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Caught Stealing

Wenn der Herbst naht

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Fantasievolle Action-Set-Pieces
Wie einfach Solidarität sein kann
Atemraubende Leichtigkeit
Bewegung statt Leiden
Fulminant geht es los in Julia Ducournaus in Cannes heiß erwartetem zweitem Film nach ihrem Debüt vor ein paar Jahren in der Semaine de la Critique mit Raw (Grave, 2016). Die französische Regisseurin durchschreitet mit ihrer Protagonistin eine Art erotischen Autosalon: Frauen tanzen halbnackt in sexuellen Posen auf Neuwagen. Es geht ganz schnell, die Kamera ist so bewegt wie die zielstrebige Alexia (Agathe Rousselle). Schon jetzt ist klar: Sie lässt sich nichts sagen, sicher nicht von den lechzenden, um Autogramme bettelnden Männern, die sie in Windeseile abfertigt, zur Seite schiebt. Und kurz darauf, unter der Dusche mit den anderen Performerinnen, wird sie auch den anderen Frauen gegenüber nicht zärtlicher.
Momente intensivster Erfahrung
Alexias Blick in Titane ist glasklar: auf der Lauer, immer bereit für den nächsten Angriff, oder besser: für die nächste Verteidigung. Denn vor allem will sie in Ruhe gelassen werden, weicht aus, antwortet auch auf direkte Fragen nicht. Unter der Dusche kommt es gleich zu einer fantastischen Miniatur dessen, was den gesamten Film umtreibt: Unfall, Nähe, Anspannung, Gewalt. Alexias Haare verhaken sich in dem Brustpiercing einer Frau, der sie einen Moment zuvor noch nicht mal ihren Namen sagen wollte. Die Kamera ist dicht dran, fokussiert erst das Komödiantische des Zufalls, dann die körperliche Intimität und das Unwohlsein der beiden, verlängert das Unangenehme, nimmt die Schmerzen in den Mittelpunkt, dann noch kurz die Perspektive von außen, die das Absurde betont, bevor sie mit einer rabiaten Bewegung von Alexia brutal endet.
Auch im Großen arrangiert Ducournau ihren Film entlang dieser Prinzipien der affektiven Überhöhung. Der Ausdehnung von Momenten intensivster Erfahrung, was nicht selten an Konstellationen in Filmen von Nicolas Winding Refn wie Only God Forgives (2013) oder Drive (2011) erinnert. Gerade weil der Soundtrack auch in Titane elementar zur Erfahrung der Bewegungen beiträgt. Das ist weniger sphärisch als bei Refn und lässt viel Pop hinein in die coolen Räume der Gewaltorgien, die nicht nur Ironie kennen, sondern auch den male gaze durchschauen.
Erotische Spannungen, wo sie nichts zu suchen haben
Titane ist kein didaktischer Film und auch nur am Rande diskursiv, aber die Motive haben es in sich: Alexia, die als Kind nach einem Autounfall eine Metallplatte auf den Kopf montiert bekam, ist – eher aus Versehen, könnte man denken – eine Serienmörderin. Als sie merkt, dass sie untertauchen muss, übernimmt sie die Rolle eines Jungen, der seit seiner Kindheit als vermisst gilt, und wird aufgenommen von dessen Vater (Vincent Lindon), dem Kapitän einer Feuerwehrmannschaft, die ausschließlich aus Männern besteht.
Zwar ist Sex eher nebensächlich in diesem Figurengebilde, in dem Familie und Identität befragt werden, aber der Spaß von Ducournaus atemlos heraufbeschworenen Konflikten liegt darin, dass ständig Doppeldeutigkeiten und erotische Spannungen entstehen, wo sie nichts zu suchen haben. Zwischen Vater und Sohn, zwischen den Feuerwehrmännern, die noch dazu nebenbei homophob sind, zwischen Menschen und Extremzuständen. Dass Alexia sich von einer selbstbewussten, robusten Frau zu einem kleinlauten, schüchternen, fragilen Mann entwickelt, wenn sie die Rolle von Adrien einnimmt, kann auf unterschiedlichste Interpretationen hinauslaufen. Vor allem verschreibt sich der Film dem Verwischen herkömmlicher Geschlechterkonzepte und dem Ironisieren ihrer Stereotype. Die gestählten Feuerwehrmänner, die voller Euphorie miteinander tanzen, dicht an dicht, Schweiß an Schweiß, solange die Codes des Bro-Tums respektiert bleiben, eignen sich dafür perfekt.
Kaleidoskop von Ambivalenzen
Mit einer Anspielung auf das Genre der Rape-und-Revenge-Filme beginnt Titane, als nach der Auto-Erotik-Show ein Fan Alexia nicht in Ruhe lassen will, ihr die Zunge tief in den Mund steckt und sie ihn daraufhin kurzerhand zur Strecke bringt. Aber Ducournau hat kein Interesse daran, solche Kausalitäten bestehen zu lassen. Vielmehr verschreibt sich der Film der affektiven Dauer-Elektrisierung als Kaleidoskop von Ambivalenzen, die weder Ursprung noch Ziel kennen.
Auch das unterscheidet Titane vom Kino Refns oder Gaspar Noés, um den schnell überstrapazierten Vergleich zu Ersterem nicht alleine stehen zu lassen: Während die beiden Kerle – man denke bei Noé zuletzt an Climax (2018) oder auch an Love (2015) – psychologische Ursprünge, tiefe Wurzeln und archetypische Wahrheiten proklamieren (oder, je nach Lesart, mit ihnen spielen), lässt Ducournau diese Aspekte mitschwingen, ohne sich auf sie zu versteifen. Die Motive sind da, sie sind klar, aber sie sind nicht essenzialistisch. Vielleicht weil das Genre für sie mehr Spiel ist als Ernst, weil sie Leichtigkeit mitbringt, wo andere sich mühen, die Bedeutsamkeit hochzuhalten, oder weil alles anfängt mit der Metallplatte im Körper, die auf den Kopf stellt, was andersherum nur öd wär.
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