Die Liebe auf Null setzen – Antalya Film Festival 2019
Die neuesten Ableger des männlichkeitskritischen Arthousekinos werden zum Glück noch übertönt: wenn im besten Film des Festivals eine Frau einer anderen hinterherpfeift.

Am 29. Oktober, mitten im Festival und leider schon kurz vor meiner Abreise, wird der Tag der Republik gefeiert, der türkische Nationalfeiertag: Überall Fahnen und Atatürk-Antlitze, auf der Strandpromenade marschiert ein Festumzug vor tausenden Zuschauer_innen. Auf dem Festivalgelände und auch am Festivalhotelpool, beides kaum mehr als 100 Meter Luftlinie von den Feierlichkeiten entfernt, kommen davon nur ein paar Fetzen heroische Musik an und, ein wenig später, Rauschschwaden von einem Feuerwerk. Das soziale Ereignis reduziert sich zur kleinen synästhetischen Irritation, höchstens. Allen Bemühungen um Inklusivität und Diskursaktualität zum Trotz sind Filmfestivals, natürlich nicht nur in Antalya, Enklaven weitgehend homogener Milieus. Sie schotten sich ab, und zwar nicht nur von der Stadt drumherum, sondern auch von der Normalität des Kinos.
Gelegentlich werden immerhin Bruchstellen sichtbar. In Antalya sind zwei der vier Festivalsäle Teil eines Multiplexes, in dem nebenher der Mainstream-Normalbetrieb weiterläuft. Bald wird da, ein Poster wirbt schon dafür, Recep Ivedik 6 zu sehen sein, der neueste Teil der erfolgreichsten Komödienkinoreihe der Türkei. Die Titelfigur ist ein großmäuliger Überproll mit einem Bart- und Augenbrauenwuchs, der ausschaut, als sei er ihm ins Gesicht geschweißt. Recep ist die Ignoranz auf zwei Beinen, beleidigt alles und jeden, findet immer wieder neue Gelegenheiten, sich daneben zu benehmen – und wird dafür gefeiert.
Alles nur Würste, schon klar

Auf dem Festival läuft so etwas wie Recep Ivedik 6 natürlich nicht. Stattdessen sehe ich da zum Beispiel einen Film über einen seine Umgebung autoritär kontrollierenden verrenteten Soldaten, dessen Gefühlspanzerung kleine Risse bekommt, als er zwei syrischen Flüchtlingen begegnet (Omar and Us); oder eine Long-Take-Depressionskomödie über einen narzisstisch verblendeten Yuppie, der erst seinen Job und dann peu a peu den Kontakt zur Realität verliert (La Belle Indifference); oder ein eigenartig mäanderndes Künstler- und Außenseiterportrait über einen einstmals hoffnungsvollen Schriftsteller, der neben seiner literarischen auch gleich die sexuelle Potenz verloren hat (The Walnut Tree).
Allesamt sind das Filme, die dem Meta-, beziehungsweise Megagenres des männlichkeitskritischen Arthousefilms zuzurechnen sind, das für meinen Geschmack nicht nur im türkischen Wettbewerb des Antalya International Film Festivals, in dem die drei genannten Titel programmiert waren, etwas zu präsent ist. Ob das Patriarchat nun nach wie vor fest im Sattel sitzt oder sich auf dem Rückzug befindet: So oder so habe ich wenig Lust, mir wieder und wieder, Film für Film vorführen zu lassen, dass, ja, auch dieser eine Mann zwar großspurig tut, aber bei Licht betrachtet doch nur eine Wurst ist. Da finde ich im Zweifelsfall sogar die komplett gegenläufigen sozialen Fantasien interessanter, die sich in Groteskmachofiguren wie Recep Ivedik verdichten (der auf seine Art natürlich auch Symptom krisenhafter Männlichkeit ist).
Geheimsprache des Begehrens

Zum Glück gibt es auch Filme, die sich nicht die Bohne für solche falsche Alternativen interessieren. Ganz besonders gilt das für den schönsten Film, den ich auf dem Festival gesehen habe, kurz vor meiner Abreise. Love, Spells and All That beginnt damit, dass eine Frau einer anderen hinterherpfeift. Diese andere möchte den Pfiff zunächst ignorieren, aber kann sich ihm auf die Dauer doch nicht erwehren – weil er, wie wir später erfahren, das Echo früherer Pfiffe ist. Die beiden Frauen, Eren (die pfeifende, groß, schlank, große Brüste, kurzhaarig, eine nervöse Amazone) und Reyhan (die andere, auf den ersten Blick unauffällig, leicht verwahrlost gar, aber wenn sie später ihr Lächeln wiederentdeckt: die stärkere der beiden), waren einst, in ihrer Teeniezeit, hoffnungslos ineinander verliebt, das Pfeifen war Teil einer Geheimsprache des Begehrens. Seither sind 20 Jahre vergangen, in denen sich die beiden kein einziges Mal gesehen haben. Details der Vorgeschichte erfahren wir nur nach und nach: Die Eltern der reich und privilegiert aufgewachsenen Eren hatten die beiden damals getrennt und im Folgenden der aus einer armen Familie stammenden Reyhan das Leben zur Hölle gemacht. Jetzt ist Eren, die zwischenzeitlich in Paris gelebt hat, plötzlich wieder da, auf der Insel, auf der die beiden aufgewachsen sind und auf der Reyhan nach wie vor (bzw. wieder) wohnt, und sie sagt ihr: Ich liebe dich immer noch.
Das ist die Ausgangssituation. Was folgt, ist ein Erinnerungsfilm, der sich allerdings nur einmal, eine lichte, kurze Einstellung lang, zu einer Rückblende verdichtet; ein Liebesfilm, der sich allerdings nur einmal zu einer flashartig fragmentarischen Sexszene verdichtet; vor allem aber ist Love, Spells and All That ein Konversations- und Spaziergangsfilm mit offenem Horizont, ein Inselfilm auch, denn dass die beiden Frauen und ihre Liebe allseitig von Meer umgeben sind, ist keineswegs nebensächlich. Einst war die Insel ihr Liebesnest, in der Erinnerung wird die Liebe selbst zu einer Insel des Glücks in zwei jeweils auf unterschiedliche Weise (aber vielleicht noch nicht hoffnungslos!) gescheiterten Biografien – und jetzt, in der Gegenwart, durchstreifen die beiden noch einmal die Insel ihrer Jugend und überlegen sich, ob es möglich sein könnte, ihre Liebesgeschichte noch einmal auf Null zu setzen.
Die Realität dann irgendwann später
Ein grosser Schauspielerinnenfilm ist Love, Spells and All That sowieso: Die Liebe, die Erinnerung, alles hat nur Existenz im dialogischen Spiel der beiden Hauptdarstellerinnen, Ece Dizdar (Eren) und Selen Uçer (Reyhan), in der Art, wie die beiden in ihren auf unterschiedliche Weise gealterten Körpern noch einmal den Gefühlen der Jugend nachspüren, wie sie sich abwechselnd voreinander verschließen und zueinander hin öffnen. Dass Ümit Ünals an der Oberfläche realistischer Film im Kern eher performatives Fabulierspiel ist als Erzählkino (oder gar Problemfilm) wird noch deutlicher, wenn das zweite Wort des Titels ins Spiel kommt. Irgendwann sagt Reyhan zu Eren: „Ich weiss, warum du zurückgekommen bist: Ich habe dich einst mit einem Liebeszauber behext.“ Zum einen stellt sie damit Äquivalenz her; nicht länger ist sie nur die Verfolgte und Eren nur die Jägerin. Zum anderen gibt sie der Bewegung über die Insel eine neue Richtung. Die beiden Frauen glaube nicht, oder zumindest nicht wirklich an die Macht des Fluchs, und geraten doch in seinen Bann. Weil er ihnen die Möglichkeit gibt, an ihrer Liebe zunächst einmal in einem fiktionalen, nichteigentlichen Modus weiterzuspinnen. Der Realitätstest ist auf später verschoben, auf die Zeit nach diesem wunderbaren Film.
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