lovemobil ein guter Film ist, muss an anderer Stelle von den Menschen aus dem beschriebenen Milieu, der Filmkritik und dem Publikum beurteilt werden. Die zentrale und drängende Frage an dieser Stelle ist: Wie kommen wir aus dieser Sackgasse wieder heraus? Wie wird es der Branche in Zukunft wieder möglich sein, den Mut und die Mittel für mehr offene und fragile Filme aufzubringen, Filme, die möglicherweise sogar an ihrem Sujet scheitern dürfen, wenn dieses zu ambitioniert ist? Und wie erreichen wir das Publikum mit diesen Filmen in dem überbordenden Angebot an leichter zugänglichen medialen Erzählungen?

Fakten, Fakten, Fakten? Eine Anekdote in eigener Sache

Es ist nicht verwunderlich, dass der erste Beitrag zur Aufklärung der Hintergründe aus dem Sender kommt, der auch für den Film Lovemobil verantwortlich zeichnet. Jedoch der Duktus irritiert – wie bei der Aufdeckung des Falls Relotius, bei dem der „Spiegel“ als Erstes einen offensiven Aufklärungsartikel veröffentlichte, in dem mit allen Fingern nur in die Richtung des Autors gezeigt wurde. Fakten, Fakten, Fakten, die prominente Forderung von „Focus“-Gründer Helmut Markwort ist selbst für den Journalismus nicht das Papier wert, auf dem sie steht, ignoriert sie doch geflissentlich die Bindemittel zwischen den Fakten: die Sprache, ohne die sich Fakten nicht vermitteln lassen, den Tonfall sowie die vor allem immer auch subjektive Interpretation der Fakten. Dieses Bindemittel gerät allzu leicht zum Schmiermittel für die eigene Meinung und Haltung. Eine Tendenz, der sich auch das ambitionierte Team der NDR-Redaktion von STRG_F nicht entziehen kann. So beginnt der Beitrag über den „Fall Lovemobil“, in der ersten Einstellung im On, mit den Worten der Redakteurin: „Es gibt da einen Dokumentarfilm, der hat zuletzt alle Preise abgeräumt.“ Die an dieser Stelle berechtigte Frage: Wie kommt es zu der Aussage „alle Preise“? Und: Warum ist die gesamte Exposition mit einer stimmungsgeladenen Musik unterlegt? Dient das der Wahrheitsfindung?

* Das Eingangszitat von Elke Lehrenkrauss wurde am 30.3.2021 ohne den letzten Teilsatz "als dass ich sie mit Direct Cinema hätte herstellen können" veröffentlicht und am 31.3.2021 ergänzt (die Red.).

Anmerkung: Daniel Sponsel ist ausgebildeter Regisseur und Kameramann für Dokumentarfilme, hat filmwissenschaftliche Veröffentlichungen herausgegeben und unterrichtet Dokumentarfilmdramaturgie an verschiedenen Filmhochschulen. Seit 2010 ist er Leiter des DOK.fest München und aktuell Mitglied im Vorstand der AG DOK. Der Film Lovemobil hatte auf dem 34. DOK.fest München seine Weltpremiere. Grundlage für diesen Beitrag bilden eigene filmtheoretische Arbeiten, Telefonate mit Elke Lehrenkrauss, Timo Großpietsch, Redakteur des NDR und ein Interview mit der NDR-Redaktion von STRG_F.

Neue Kritiken

Kommentare zu „Die Sache mit der Authentizität: Zur Inszenierung im Dokumentarfilm“


Marvin Yag

Je länger ich darüber nachdenke desto wütender macht mich die Reaktion der Filmwelt und des NDRs, die sich als unschuldige Opfer darstellen und nicht das Verhalten von Frau Lehrenkrauss, das natürlich verachtenswert ist, aber mit ihrer individuellen Persönlichkeit erklärt werden kann. Genau wie der Beltracchi-Fall mehr über die Kunstwelt offenlegt, als über die banalen Motive des Künstlers...
Nur sind Beltracchis Bilder geniale Fälschungen, Lehrenkraussfilm hingegen offenkundig nicht: die Inszenierung im Film schreit einen förmlich an, erfüllt jede Tickboxen, bestätigt jedes Vorurteil, keine Widersprüche, Reibungen etc. Mit seinem vor Zeitgeist triefenden Inhalt scheint der Film der "feuchte Traum" eines jeden Redakteurs und Festivals zu sein, die in Ihrem Rausch ihre eigenen Vorstellungen von fremden Lebensrealitäten bestätigt sehen zu können, jegliches Maß und Intuition für die Falschheit der gezeigten Realität zu verlieren scheinen (man denke an den fassungslosen Redakteur in der Reportage). Das Zuschauer ihre Zweifel beiseite legen, weil sie der Fachwelt vertrauen einen Dokumentarfilm entsprechend beurteilen und einordnen zu können ist nachvollziehend. Aber das die Fachwelt, diese wirklich auch einfach schlechte Inszenierung von Realität an allen "Kontrollpunkten" durchgewunken hat, sagt leider mehr über die Branche aus, als über die Regisseurin. Wenn Dokumentarfilm nichtmehr die Widersprüche und Komplexität von Realität eforschen, sondern nurnoch unsere Vorstellungen von ihr bestätigen will, haben wir alle verloren. Es ist die Aufgabe von Redakteuren und Sendern ersteres zu beschützen und ihr Versagen der eigentliche Skandal.
Gerade in den letzten Jahren und durch jüngere Generationen von Redakteuren werden Erwartungen an den Dokumentarfilm und die darin gezeigte Realität gestellt, welche immer schlüssigere Dramaturgie, glattere Ästhetik und spektakuläre Inhalte über ein aufrichtiges Interesse an Authentizität und Reibung stellt. Die Arbeit von Regissereur*innen die sich letzterem verschreiben, deren Film vll subtilere, weniger plakative, aber auf den zweiten Blick so viel wichtigere und aufrichtigere Erkenntnisse über Realität und Menschen zeigen, werden von dieser Tendenz zunehmend marginalisiert oder müssen sich anpassen. Da droht dem deutschen Dokumentarfilm, was dem deutschen Spielfilm im internationalen Vergleich schon längst passiert ist. (Lovemobil erinnert eben auch mehr an einen normalen schlechten deutschen Spielfilm). Ich will keine ganze Branche etc. über einen Kamm ziehen, sondern auf eine Tendenz hinweißen, gerne auch ein bisschen polemisch. Es ist kein Zufall, dass so ein Film "durchgerutscht" ist, weil die Erwartungen und Vorstellungen an einen Dokumentarfilm sich dieser glatten künstlichen Realität eben so weit angenähert hat das es zu Verwechslungen kommen kann. Es war ehrlich gesagt nur eine Frage der Zeit - und Frau Lehrenkrauss auch ein Produkt dieser Zeit.
Dieser Fall sollte als Hilfreschrei des Zustands und Systems des deutschen Dokumentarfilms betrachtet werden und ich hoffe das geht bei dem ganzen Echauffieren über die Regiesseurin nicht unter.


IJ.Biermann

Ungeachtet dessen, wofür man Elke Lehrenkrauss kritisieren kann, finde ich es ja, ehrlich gesagt, journalistisch schon ein wenig unlauter, wie ihr Zitat, das hier markant an den Textanfang gestellt wurde, regelmäßig verkürzt wiedergegeben wird, was es eindeutig verzerrt darstellt.
In dem STRG_F-Beitrag sagt sie eindeutig: "Diese Realität, die ich in dem Film geschaffen habe, ist eine viel authentischere Realität, als ich sie mit Direct Cinema hätte herstellen können."
Der Punkt ist: Sie sagt *nicht*, dass die Realität im Film viel authentischer sei als die "echte Realität", sondern dass die Realität, die sie in ihrem Film zeigt, "viel authentischer" sei, als eine, die sie mit den Mitteln des "Direct Cinema" herstellen hätte können. Damit sagt sie etwas über ihre Haltung und Arbeitsweise (evtl. auch über ihre Unzulänglichkeiten mit oder ihre Ablehnung von Direct Cinema) aus, aber nichts über die Realität an sich. Ich finde es schon etwas ärgerlich, dass das in den letzten Tagen so oft falsch wiedergegeben wurde.


IJ.Biermann

...will sagen: Man kann über die Aussage durchaus diskutieren – gerne auch mit der Regisseurin selbst (als Interviewer bzw. Gesprächspartner hätte ich an der Stelle nachgefragt, hätte wissen wollen, warum sie meint, dass sie das nicht konnte - oder nicht wollte - ob es Unvermögen, Ablehnung, andere Idee von Direct Cinema etc war), aber dazu sollte man das Zitat doch auch mal richtig wiedergeben.


Maurice

@IJ Biermann: Danke für den Hinweis, wir haben das Zitat ergänzt. Allerdings scheint mir der Bedeutungsunterschied marginal zu sein: Mit dem Satz begründet die Regisseurin im einen wie im anderen Fall, warum sie sich „nicht vorwerfen kann, die Realität gefälscht zu haben“ – den Bezug zu „der Realität“ stellt sie also so oder so selbst her. Dass sie damit lediglich etwas über ihre Haltung und Arbeitsweise sagt, scheint mir eine sehr wohlwollende Interpretation.


Felix

Also was mich an diesem Text und eigentlich bei fast allen Beiträgen zu diesem Film schon erstaunt: Es gibt selbst in Filmmacher- und filmbesprechenden Kreisen eigentlich kaum ein Verständnis für den Unterschied zwischen einem (Kino-)Dokumentarfilm und einer (Fernseh-)Dokumentation/"Doku". Da werden einfach wild die Begriffe durcheinander geworfen als wäre und wollte alles das Gleiche. Dem ist allerdings nicht so.
Ein großes Trauerspiel des Genres Dokumentarfilm ist leider, dass es so in der Form gar nicht existiert, weil kaum einer seine Existenz im engeren Wortsinn anerkennt. Das Interpretieren, das subjektive Sehen ist für den 'Dokumentarfilm' ein zentraler Bestandteil seiner Existenzberechtigung. Das verwischen der Linien zwischen diesem berechtigten Anliegen und, man kann es nicht anders sagen, der Polemik, es gehe dabei um die "Ästhetisierung", also um irgendeine Art "messbaren" Werts von "Güte" (Stichwort: Sportvergleich), schadet auch hier wieder viel mehr als es nützt, weil es nicht das Verständnis für eine Filmart oder ein Anliegen stärkt, sondern höchstens eine gute Ausgangslage für wütendes Meinungsaustauschen darstellt.
Das zemetiert leider die Vorstellung, ein Dokumentarfilm habe fernsehjournalistische Kriterien zu befolgen - der Fernsehjournalismus ist aber eine andere Gattung und bedient ein anderes Medium. Nur weil es überschneidungen in der Werkzeugkiste der "Doku" und des Dokumentarfilmes gibt (und natürlich Mischformen), rechtfertigt das noch lange keine Gleichsetzung. Die Gleichsetzung wird natürlich auch dadurch gefestigt, dass es in Deutschland de facto keinen anderen ernstzunehmenden Finanzier dokumentarischer Inhalte neben den öffentlich-rechtlichen 'Fernseh'-Sendern gibt.
Wenn also irgendein systematisch bedingter Fehler zu vorschnellen Urteilen führt, dann ist es weniger der "Druck zu liefern", als vielmehr auch das sträfliche Vernachlässigen einer filmgeschichtlich außerordentlich relevanten Filmart.

Ich konnte den Film leider nicht rechtzeitig sehen, weder auf Festivals, noch in der Mediathek bevor er dort zurückgezogen wurde. Von daher kritisiere ich hier lediglich die mediale Diskussion, die ich verfolge. Zum Film selber kann ich wirklich nichts sagen, solange ich ihn nicht gesehen habe.


IJ.Biermann

@Maurice:
Danke für die Rückmeldung. Ja, als "wohlwollend" würde ich meine Auslegung auch bezeichnen.
Der Unterschied mag vielleicht marginal sein (zumal ich nicht meine, dass sie "lediglich" etwas über ihre Haltung und Arbeitsweise sagt, aber zu vernachlässigen finde ich es wiederum auch nicht), aber ich meine auch, dass – wie gesagt, bei aller Kritik, die man ihr machen kann – wir ihr gegenüber diese erstmal positive Einstellung durchaus haben sollten – eben weil diese Mittel für Dokumentarfilme, wie derzeit viele Beitrag zum Thema ja auch darlegen, keineswegs per se verwerflich sind und für jede Regieperson eine bewusste Entscheidung bedeuten*. Die einen bevorzugen die Methoden von Frederik Wiseman, andere die Methoden von Stanislaw Mucha; Dunja Bialas' Text finde ich hierzu ganz wertvoll: https://www.artechock.de/film/text/artikel/2021/03_25_lovemobil_documentaries_are_lies_bialas.html

[*dass E.L. da einiges bewusst unterschlagen hat und das Missverständlich lange unaufgeklärt gelassen hat, ist selbstredend nicht so erfreulich; das bestreite ich nicht.]


IJ.Biermann

@ Felix:

Danke für diesen engagierten Beitrag. Dieselbe Mühe im Erläutern der Unterschiede von "Doku" und Dokumentarfilm mache auch mir seit langer Zeit stetig. Selbst im Kulturjournalismus (Deutschlandfunk, "Corso" usw.) und in zahlreichen journalistischen Textbeiträgen, aber auch in Gruppen wie "Filmemacher" bei Facebook etc. werfen viele Leute das durcheinander – und ich denke, damit geht in der Tat auch eine gewisse Geringschätzung (oder wenigstens ein Missverständnis) unserer Arbeit als Dokumentarfilmemacher einher.
Ein wenig (wenn auch deutlich einschneidender) ist das wie mit dem Begriff „O-Ton“, mit dem Fernseh- dun Radioleute Interviewaufnahmen meinen, wogegen Ton- und Filmprofessionelle mit „O-Ton“ den am Motiv aufgenommenen Originalton der Szene bezeichnen.


Marc Bertram

Im Artikel wird die These aufgestellt, dass "Lovemobil" im Gegensatz zu den Reportagen von Relotius keine klare erzählerischen Zielsetzung hat. Ich bin der Meinung, dass der Film eine eindeutige erzählerische Zielsetzung hat, nämlich den weißen heterosexuellen Mann (Freier und Zuhälter) als schmieriges, perverses, rassistisches und Morde begehendes Monster darzustellen. Die Regisseurin forderte den Darsteller des Zuhälters sogar ausdrücklich dazu auf, die schwarze Prostituierte rassistisch herabzuwürdigen und einen Mord zu erfinden (Quelle: Aussage der Cutterin bei Strg_F). Meine Vermutung ist, dass gerade dieses eindeutige und ausdrücklich erwünschte Narrativ dazu geführt hat, dass der Film so großen Anklang gefunden hat und nicht kritisch hinterfragt wurde.






Kommentare der Nutzer geben nur deren Meinung wieder. Durch das Schreiben eines Kommentars stimmen sie unseren Regeln zu.