Die Moderne hat Mist gebaut: Neues von Heinz Emigholz
Heinz Emigholz präsentiert auf dem DOK Leipzig ein Film-Triptychon, das zeigt, wie in den Häusern der Moderne geschlachtet, aber manchmal auch die Moderne selbst zur Schlachtbank geführt wird.

Er sei nur zufrieden, wenn er im Jahr drei Filme machen könne, das zermürbende Warten auf die deutsche Filmförderung mache die hiesigen Filmemacher:innen schließlich nicht besser. So der Filmemacher Heinz Emigholz (*1948) beim Q&A auf dem diesjährigen DOK Leipzig. Und tatsächlich waren dort gleich drei neue Arbeiten von ihm zu sehen (drei Spielfilme sind zudem in der Mache): In der Sektion Camera Lucida liefen zwei, für Emigholz’ dokumentarischen Ansatz typisch, auf Spracheinsätze verzichtende Architekturfilme, Mamani in El Alto (2022) und Salamone, Pampa (2022), im Deutschen Wettbewerb der Gattungshybrid Schlachthäuser der Moderne (2022); ein Film, der die beiden erstgenannten in sich aufsaugt und darüber hinaus auch mit Stimmen und spielfilmartigen Parts arbeitet. Die drei Filme bilden eine Art Triptychon mit den Schlachthäusern als verbindendem center piece; man kann sie aber auch für sich stehend sehen, ohne dass einem dabei grundsätzlich etwas entginge – tatsächlich liefen sie auch beim Festival nicht kompakt als Einheit (hätte man machen sollen).

Mit allen dreien knüpft Emigholz an Interessen an, die sein Œuvre seit Jahrzehnten bestimmen: das Verständnis von Architekturen als verräumlichten Ideen (und Ideologien) eines Künstlersubjekts, die sich peu à peu durch die Abfolge statischer, vier bis acht Sekunden währender Kamerablicke in den Köpfen des Publikums zusammenfügen, ferner das grundsätzliche Zusammenspiel von gebauter Struktur und Natur, und auch die Frage, wie Idiome modernistischen Bauens mitunter in etwas umschlagen, worin der Mensch keinen „Platz“ mehr hat. Das Triple spannt dabei einen weiten Bogen von der ersten Hälfte des 20. bis ins ganz gegenwärtige 21. Jahrhundert. Er reicht von monumentalen, an europäischen Architekturmodernismen geschulten Schlachthäusern über kunterbunte Festsäle einer indigenen Alternativmoderne bis hin zum Neuen Berliner Stadtschloss – ein Bau, der laut Emigholz’ Voice-over (selten!) davon zeugt, dass nicht nur in den Häusern der Moderne geschlachtet, sondern auch die Moderne selbst manchmal zur Schlachtbank geführt wird.
Mamani in El Alto (2022)

Wie Salamone, Pampa ist Mamani in El Alto Teil von Emigholz’ Architektur-als-Autobiographie-Reihe, die seit gut dreißig Jahren in kurzen bis abendfüllenden Beiträgen noch existente Bauten eines Architekten porträtiert. Die monografische Serie ist wiederum der Werkreihe Photographie und jenseits untergeordnet; Emigholz fühlt sich wohl in Kontinuitäten, ordnet, systematisiert und zählt gern durch. Und doch gibt es immer wieder kleine Neuerungen im vermeintlich Regelmäßigen. Während in Mamani in El Alto die eigentliche Architekturrepräsentation in werktypischer Weise abläuft – statische, von der autarken Komposition her gedachte Einstellungen, mitunter gekippte Perspektiven, raumschaffende Surroundsounds, keine Stimmen und Kamerafahrten –, passiert erzählerisch Ungewohntes:

Der 35. Teil von Photographie und jenseits ist Emigholz’ erster Architekturfilm, bei dem die unterschiedlichen Bauten nicht durch Texteinblendungen mit ihrem Namen und Erbauungsjahr (sowie dem konkreten Datum der filmischen Fixierung) voneinander abgehoben werden. Die Übergänge von einem Haus zum nächsten sind fließend. Wo man sich bislang darauf einstellen konnte, gemeinsam mit der Kamera gleich ein neues Raumgefüge „abzuschreiten“, geht’s nun unvermittelt im Zickzackkurs, begleitet von Straßenlärm und Hundegebell, durch die Stadt. Es ist ein weniger strenger Aufbau als sonst, was zum Spielerischen von Freddy Mamani Silvestres (*1971) Häusern passt. Sie stehen allesamt im über viertausend Meter hoch gelegenen El Alto, einer bolivianischen Andenhochland-Stadt mit zahllosen Baustellen, Schnellstraßenschneisen und einer die Bilder manchmal kreuzenden Seilbahn.

Dass dieser Ort von Ziegel-Mörtel-Monotonie geprägt ist, sehen wir von den Dächern der rund sechzig Bauten aus, die Mamani zwischen 2008 und 2021 hier gestaltete. Sie setzen sich von der halbfertig wirkenden Umgebung nicht bloß höhenmäßig, sondern vor allem durch ihre Farb- und Formgebung ab. Mamanis Fassaden sind das Gegenteil von „modernistischer“, schwarz-weiß-grauer Strenge. Bei ihm rahmen geschwungene, mehrfarbige Pilaster große Glasflächen; Dreiecke, Kreise, Treppchen und kleine Türmchen stechen schrill hervor; es gibt pittoreske Giebeldächer, eine Geschosserweiterung in Form einer Yacht, allgemein jede Menge brachialer bis verspielter Applikationen (denn das meiste ist, wie der Film später an einer Baustelle zeigt, nur der üblichen Ziegelbauweise vorgeblendet).
Immer wieder lesen wir an den Hauseingängen „Salon de fiestas“ oder „Salon de multieventos“, Festsäle für die indigene Gruppe der Aymara. Ihr Inneres geht dann vollends in die Vollen: riesige Kronleuchter, geschwungene Balustraden, mehrgeschossige Räume umspannende Buntlicht-Choreografien, durchornamentierte Wände und Decken in Grün, Orange, Blau. Und nicht zuletzt Wandgemälde, die folkloristisch-indigene Motive zeigen und bei denen die Farben des Innen und Außen wiederkehren. Eine Community bekommt hier Orte, deren Farb- und Formwelten wohl denen ähneln, von denen sie auch sonst – etwa mit den schrillen Stoffmustern der traditionellen Awayo – umgeben sind. Zugleich sind die Gemeinschaftshäuser die exzentrischen Individualisten der highlightlosen Stadt, nichts darf sich gleichen, alles quillt hier förmlich über.
Salamone, Pampa (2022)

Die fünfundzwanzig im Film kompilierten Bauwerke des argentinischen Architekten Francisco Salamone (1897–1959), die er zwischen 1936 und 1939 im ländlichen Raum um Buenos Aires herum realisierte, sind das krasse Gegenteil der „lebensbejahenden“ Alltagsbauten Mamanis. In kühl-strenger Materialität ragen Salamones Rathaustürme empor, die vertikal rhythmisierten Fassaden der kompakten Kubatur erinnern an Festungsbauten; steinerne Symbole von Macht und Autorität. Ein vom Architekten mitgestalteter Vorplatz samt Brunnen und wuchtigen Laternen gibt dem Ganzen zusätzliche Stadtraumpräsenz. Die Abfolge mit neun als municipal buildings überschriebenen Bauten leitet den gut einstündigen Film ein, der wie Mamani in El Alto keine gesprochene Sprache enthält, somit seine „Argumente“ rein audiovisuell in der Dauer des Betrachtens entfaltet.

Auf diese Bauwerke folgen Salamones eigentümliche slaughterhouses, die in Städten wie Azul und Colonel Pringles aus der flachen Graslandschaft der Pampa herausstechen. Damit lässt auch Salamone, Pampa – übrigens 34. Teil von Photographie und jenseits – ein Stück weit die etablierte Erzählweise der Architektur-als-Autobiographie-Filme hinter sich, die ja streng werkchronologisch vorgeht. Hier also die Organisation nach Bauaufgabe (die dritte besteht in megalomanen Friedhofsportalen). Dass die Formensprache der Schlachthäuser im Vergleich zu den Verwaltungsbauten kaum einen Bruch anzeigt, wirkt durch die neue Kompilationsweise noch einmal befremdlicher. Der Uhrenturm wird von einem Wasserturm abgelöst, wieder gibt es die abweisende, weil kaum durchfensterte Fassade mit vom Art déco und Futurismus entlehnten Gliederungselementen. Funktionell verlangen die Bauten keine solche skulpturale Gestaltung; dass sie so aussehen, wie sie aussehen, ist wohl ein klar politisches Statement.

Und doch gibt es einen großen Unterschied zwischen den Bauten des ersten und zweiten Kapitels: Während die municipal buildings gut in Schuss und nach wie vor in den städtischen Alltag integriert sind, liegen die Machtdemonstrationen der staatstragenden Fleischindustrie heute brach. Die Natur holt sich die Orte ihrer krassen Beherrschung zurück. Wie in noch keinem anderen Emigholz sind die Filmbilder mit Tieren – Rindern, Pferden, verschiedenen Vögeln und einem aus einem Tor stolzierenden Hahn – bevölkert. Ein „Tierfilm“ also, wie der Filmemacher selbst im Anschluss an das Screening meinte. Das hat schon etwas Ironisch-Befriedigendes, dass diese Orte, die die industrielle Fleischverarbeitung auf so obszöne Weise theatralisieren, dieselben sind, die nun den Tieren eine Bühne innerhalb eines Architekturfilms bieten. Sowieso schafft es Emigholz’ Film wieder einmal, Zeugnisse einer zeitspezifischen architekturpolitischen Topografie freizulegen, die man mit jeder Einstellung etwas besser zu verstehen meint – und das, obwohl wir gar nicht mit Hintergründen „versorgt“ werden.
Schlachthäuser der Moderne (2022)

Die Repräsentationsschlachthäuser gibt es, wie schon der Titel andeutet, in diesem semi-dokumentarischen Streifzug durch die architektonische Moderne, Antimoderne und Alternativmoderne ein weiteres Mal zu sehen. Das heißt aber nicht, dass hier bloß recycelt wird: Schlachthäuser der Moderne präsentiert uns, neben einigem anderen, zwar abermals Einstellungen von Salamones und Mamanis Bauten, aber nun sind diese konzentrierten Blicke von Begriffen und Emotionen flankiert. Das macht etwas mit den Bildern. Während wir uns in den reinen Dokumentarfilmen ja „bloß“ sinnlich in Architektur(-bilder) versenken, sind sie hier etwa durch den Prologtext bereits symbolisch beladen. Und da heißt es: „Die filmischen und architektonischen Avantgarden entsagten sich weitgehend der Tradition des Theaters mit seinen formelhaften Erzählweisen, barocken Ausstaffierungen und gestischem Gebaren. Zurück blieb ein Publikum, das in seinem persönlichen und politischen Erleben keinen Raum fand, diese Umwälzungen nachzuvollziehen und für sich selbst fruchtbar zu machen.“

Zu diesem sich so dicht weiterspinnenden Text sehen wir ungeordnete Straßenzüge von El Alto, dann – analog zu der Inszenierungsweise der Architekturfilme – Einstellungsfolgen von Hundehütten aus Holzbrettern. Man bekommt „den“ Sinn des Films nie wirklich zu greifen, lässt sich von der Verve seiner Architektur- und Ideologiekritik einsaugen. Es scheint darum zu gehen, welche baulichen Symbole die Moderne von sich hinterlassen hat und an welcher Stelle ihre selbsternannten Neuerer die Haftung zur Wirklichkeit, der sie eigentlich einmal rational dienen wollten, verloren. Das Pathos des neuen, durch Architektur gestalteten Menschen schlägt auch in Entmenschlichung und materialisierte Propaganda um. Die Moderne hat „Mist gebaut“, wie es einmal im unregelmäßig einsetzenden Voice-over zu Bildern der Berliner-Stadtschloss-Neuinterpretation heißt.

Dem Film selbst widerstrebt alle Klarheit und jedes Gleichmaß. Er greift in mehrere Richtungen gleichzeitig aus, ist in seinen Sprachpassagen – ein Faden übrigens, den Emigholz erst vor einigen Jahren wieder aufgenommen hat – zugleich witzig, wütend, resigniert und hoffnungsvoll. Einmal erscheint der Schauspieler Stefan Kolosko in Tauchermontur inmitten der überschwemmten Ruinenlandschaft Villa Epecuéns und redet gegen das literarische Motivklischee des bloß falsch abgebogenen Nazi-Intellektuellen an. An einer anderen Stelle gibt der Architekt Arno Brandlhuber, dessen Bauten Emigholz mehrfach filmte, einen Rant auf die Berliner Städtebauplanung. Das greift Susanne Bredehöfts Voice-over dankend im Vorschlag auf, das Schlossensemble als mahnendes Beispiel einer verkorksten europäischen Architekturtradition in die Andenlandschafts El Altos zu verfrachten, um im Gegenzug Berlin künftig mit Mamanis nicht-westlicher, nicht vom Bauhaus korrumpierter Opulenz zu beglücken. Vom Hochland Boliviens in die Einöde Argentiniens; ein kurzer Abstecher ins autoritäre Bauerbe Italiens und Deutschlands; am Ende wieder Bolivien. Zu einem der farbschillernden Hallen Mamanis gibt’s dann schließlich die letzte unvorhersehbare Abbiegung: ein Musikvideo. Der Songtext zu Kiev Stingls „Einsam WEISS boys“ (1981) erscheint collagiert im Bild, eine Zeile bleibt auch später noch hängen: Sinkende Welten in sinkenden Augen. Was heißt das alles?
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