Die Muster erkennen: Duisburger Filmwoche 2023
Festgefahrenes auflösen, Verbindungen sichtbar machen: Wegbegleiter*innen Harun Farockis teilen bei einer Lesung Erinnerungen, eine Filmtrilogie kassiert die Erzählung vom isolierten rechten Einzeltäter ein und ein Ferienort an der Adria wird als künstliches Gebilde aus dolce vita und Ausbeutungsverhältnissen entlarvt. Ein Sehtagebuch von der geschichtsträchtigen Dokumentarfilmwoche.
An der Schale arbeiten: Lesung „Zufalls-Dekompositionen und Mischlichter: Farocki in Düsterburg“

„Mit den Bildern und Tönen im Dokumentarfilm ist es eine ziemliche Schlamperei“, stellte Harun Farocki 1995 in einem Brief an Werner Ružička fest, den langjährigen Leiter der Duisburger Filmwoche. Die letzte Hoffnung des Künstlers sei „die Wette auf den nächsten Augenblick“. Aber auch der wird enttäuschen, da war sich Farocki sicher, es blieben nur die „Zufalls-Dekompositionen und Mischlichter, die ins Objektiv fallen“ und das Dokumentarische zu regeln, wenn sie dazu auffordern, sich zu ihnen ins Verhältnis zu setzen.
Auch in der Überschrift einer Veranstaltung, die bei der 47. Duisburger Filmwoche stattfand, haben sie ihren Auftritt. Die Lesung am Freitagmorgen wird in Kooperation mit dem Harun Farocki Institut anlässlich der sechsteiligen, im Kölner Verlag der Buchhandlung Walther König erschienenen Schriftenreihe ausgerichtet (2022 wurde der sechste und letzte Band veröffentlicht: Lerne das Einfachste! Texte 2001–2014, herausgegeben von Volker Pantenburg). Abwechselnd lesen Ute Adamczewski, Corinna Belz, Antje Ehmann, Michael Baute und Tom Holert aus den zahlreichen Texten Farockis vor, zwischen 1964 und seinem Tod im Jahr 2014 verfasst.

Manchmal mischen sich die Stimmen anderer Autor*innen hinein in diese sorgfältig gebaute Soundcollage aus Poesie, Manifest, westdeutschen Männlichkeitsphrasen und Hasstiraden gegen die Landesrundfunkanstalten, die Pantenburg von der Seitenlinie aus arrangiert und per PowerPoint-Folie um Fotos, Filmausschnitte und die jeweiligen Quellenangaben ergänzt; die von ehemaligen Protokollant*innen etwa, die den Gesprächen zwischen den wechselnden Mitgliedern der Auswahlkommission und dem seit 1978 immer wieder zur Filmwoche eingeladenen Filmemacher mit den auffällig gemusterten Hemden beiwohnten und, wie es sich in Duisburg gehört, ihre Beobachtungen schriftlich festhielten. Auch der aktuelle Filmwochenleiter Alexander Scholz hat bei früheren Ausgaben protokolliert, unter anderem bei der Diskussion zu „Sauerbruch Hutton Architekten“ (2013), dem letzten Film, der von Farocki auf dem Festival gezeigt wurde, ehe er verstarb.
Farocki in Duisburg, Farocki und Duisburg, das ist eine ambivalente Beziehung, die in den vorgestellten Texten aufleuchtet, ein komplexer Zusammenschluss von mehr als zwei Leben, die nicht bloß miteinander verbunden scheinen, weil Filme sie zusammengebracht haben. In einer Festschrift anlässlich des 30. Jubiläums der Duisburger Filmwoche schreibt Harun Farocki: „Ich war schon 1974 in Duisburg, das Festival hieß da noch nicht ‚Duisburger Filmwoche‘, da liefen Spiel-Filme aus dem Umkreis des ‚Filmverlags der Autoren‘. Die vom Filmverlag wollten damals nicht mehr neuartige Kunst-Werke schaffen, sondern vielmehr kleine Unterhaltungsfilme, die aber einen persönlichen Zug haben sollten, wie das einer erklärte. Ich verließ die Stadt überstürzt, rannte von dem kleinen Hotel auf der Mercator-Straße, das es schon längst nicht mehr gibt, zum Bahnhof, dabei ging mir das Frühstücksei kaputt, das ich im Vorbeilaufen in die Manteltasche gesteckt hatte.“

Die Schale bleibt kein stabiles Konzept, um sich durch Duisburg zu bewegen. Als Ort, wo die Brüchigkeit des Realen versammelt wird, wo Fragen ihrer Form besprochen werden, da löst sich die Festigkeit vorab angenommener Ansichten auf. Das Setting der Lesung mag antiquiert wirken, völlig reduziert auf Wassergläser und Wörter, diese treffsichere Sprache von Farocki, die auf einfache Weise höchst komplexe Dinge beschreibt. Aber wie diejenigen, die ein kleines Stück des Weges mit Farocki zurückgelegt haben, hier ihre Anekdoten teilen, ein Raum sich gemeinsam und doch einzeln erinnert, schließlich die Stimme von Scholz erklingt, nicht von der Bühne hinab, sondern aus dem hinteren Teil des Raumes, einen Auszug aus seinem Protokoll von 2013 lesend, das ist eben sehr besonders: „Das Modell eines Stuhls muss erst mehrmals umrundet werden, bevor darauf Platz genommen werden kann.“
Ein Betriebssystem filmen: Vista Mare (2023)

An Vorgängen der Arbeit ist auch dieser Film interessiert, an einem Ort, der für andere die arbeitsfreie Zeit im Jahr markiert. Eine ganze Saison verbringen Julia Gutweniger und Florian Kofler in einem Ferienort an der Adriaküste, der Vista Mare heißt, also den Blick auf das Meer verspricht. Im gleichnamigen Film von Gutweniger/Kofler ist diese Perspektive auffällig verstellt. Die Vor- und Nachbereitungen sowie der laufende Betrieb rücken in den Vordergrund, dazu die menschlichen Eingriffe in das, was mal Natur genannt wurde und nur noch ein künstliches Gebilde aus dolce vita und Ausbeutungsverhältnissen ist. Sonnenschirme werden von Hand vernäht und am Strand aufgestellt, der Sonnenuntergang auf den Postkarten gephotoshoppt, die besten Kommunikationsstrategien unter Amateur*innen ausgetauscht.
Unterdessen fordern einige der Beschäftigten in Demonstrationen bessere Arbeitsbedingungen. Und durchaus müsste Vista Mare stärker betonen, dass in der vorrangig weißen Urlaubsfantasie eben nicht alle gleichermaßen für alle arbeiten, dass bestimmte Berufe gegendert sind und dass diese arbeitenden Körper Anforderungen entsprechen, die unausgesprochen bleiben, aber dennoch permanent ins Bild gesetzt sind, von leistungsfähigen, mobilen Körpern ohne sichtbare Einschränkungen. Dass sich aber Gutweniger/Kofler über die Art und Weise, mit der sie jenes Betriebssystem filmen und diese Aufnahmen wiederum montieren, als Arbeitende mit den Arbeitenden solidarisch zeigen, dass sie mit ihnen früh morgens aufstehen, abends auch mal länger bleiben, dass sie zeigen, unter welchen Bedingungen sich wer welche Bilder von der Welt machen kann, das ist das Verdienst dieses Films.
Zusammenhänge zeigen: Einzeltäter-Trilogie (2023)

Drei Filme von Julian Vogel sind in Duisburg hintereinander programmiert, mit einer Gesamtlaufzeit von vier Stunden nehmen sie viel Raum ein bei dieser Ausgabe. Zuvor waren sie bereits in der ZDF-Mediathek abrufbar. Sie allerdings gemeinsam zu schauen, eben in genau dieser Reihenfolge und auf der großen Leinwand, verändert die Filme. Denn obwohl sie auch für sich stehen könnten, sind sie schon rein konzeptuell an Zusammenhängen und Verbindungen interessiert, bauen aufeinander auf, stellen infrage, welche Kämpfe möglicherweise von wem geführt werden mussten, damit die Aufmerksamkeit für diejenigen, die folgen werden, gegeben ist. München (Teil 1, 85 Minuten), Halle (Teil 2, 68 Minuten), Hanau (Teil 3, 86 Minuten), Orte als Schlagworte, die ausreichen, um zu markieren, womit sich Vogels Trilogie beschäftigt. Nicht von Einzeltätern handelt sie (das kurzzeitig zwar auch), sondern von der rechten Gewalt, die tief in den Strukturen dieses Landes verankert ist, der Verschleierung von Motivationen und der Politik des Erinnerns.
Das häufig angebrachte Argument des als isoliert, einsam, verwirrt oder psychisch gestört beschriebenen Täters kassiert Vogel en passant, wenn er Muster der medialen Berichterstattung und die Vernetzungen der Mörder untereinander deutlich macht. Stärker konzentrieren sich die Filme jedoch auf die Hinterbliebenen, die ihre Trauer und ihre Wut teilen, die die Geschichten erzählen von ihren Töchtern und Söhnen, Schwestern und Brüdern, von ihren Freund*innen, Nachbar*innen, von denen, die am Wochenende immer neben ihnen auf den Rängen im Fußballstadion standen und plötzlich, nach den rassistischen Attentaten in München 2016 und Hanau 2020 wie auch dem antisemitischen Anschlag in Halle 2019, nicht mehr da waren. Behutsam führt Vogel Interviews mit ihnen über den Schmerz, lässt keinen Zweifel daran, dass er sie als Filmemacher mitsamt der Öffentlichkeit, die er durch den Beruf bereithält, unterstützen will, ihre Stärke im Angesicht des Verlusts bloß bewundern kann.

Seine Fragen sind aus dem Off zu hören, im Laufe der drei Teile mehren sich die Gelegenheiten. Auch Vogel will sich verhalten zu dem, was er da zeigt, kann nicht mehr ruhig bleiben, wenn Serpil Temiz-Unvar darüber spricht, wie die Gesellschaft nur darauf warte, dass sie unter all dem Schmerz zusammenbreche – und dass sie sich für ihren Sohn Ferhat weigere, dieser Idee Folge zu leisten. Trotz formaler Ähnlichkeiten funktionieren die drei Filme der Einzeltäter-Reihe ziemlich unterschiedlich und können nicht nur in der chronologischen Reihung gesehen werden, sondern als eine Bewegung, die in Gang kommt, die auf ganz vielfältige Arten die Zuschauenden affiziert. Dabei handelt Vogel nicht im Sinne eines Gleichgewichts der Stimmen, einige Personen und Familien fehlen in den Filmen, sind nicht anekdotisch, sondern mitunter bloß in Texttafeln vertreten. Weil es nicht darum geht, sie alle je einzeln in den Fokus zu stellen, sondern die Bedingungen offenzulegen, wie die Ermordeten und Betroffenen sichtbar werden können.
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