Die Kamera als unsichtbarer Passagier – Kurzkritiken vom DOK Leipzig 2021

Einfühlsame Mehrgenerationenporträts, Exotisierung von Außenseitern, unerwartetes Empowerment: Festivalnotizen von Studierenden der Uni Hildesheim über Kamerablicke zwischen Nähe und Distanz.


The Still Side (MX
2021; Regie: Miko Revereza & Carolina Fusilier)

Unter Wasser. Rhythmisch schwappen die Wellen. Kommen und gehen. Das Meer rauscht. Mit gleichmäßig langen Einstellungen, langsamen Schwenks und Bewegungen passen sich die Bilder dem Rhythmus des Wassers an. Jenseits des Meeres blicken wir in zahlreichen Einstellungen auf verlassene Hotelruinen, ein Rutschenparadies und Zoogehege. Die Filmemacher*innen philosophieren im Voice-over über das von Menschen Zurückgelassene sowie über eine Meeresmonstersage und imaginieren eine posthumane Zukunft.

Parallel drängt sich der Ton dem Bild auf. Segmente und teils Unsichtbares werden in den Fokus gerückt. Das Kriechen einer Schnecke über den Stein, ein Schild, das im Wind gegen verlassene Ruinenwände schlägt, das Piepsen einer Antenne und immer wieder das Rauschen des Meeres. Unterbrochen wird dies von Lautsprecheransagen, die die Attraktionen eines Inselurlaubsortes bewerben. Eines Ortes, den es so nicht mehr gibt.

Marie-Luise Hohenadel

 

Nude at Heart (JP, FR 2021; Regie: Yoichiro Okutani)

Der Spiegel sei die Seele der Frau, so eine Nackttänzerin über den Schminkspiegel in der Garderobe, während sie ihn liebevoll, jedoch erfolglos poliert. „Dank des Spiegels kann ich arbeiten. Die neuen Odorikos danken ihrem Spiegel gar nicht mehr.“ Auch sonst hat sich viel verändert in der Amüsierkultur des Nackttheaters: Die guten Zeiten sind vorbei, Schließungen drohen.

Regisseur Yoichiro Okutani hat über einen Zeitraum von gut drei Jahren einige der Tänzerinnen begleitet. Häufig filmt er sie dabei „über Bande“, das heißt: über die in diesem Business so essenziellen Spiegel. Zusammen mit der statischen Kamera, die fast beiläufig aufgestellt wirkt und die Tänzerinnen oft fragmentarisch oder von hinten zeigt, wird ein besonders intimer Blick in der Rolle der stillen Beobachter*innen ermöglicht.

Durch den Schnitt von Mary Stephen bleiben die Odorikos nicht nur in der Welt des Nackttheaters, sondern werden wiederholt in eine Verbindung zur Außenwelt gesetzt. Der Bezug zum Alltag wird etwa durch Kochen, Gespräche über die Familie oder auch die An- und Abreise zu neuen Auftrittsorten hergestellt. Damit bildet der Film einen Kontrast zur der zweiten Schnittfassung, die der Regisseur selbst unter dem Titel Odoriko fertiggestellt hat. Diese verweilt mehr im Kosmos der Live Nude Theaters und zeigt die Nacktheit der Tänzerinnen expliziter.

Philomena Petzenhammer

 

Jules & I (BE 2021; Regie: Anne Ballon)

Dokumentarfilme leben unter anderem davon, dass auch Außenstehende die Kämpfe anderer beobachten und sichtbar machen können. Schwierig wird es immer dann, wenn diese Außenperspektive den Fokus bestimmt und für die Erfahrungen diskriminierter Menschen kein Platz mehr bleibt. Genau unter diesem Problem leidet der Film Jules & I, der in sanften, spielfilmartigen Bildern von den Schwierigkeiten der 14-jährigen Roos mit der Transition ihrer älteren trans Schwester Jules erzählt.

Wie so oft in Filmen über trans Menschen liegt dabei der Fokus auf dem Körper von Jules, auf ihrer Hormoneinnahme oder ihren Wünschen nach weiteren körperlichen Veränderungen. Wie so oft sehen wir Kindheitsbilder aus einer Zeit des „Davor“ zu melancholischer Musik. Eine Reflexion über diese altbackenen, stereotypen Darstellungsformen von trans Menschen erfolgt nicht; stattdessen wird jedes Wort, das Roos sagt, vom Film unkommentiert stehen gelassen, selbst als sie ihre Schwester misgendert (also das falsche Pronomen verwendet).

Wenn eine 14-Jährige ihre trans Schwester als cringe oder peinlich empfindet, mag das ein Problem zwischen den beiden sein, das sich vermutlich lösen lässt. Schwierig wird es, wenn diese 14-Jährige allein die Bühne und das Mikrofon bekommt und sie die Sympathieträgerin der Geschichte sein soll, da sie es ja oh-so-schwer hat, die Veränderungen zu akzeptieren. Jules & I leidet eklatant unter einem Cis-Blick, der seine trans Protagonistin objektiviert und exotisiert.

Beau Maibaum

 

Veins of the Amazon (PE 2021; Regie: Álvaro Sarmiento, Terje Toomistu, Diego Sarmiento)

Die Estin Terje Toomistu und das peruanische Brüderpaar Álvaro und Diego Sarmiento begeben sich 2017 in Peru per Frachtschiff auf eine Reise über den Amazonas. Ihre Kamera begleitet unaufdringlich, fast wie ein unsichtbarer Passagier, mit ruhigem Blick das wuselige Treiben auf dem Schiff, während es vorbei an Dörfern und Städten fährt, die nicht auf dem Landweg erreichbar sind.

Man kann vieles erahnen: Wie wichtig die Schiffe für die Infrastruktur des Landes sind, wie hart die körperliche Arbeit des Be- und Entladens, wie karg das Leben der indigenen Völker, wie wichtig auch die Schifffahrt für die Frauen und Kinder, die beim Anlegen versuchen, den Reisenden Essen zu verkaufen. Man hört beunruhigende Geschichten, zum Beispiel die von einem Kapitän, der einige Zeit im Gefängnis verbrachte, weil ein Boot gesunken war und viele Menschen ertranken. Die Frachter sind alt und bergen Gefahren; die Passagiere fürchten Piraten und sind während der Fahrt bewaffnet, denn das Schiff transportiert Habseligkeiten aller Art: Rinder und Hühner, Zucker und Limonade, Motorräder …

Währenddessen schaukeln die Hängematten der Passagiere. Es wird gegessen, Kinder werden umsorgt, und geduldige Blicke richten sich auf das vorbeigleitende Ufer. Leise und unaufgeregt zeichnet der Film ein Bild der Lebensumstände all jener, die vom Rande des Amazonas mit der Infrastruktur der weit entfernten Städte und angrenzenden Länder verbunden sind.

Johanna Marx

 

Father (CN 2020; Regie: Wei Deng)

In diesem autobiografischen Film steht Zuogui, der Großvater des Filmemachers Wei Deng, im Mittelpunkt. Der 87-Jährige ist Wahrsager und von Geburt an blind. Durchgehend lauschen wir seinen Erzählungen und Erinnerungen. Dabei blicken wir durch die Kamera seines Enkels auf ihn: mal distanziert, mal sehr nah. Aus einem beengten, von Beton dominierten Hof schauen wir in seine dunkle, graue Einzimmerwohnung. Hier sitzt der Großvater auf einer kargen Holzcouch, eine Feuerstelle vor sich.

Ausgehend vom alltäglichen Bewegungsradius des Protagonisten bleibt der Film im Umkreis dieser Örtlichkeit. Somit erfasst er die Personen, die Zuogui nahestehen. Es entwickelt sich aus einem scheinbaren Einzelporträt eine vielschichtige Mehrgenerationen-Erzählung in einer Welt, die von den Betonwänden hoher Wohnhäuser blockiert wird. Sie visualisieren die Trauer, Sehnsucht und Einsamkeit, von der auf der Tonebene erzählt wird. Kurz bevor wir uns darin verlieren, wendet sich alles: Wahrsagung wird Realität.

Marie-Luise Hohenadel

 

„Was ist das Geld schon wert?“, murmelt der sterbende, blinde Wahrsager. Sein Sohn, ein erfolgreicher Bauunternehmer, befragt den Alten zu finanziellen Chancen und Gefahren seiner zukünftigen Projekte. Und schlägt den väterlichen Rat dann doch in den Wind.

Wei Deng porträtiert in seinem Film nicht nur zwei Generationen seiner männlichen Vorfahren, deren Lebensweise unterschiedlicher kaum sein könnte und die dennoch durch die Abhängigkeit des Blinden vom Sehenden, des Gebrechlichen vom Starken, des Fragenden vom Wissenden eng verbunden sind. Vater und Großvater verkörpern vielmehr zwei verschiedene Seiten der chinesischen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte, die hier unter einem Dach leben. Der eine ist noch im hohen Alter ein gefragter Weissager, der andere brüstet sich damit, alle Hochhäuser in der näheren Umgebung gebaut zu haben. Traditionelle astrologische Weisheiten treffen auf wirtschaftlichen Geschäftssinn, das Lebenswerk des Älteren, ein trotz Blindheit errichtetes vertrautes Heim, fällt dem gesellschaftlichen Standesbewusstsein des Jüngeren zum Opfer.

Doch trotz dieser augenscheinlich unvereinbaren Gegensätze besteht eine zarte Verbindung zwischen den beiden Männern. Und ebenso zart und feinfühlig nähert sich der Film seinen Protagonisten an, begleitet den Vater durch Erfolg wie Verlust und den Großvater auf dem letzten Stück seines Lebensweges. Was dabei entsteht, ist ein wunderbar ruhiger und vielschichtiger Einblick in eine Gesellschaft, die sich innerhalb weniger Generationen verändert hat, dokumentiert inmitten eines familiären Mikrokosmos.

Thassilo Vahlenkamp

 

The Voice Break Choir (SE 2021; Regie: Ina Holmqvist, Martina Carlstedt)

Der hier porträtierte Chor ist eine Zwischenstation für junge schwedische Sänger im Stimmbruch, bevor sie in den Männerchor wechseln – oder ihre Karriere beenden. In dem 28-minütigen Film folgen wir einer Hand voll Protagonisten zu Chorproben, hören sie singen oder verschämt verstummen.

The Voice Break Choir eröffnet eine selten gezeigte Perspektive: Jungen, die Schwierigkeiten mit ihrer Pubertät haben, die sich fragen, ob sie jemals wieder so schön klingen werden wie „damals“, die sich nach der sechsten Klasse sehnen, als man noch fangen spielen konnte und nicht nur Fußball. Zugleich lässt der Film viele verschiedenen Positionen zu, zum Beispiel auch die von Jungen, die sich auf das Kommende freuen, die von ihrer ersten großen Liebe erzählen oder sich nicht so verhalten wollen, wie es von pubertären Jungen erwartet wird.

The Voice Break Choir gelingt eine reduzierte Inszenierung, die nicht von den Protagonisten ablenkt und ihnen grundsätzlich mit Respekt begegnet. Ein liebevoller Blick, der es ermöglicht, mit ihnen zu lachen oder um ihre verlorene Kindheit oder eher Kindlichkeit zu weinen. Verletzlichkeit wird nie ausgestellt, Stimmen werden nie ins Lächerliche gezogen. Stattdessen vereinigen sie sich am Ende zu einem Chor auf großer Bühne, der über die vielen verschiedenen Arten singt, ein Junge zu sein. Ein Film, in dem sich unerwartetes Empowerment verbirgt.

Beau Maibaum

 

Handbuch (DE 2021; Regie: Pavel Mozhar)

Ein modernes Altbauzimmer in Berlin Neukölln, 4 auf 5,5 Meter. Von hier aus beginnt der in Minsk geborene Regisseur Pavel Mozhar die dokumentarische Reise nach Belarus und in den Sommer nach der Präsidentschaftswahl 2020. Vom 7. bis 9. August werden damals 7000 Menschen gewaltsam in Gewahrsam genommen, Demonstrant*innen wie Passant*innen. Die Nachrichtenbilder der entsprechenden Demonstrationen, die auf dem Computerbildschirm in dem hell durchfluteten Zimmer laufen, bleiben die einzigen realen Aufnahmen der Proteste.

Handbuch stützt sich auf die Erfahrungsberichte Hunderter Menschen und rekonstruiert ein System der Gewalt: Die im August 2020 Verhafteten werden durchgehend sowohl körperlichen als auch psychischen Misshandlungen ausgesetzt, menschenunwürdig mit dreißig anderen in eine Zelle gepfercht, die ebenfalls 4 auf 5,5 Meter misst. Platz zum Schlafen gibt es nicht. Man legt sich übereinander oder wechselt sich ab. Das Neonlicht brennt immer.

Mozhar findet erschreckend nüchterne Bilder für die grausame Realität, von der es keine Aufnahmen gibt. So wird beispielsweise die 1-Liter Flasche Wasser, die sich die Häftlinge an einem Tag teilen müssen, hell in einer Großaufnahme inszeniert. Die Aufnahme erinnert an ein Werbebild. Die Gewaltverbrechen, die an den Verhafteten verübt wurden, werden nicht wirklich reenactet, sondern vielmehr auf eine absurd ruhige, jedoch sehr detaillierte Art in einem leeren Raum mit blauer Gummimatte angedeutet. Durch diese Diskrepanz berührt das Gesehene auf eine besondere und nachhaltige Weise.

Philomena Petzenhammer

 

Diese Texte entstanden im Rahmen des Seminars „DOK Leipzig – Fragen an den aktuellen Dokumentarfilm“ der Stiftung Universität Hildesheim.

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