Die besten Webvideos 2018

Ein Moment der intimen Ekstase mit Lady Gaga, die beste Pressekonferenz seit Tic Tac Toe und eine Soul-Diva, die Männern an den Schwanz greift. Critic.de-Autoren über ihre neuen und alten Lieblingsvideos des Jahres.


Ein wiederholbarer Instantglücksmoment

Es gibt durchaus ein Bedürfnis nach neuen Bildern, das Kino lebt davon. Aber vielleicht ist das Kino (nicht nur) in dieser Hinsicht eine Spezialzone. Im Alltag ist, glaube ich, ein anderes Bedürfnis stärker: das nach immer wieder denselben Bildern. Jingles, Musikvideos, Werbeclips, Serienvorspänne funktionieren genau so: Sie entfalten ihre volle Wirkung nicht beim ersten, sondern frühestens beim zehnten Ansehen, aber nicht, weil ich in ihnen jedes Mal etwas Neues entdecke, sondern weil sie, ob ich das will oder nicht, Teil meiner Lebenswelt werden.

Inzwischen hat sich das Bedürfnis nach immer wieder denselben Bildern vom Fernsehen ins Internet verlagert. Dort hat es sich noch einmal potenziert und geht mir in Gestalt der allgegenwärtigen, längst nur noch mechanistisch-schlüsselreizartig funktionierenden Memekultur gewaltig auf die Nerven. Die Wiederholung ist nicht mehr etwas, was sich aus dem Programmfluss heraus ergibt, sondern etwas, was aktiv hergestellt werden kann und auch penetrant hergestellt wird; Social-Media-Nutzer sind wie Kinder, die, um ihre Eltern zu nerven, jedes Wort, das sie sprechen, exakt wiederholen.

Aber manchmal können die ewigen Wiederholungen des Internets, und vor allem die eigene Kontrolle über diese Wiederholungen, natürlich auch Trost spenden. So ging es mir dieses Jahr mit Shallow, dem Musikvideo zum gleichnamigen Song von Lady Gaga, das gleichzeitig als Trailer für die neueste Kinoversion von A Star Is Born funktioniert und das ich mir allein im Oktober um die hundert Mal angeschaut haben dürfte. Oder zumindest habe ich es um die hundert Mal angeklickt. Denn die Verschmelzung von Bild und Ton funktioniert da so gut, dass es bald nicht mehr nötig ist, das YouTube-Browserfenster tatsächlich für die gesamten dreieinhalb Minuten offen zu halten. Die Musik alleine evoziert die Bilder deutlich genug – es genügt mir, sobald der Refrain einsetzt („Out of the deep end / watch as I dive in“), kurz zurück zum Video zu wechseln, für den schönsten Moment des Clips (und einen der schönsten des Kinojahres): Lady Gaga hält sich die Hände vors Gesicht, ein Moment der intimen Ekstase, der nur ihr selbst gehört und den sie trotzdem gerade durch diese Geste mit der ganzen Welt teilt. Dann eine kaum wahrnehmbare Schwarzblende vor dem nächsten Bild: Lady Gaga und Bradley Cooper auf dem Motorrad, rasant im Wind, die Gesichter hinter Helmen verborgen, das genügt, der perfekte Ausstiegspunkt.

Ein Instantglücksmoment, der sich nicht nur wiederholen lässt, sondern der erst in der Wiederholung sich voll entfaltet, der sich natürlich dennoch irgendwann abnutzen wird, aber noch nicht beim nächsten, auch noch nicht beim übernächsten Mal.

Lukas Foerster

 

Grab’ em by the dick

Ich hatte schon immer eine Schwäche für Fernsehauftritte von unberechenbaren Prominenten wie Klaus Kinski, Oliver Reed oder Helmut Berger, die ihr schlechtes Benehmen öffentlich kultivieren. Man möchte in solchen Momenten nicht unbedingt live mit dabei sein, aber aus der Ferne haben solche Verstöße gegen die Regeln des Anstands etwas ungemein Befreiendes. Bevor ich also bei aktuellen Webvideos aufhole, wühle ich lieber noch weiter im Online-Archiv für historische Unfassbarkeiten.

Jemand, der die Anstößigkeit gewissermaßen zum Beruf gemacht hat, ist die Soul-Göttin Millie Jackson. Sie ist natürlich auch eine große Sängerin und hat viele tolle Alben rausgebracht, aber ihr markantestes Alleinstellungsmerkmal ist zweifellos ihr selbst im Alter nicht zu bändigendes Schandmaul. Besonders schön entfaltet sich das in ihren Raps: Während die Band den Groove hält, erzählt Millie vulgäre Geschichten, dreht ein bisschen durch und beginnt dann unvermittelt wieder zu singen. Erst in diesem Jahr ist mir aufgefallen, dass es bei YouTube auch Live-Mitschnitte von ihr gibt, bei denen man sich von der sehr besonderen Dynamik überzeugen kann, die zwischen ihr und dem Publikum entsteht. Mit einer Mischung aus Drill Sergeant, Sexbombe und Stand-Up-Comedian hält sie etwa den Besuchern einen zehnminütigen Vortrag über Männer, die ihre Frauen nicht oral befriedigen. Es ist bewundernswert, wie sie dabei ihr Publikum im Griff hat – immer ein bisschen zu übergriffig und unverschämt, aber doch charmant genug, um gerade noch so die Kurve zu kriegen.

Mein aufgrund seiner Schamlosigkeit liebster Auftritt stammt aber aus dem Jahr 1990, von einem Konzert im traditionsreichen Apollo Theatre in Harlem. Den Song „Something You Can Feel“ beginnt sie erstmal noch recht harmlos als sexuell aufgeladene Funk-Nummer, aber etwa nach der Hälfte wird klar, dass Millie den Titel wörtlich nimmt. Während sich im Zuschauerraum tumultartige Szenen abspielen, greift sie nacheinander den hilflosen männlichen Besuchern in den Schritt – wobei es kein bloßes Greifen ist, sie ertastet vielmehr genießerisch und kommentiert dabei, was sie gerade zwischen ihren Fingern spürt. Würde es kein Video davon geben, könnte man vermutlich kaum glauben, wie sich ein Konzert innerhalb kürzester Zeit in eine völlig aus dem Ruder gelaufene Junggesellenparty verwandeln kann. Schön, dass wir dieses Dokument haben, auch weil es eine Erinnerung daran ist, dass man als gestandene Soul-Diva nicht zwangsläufig eine Lady sein muss, sondern auch eine ordentliche Drecksau sein kann.

Michael Kienzl

 

Im Kopfkino geköpft

Establishing Shot: „You are walking in the woods. There’s no one around and your phone is dead.“ Bereits nach diesen zwei Sätzen wissen wir, wo wir uns befinden: in einem Horrorfilm. „Out of the corner of your eye, you spot him.“ Zack, Plot etabliert. Nur sehen wir weder Bäume noch unser Handy, sondern Erzähler Rob Cantor, der uns in seinen ersten Worten gleich viermal direkt anspricht. POV-Style also: Ein immersiver Horrorfilm mit uns in der Hauptrolle. Das wird ein Ritt! Noch kurz einen Drummer und eine Geigerin gezeigt, um lässig-postmodern mit der eigenen Werkhaftigkeit zu spielen – und schon geht es in die Vollen (und den Haupt-Gag): „Running for your life from Shia LaBeouf“. Balletttänzer laufen über die Bühne, im Hintergrund singt ein festlich gekleideter Männerchor, daneben stehen ein Streicherquartett, ein Piano und eine Band. „Killing for sport – Shia LaBeouf. Eating all the bodies, actual cannibal Shia LaBeouf.“

Zweiter Akt: „You seem to have lost him.“ Doch der Kindergesang des zweiten Chores verheißt nichts Gutes. Kindliche Musik deutet im Horrorgenre stets Schreckliches an. Oder? „In the distance, a small cottage with a light on.“ Hoffnung! „But your leg! Ah! It’s caught in a bear trap.“ Ein Vorhang fährt nach oben und legt einen blutroten Hintergrund frei. Zum ersten Mal sehen wir das gesamte Ausmaß der Bühne. Inzwischen sind eine Harfe und Percussionspieler hinzugekommen. Der Chor beschreibt das unsichtbare Geschehen bis ins blutige Detail: „Wrestling a knife from Shia LaBeouf, stab it in his kidney“. Großartig, mit welch ernsthafter Inbrunst und weit aufgerissenen Augen einige der Sänger das vortragen. „Safe at last from Shia LaBeouf“. Aufatmen.

Finale: „Wait! He isn’t dead. Shia Surprise!“ Der Mörder lebt noch. Das Aufatmen war nur ein Durchatmen. Die eben abgedunkelten Scheinwerfer leuchten plötzlich wieder auf. Zum Glück folgt die Beruhigung auf dem Fuß: „But you can do jiu-jitsu.“ Da bin ich jetzt aber froh! „Bodyslam Superstar Shia LaBeouf!“ Und anscheinend habe ich noch mehr drauf: „You’re chopping off his head now. You have just decapitated Shia LaBeouf.“ Das Konfetti-Blut spritzt nur so auf der Bühne. Davon wird sich Shia wohl nicht mehr erholen ...

Natürlich braucht dieses extrem aufwändige Musikvideo noch das selbstreflexive Grinsen, das den postmodernen Horrorfilm kennzeichnet. Mehr als die Cameo, die genau dafür sorgt, begeistert mich aber, mit welcher filmischen Logik Rob Cantor hier vorgeht, um in rund drei Minuten packendes Kopfkino zu erzeugen. Die völlig willkürliche Wahl von Shia LaBeouf und der absurde, schwarze Humor des Texts (am besten mit eingeschalteten Untertiteln ansehen!) tun ihr Übriges. Vor allem aber gelingt es Cantor, durch all die klischeehaften Versatzstücke sowohl einen Horrorplot als auch eine Parodie des postmodernen Horrorfilms zu liefern.

Martin Gobbin

 

Ungebremst in die Bande rasseln

Die GoPro ist der Prolet unter den Videokameras. An eine Drohne gebunden, am Kopf befestigt oder an mehreren Ecken montiert, um einen rotierenden Bullet-Time-Effekt zu ermöglichen, schreit sie in Hunderttausenden YouTube- und Werbeclips ihre Haudrauf-Ästhetik in die Welt hinaus. Mittendrin statt nur dabei, und das nicht einfach irgendwo, sondern genau dort, wo Extremsport und aufwendig produzierter Schabernack ihre Klickzahlen und Werbewirkung maximieren können: auf dem höchsten Wolkenkratzer, beim höchsten Fallschirmsprung oder beim ersten Versuch, eine Bowlingkugel eine Talsperre hinunter auf ein Trampolin zu werfen. Die GoPro scheint sich stets dem Drang zu fügen, dem Zuschauer das aufgezeichnete Spektakel direkt ins Gesicht zu drücken.

Und manchmal findet die Action-Kamera den perfekten Tanzpartner für diese prollige Unmittelbarkeit. Der Eishockeyspieler Jewgeni Malkin, zweifelsohne eines der größten Talente seiner Generation, hat sich über seine zwölf Jahre in der NHL die kindliche Begeisterung für seinen Sport ebenso bewahrt wie seinen breiten Akzent. Für drei wunderbare Minuten bringt er, beobachtet von einem Dutzend Action-Kameras, beides zusammen. Der Puck gleitet scheinbar schwerelos zwischen seinem Schläger und seinen Kufen hin und her, die Gegner werden mit einem schlichten Handgriff in die Bande gedrückt. Die GoPro ist nicht mehr hier, um laut „Spektakel“ zu schreien. Es ist Malkin, der schreit und die Kamera über das Eis kreiselnd mitreißt, bis beide ungebremst in die Bande rasseln.

Karsten Munt

 

Hoffentlich ist das alles nur gestellt

Webvideos sind in der Regel kurz. Von dem Restaurantbesuch in Japan bzw. von der (tiefen) Erfahrung japanischer Kultur – je nachdem, wessen Perspektive eingenommen wird – in diesem Video gibt es auch einen Zusammenschnitt von circa sieben Minuten. In diesem scheint der Wahnsinn aber nur durch. Wirklich offenbart und vor allem entfaltet er sich in einem Handystream, der während der Dreharbeiten das Essen live ins Internet übertrug. 70 Minuten dauert das Ganze, und nicht nur die Länge macht es schwer durchzuhalten. Am besten wird nur ab und zu vorbeigeschaut, zu den Höhepunkten, während der Ton sonst nur nebenherläuft.

Conan O’Brien bringt in seiner Late Night Show immer wieder Segmente mit seinen Mitarbeitern unter, in denen Gescriptetes auf Improvisation trifft. Einer, der dabei immer wiederkehrt, ist Associate Producer Jordan Schlansky, bei dem es unmöglich zu sagen ist, ob er eine Kunstfigur ist oder doch „the real deal“. Manchmal scheint die Maske aus Snobismus und Verunsicherung zu fallen, wenn sein stoisches, alles ertragendes Gesicht in ein teuflisches Lachen umbricht und er in sarkastische Kommentare verfällt. Ansonsten: ewig dauernde, besserwisserische Monologe über die intensive Erfahrung der Welt, die wie aus Kalendersprüchen zusammengesetzt wirken, ebensolche Monologe über die Eigenheiten anderer Kulturen, die aus einem Reiseführer stammen könnten, und noch mehr Monologe, die einem Schlaubi Schlumpf würdig wären. So jemanden kann es eigentlich nicht geben, aber doch scheint er so zu sein.

Conan treibt meist ein ambivalentes Spiel mit ihm. Schlanskys Herablassung und seine Verbarrikadierung hinter einem Pokerface scheint er mit Demütigungen brechen zu wollen. Ihre Aufeinandertreffen sind meist schmerzhaft anzusehen. Die Frage dahinter ist aber immer, wie real sie sind. Und nirgendwo ist diese Frage dringlicher als in den 70 grausam dysfunktionalen Minuten bei einem Essen in Japan, bei dem zeitweise Mord in der Luft liegt. Sie sind faszinierendes Dokument eines Witzes, der sich in Bösartigkeit gewendet hat und wo keiner der beiden zugeben zu können scheint, dass hier gerade etwas schiefläuft. Und so wird es mit jeder Minute schlimmer und anziehender (aus der Ferne betrachtet). Niemand lässt die Maske fallen. Alles wird für eine gute Show getan, die darin zu bestehen scheint, dass ein Chef und sein Angestellter sich völlig ungebührlich zueinander verhalten. Eigentlich ist zu hoffen, dass alles nur gestellt ist. Aber: The Show Must Go On.

Robert Wagner

 

Theaterstück über eine Welt, die es nicht mehr gibt

„Die beste Pressekonferenz seit Tic Tac Toe“, hieß es schnell in jenen Medien, denen gerade eigentlich eine Lehre in Sachen Respekt zuteilwerden sollte. Der Internet-Hype um die von den Bossen des FC Bayern München eigens einberufene Pressekonferenz entstand bereits, während diese noch lief, weil schnell klar war, dass hier ein Schuss gewaltig nach hinten losging. Der dauergrimmige Geschäftsführer Karl-Heinz Rummenigge, der stets drauflospolternde Präsident Uli Hoeneß und der neue Sportdirektor Hasan Salihamidžić, von bösen Zungen als Praktikant betitelt, saßen da gemeinsam auf einem Podium und erklärten den anwesenden Medienvertretern, dass der bislang nicht geklärte Grund für die Zusammenkunft sie selbst und ihre respektlose Berichterstattung zur Bayern-Krise seien.

Toll ist das halbstündige Video aber nicht nur wegen den bekannten Highlights: wegen der einführenden Berufung aufs Grundgesetz, das laut Rummenigge für arme Sportler, die sich als Altherrenfußballer beschimpfen lassen müssten, wohl nicht gelte; wegen der dramaturgisch feinen Ironie, mit der Hoeneß nur kurze Zeit später erklärt, Ex-Spieler Juan Bernat habe „einen Scheiß zusammengespielt“; wegen der bierernsten Miene, mit der mediale Praktiken, die niemanden mehr überraschen können, empört an den Pranger gestellt werden, oder wegen der unzähligen Verhedderungen und Wortkreationen – die „hämisch-faktische Berichterstattung“, die man sich nicht mehr bieten lassen wolle; der Uli, der sich selbst nicht „strangulieren“ will, der Hinweis, dass „Paste and Copy bei der Bildzeitung dann doch nicht die Erfüllung eines Jobs“ sei.

Toll ist diese Pressekonferenz in erster Linie als ein Theaterstück über eine Welt, die es nicht mehr gibt. Wenn das Auftreten der Bayern-Bosse auch trumpesk erscheinen mag, es existieren hier keine Wählerschaft, kein Twitter, keine Fox News, was die ganze Sache umso tragischer macht. Weniger als Arroganz und Selbstherrlichkeit fasziniert da eine Unschuld, die völlige Unkenntnis einer Gegenwart, die nach neuen Regeln funktioniert, eine Unkenntnis, die wohl nur besitzen kann, wer sich von dieser Gegenwart vollkommen abzuschirmen imstande ist. Hier sitzen zwei auf der Bühne, deren Medienkompetenz dem Medienwandel uneinholbar hinterherhinkt; hier sitzen zwei, die suggerieren, die Welt würde schon wieder eine andere, wenn sie jetzt nur mal ordentlich auf den Tisch hauen. Hier sprechen zwei in einen Resonanzraum, den es nicht mehr gibt, und werden dabei live in einen anderen gestreamt.

Till Kadritzke


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