Die Kraft des Augenblicks und das beste Pastiche – Locarno 2018 (III)

Man könnte problemlos jeden Tag 2018 in Locarno über La Flor schreiben. Ein paar vorläufige Notizen zur dritten, bisher besten Episode, und zu einem persönlichen Favoriten in einem starken Jahrgang.

Ich hatte es mir so gewünscht, und es kam viel besser: La Flor ist nicht nur ein spielerisch kluges Arrangement der Kinobezüge, sondern ein formvollendetes Pastiche. Es ist durchzogen von dem leisen Witz eines Insiderhumors, dessen Tür aber nicht nur einen Spalt breit, sondern im Gegenteil ganz weit geöffnet ist, für alle, die eintreten möchten. Je länger man zuschaut, desto besser taucht man ein in die wirren Wiederholungen und in die so absurd wie genial detailreichen Nebenstränge. Weniger mit Ironie als mit der leidenschaftlichen Emphase einer retrospektiven Reinkarnation wird da etwa in der dritten und bis dahin besten Episode der Agentenfilm der 1980er Jahre (und der Kalte Krieg) zum Leben erweckt. Das ist gleichzeitig ein karnevaleskes Vergnügen, etwa in der deutlich sichtbaren Nachsynchronisierung vieler für die Schauspieler fremden Sprachen, und ein konsequentes Eintauchen in diese mit großem Aufwand hergestellten Wirklichkeiten.

Aus dem Unergründlichen schöpfen

Quer über den Globus reist La Flor mit seinen vier Hauptdarstellerinnen und Hunderten von Nebenfiguren. Ein Akt spielt in Berlin und London, ein anderer in Moskau, dazwischen immer wieder Brüssel, wo eine Schlüsselfigur vor einem Schreibtisch sitzt und das Telefon klingeln lässt, ab und an dann doch rangeht oder den AB abhört. Das Herz der Geschichte, der gerade akute Fall einer womöglich sinnlosen Entführung, spielt in Südamerika, wo eine Gruppe von vier Geheimagentinnen eine andere Gruppe von vier Geheimagentinnen jagt. Letztere lernen wir in kleinen oder auch exzessiven Rückblicken besser kennen.

Die schönste Miniatur, die die Kraft eines ganzen Films in sich trägt, bildet der Mittelteil. Es ist die Geschichte einer verpassten Liebe zwischen zwei Agenten, die bei fast jedem Auftrag ein frisch verliebtes Paar spielen. Während in anderen Mini-Episoden die verschiedenen Off-Kommentare bisweilen alles dominieren, gehen hier das Erzählte und das Gezeigte auf unheimlich dichte Weise Hand in Hand. Es ist ein Rückblick, der mit sich ständig verschiebenden Wissensständen spielt. Der Off-Kommentar weiß zwar irgendwie schon alles, verrät es aber nicht. Und die Bilder wissen dann selbstverständlich doch vieles, was der Off-Kommentar gar nicht zu fassen kriegt.

In einer besonders verschachtelten Szene gelingt dem gespielten Lieebspaar ein besonderer Coup. Über seine Planung, Ausführung und den von ihm hergestellten Konflikt, die alle ihren Eigenwert besitzen, stellt La Flor die Ebene der zwischenmenschlichen Rapports her, die entziffert werden wollen. Diese Perspektivierung legt nahe, was im Verlauf des Films immer deutlicher wird: wie differenziert und unergründlich das Schauspiel angelegt ist und wie sehr Regisseur Mariano Llinás daraus schöpft. Vermutlich ist La Flor eine Serie für mehrfache Sichtungen.

Mit Boyhood verwandt

Es mag bessere Filme gegeben haben in Locarno, vielleicht habe ich manche davon sogar gesehen. Mein persönlicher Höhepunkt ist ein Film, der immer wieder ausrutscht, aber in den entscheidenden Szenen eine seltene Gegenwart ausstrahlt. Wie die Liebe so fällt. Genèse des Frankokanadiers Philippe Lesage schwelgt in den Momenten der Jugend und beginnt dabei immer wieder zu schweben. Die Intensität des Augenblicks wird in einem eleganten elliptischen Stil eingefangen, in vielleicht gar nicht so weit entfernter Verwandtschaft zu Richard Linklaters Boyhood.

Es sind vorwiegend sehr konkrete Geschichten aus dem Alltag, die in exemplarischen Szenen verdichtet werden: Ein Teenagerjunge im Internat liest, während andere schon schlafen wollen, er spielt den Clown in der Schulklasse, ist plötzlich schüchtern mit seinem besten Freund; ein nur wenig älteres Mädchen nutzt die Freiheit, die ihr Freund für sich will, geht aus, trifft einen Älteren, vertreibt sich die Zeit mit ihren Freundinnen, geht Anrufen aus dem Weg, fordert Nähe ein.

Die Bildkompositionen, das Licht und die Farben vor allem, aber auch einige Settings wie das autoritär geführte Jungsinternat, legen nahe, den Film eher in der Vergangenheit als in der Gegenwart anzusiedeln. Indizien, um das genau festzumachen, bleiben aber aus. Bestechend in ihrer dynamischen Kraft sind vor allem die vielen Gruppenszenen in der voll besetzten Klasse, die den Protagonisten beim Singen klatschend begleitet oder die Machtspiele zwischen Schüler und Lehrer mit Blicken und kleinen Geräuschen kommentiert. Sehr lebendig, vielleicht auf eine mysteriöse Weise sogar noch lebendiger, sind die Szenen, die ganz am Schluss in einem Epilog etwas überraschend zwei neue, sehr viel jüngere Protagonisten etablieren.

Mit einer suchenden Kamera müssen die Kinder, vielleicht sind sie elf oder auch schon dreizehn, in einem Sommercamp beim Musikauftritt erst gefunden werden. Die Kamera schwenkt, pendelt sich ein. Ein Gespräch entspinnt sich zwischen dreien, eine ist zur Verstärkung dabei. Die so vorsichtig inszenierten, zarten ersten Annäherungsversuche könnten so etwas wie die Keimzelle sein – für spätere Beziehungen, für ihr Verständnis von Geschlechterrollen, für Zärtlichkeit und Liebe. Es liegt nahe, sich auf Interpretationen zu stürzen, den Epilog auf den restlichen Film zu beziehen. Vielleicht aber muss diese Episode auch nichts bedeuten, sondern es genügt, dass sie eine schöne, eindringliche Kraft heraufbeschwört. Die Liebe des Augenblicks, wieder, und das Eintauchen in etwas, das jeden einzelnen Moment übersteigt, die Fähigkeit des Kinos, die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft zu verschmelzen, mit einem Blick, einem Handstreich, einer Bewegung.

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