Die Berlinalisierung von Cannes
Immer mehr Filme laufen auf dem größten Festival der Welt. Was Cannes auf den ersten Blick nützt, könnte am Ende nicht nur den Filmschaffenden schaden. Eine Bestandsaufnahme zum Auftakt.

In Cannes hört man dieser Tage an allen Ecken und auf fast allen Terrassen Leute Deutsch sprechen. Vielleicht können sich nach Corona mehr Menschen aus Deutschland als aus anderen Ländern die Reise zum wichtigsten Filmfestival der Welt leisten. Wie immer befinden sich darunter nicht nur Vertreter* der Filmbranche, die hier Filme handeln, pitchen, sichten, bewerten, sondern auch viele offizielle Delegationen von Bund, Ländern und nachgeordneten Stellen. Hundertschaften Politiker*, Bürokraten*, Förderer*, Redakteure* aus Deutschland trifft man hier, was Jahr für Jahr im krassen Gegensatz zur Abwesenheit deutscher Filme im offiziellen Programm steht. Dass sie alle Tausende von Gründen haben, trotzdem hier zu sein, leuchtet ein, schließlich soll es nicht bei diesem Missverhältnis bleiben.
Fromme Wünsche und nackte Zahlen

Als ich gestern Abend mit einer österreichischen Filmförderchefin beim Abendessen saß und sie von ihren Plänen berichtete, auch in diesem Amt sich in Cannes einen Überblick über das aktuelle internationale Kino zu verschaffen, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Das sollten alle tun! So wie German Films sich endlich dazu durchgerungen hat, keine teure Party mit überwiegend deutschen Gästen mehr zu schmeißen, sondern stattdessen kleine Happy Hours zu organisieren, um deutsche und internationale Gäste zu vernetzen, so sollten auch all jene, die nicht ohnehin qua Jobbeschreibung internationale Filme schauen müssen, mehr mitnehmen von diesem Festival als die Treffen mit den Menschen, die sie ohnehin schon kennen. Sie sollten ins Kino gehen und gerade nicht in die wenigen deutsch koproduzierten Filme (die bald auch in Deutschland nachgeholt werden können), sondern mit Neugier durchforsten, was das Programm in seiner Bandbreite alles zu zeigen hat, um Referenzgrößen zu haben für das, was möglich ist im Kino.
Ein frommer Wunsch, werden die Cineasten* unter den Berufszynikern* sagen, mit Blick auf ihre gefüllten Kalender. Das Festival von Cannes macht es ihnen aber auch immer schwerer mit einem Programm, das aus allen Nähten platzt und immer weniger Orientierung im Dickicht das Angebots bietet. Nach einer Ausnahme-Edition 2021, die auf ein Jahr ohne richtige physische Ausgabe im Juli vor zehn Monaten folgte, stehen die Zeichen 2022 nicht auf Rückkehr zur Normalität.

Die nackten Zahlen sprechen bereits eine klare Sprache: Im offiziellen Programm liefen 2018 nur 55 Filme, 2019 waren es 57 Filme, 2021 dagegen 87 Filme, also schon dreißig mehr. 2022 sind es mit 72 Filmen zwar weniger als im Vorjahr, aber deutlich mehr als der frühere Standard. Verteilt sind die Filme wie folgt: 22 im Wettbewerb, 20 in der Nebenreihe Un Certain Regard, zehn laufen außer Konkurrenz (davon vier als Mitternachtsvorstellungen), zwölf als Special Screenings und acht in der neu geborenen Reihe Cannes Première. Mit den 23 Filmen in der Quinzaine des Réalisateurs, den elf in der Semaine de la Critique und den neun in der Reihe ACID landet man bei 115 Langfilmen, ohne Cannes Classics und Strandkino (die Anzahl der Filme in den Nebenreihen ist übrigens zwischen 2019 und 2022 unverändert geblieben). Man könnte noch guten Gewissens die neun neuen Dokumentarfilme von Cannes Classics dazurechnen und wäre so bei insgesamt 124 Filmen. Das ist vergleichbar mit dem (freilich durch Corona etwas eingedampften) Programm der Berlinale, die dieses Jahr ohne Retrospektive und Forum Special 133 Langfilme im Programm hatte.
Charles Tesson, bis letztes Jahr Künstlerischer Leiter der Semaine de la Critique in Cannes, hat den rasanten Anstieg der gezeigten Filme auf Facebook mit einem interessanten Kommentar versehen: „Das erinnert etwas an die Logik einiger großer Fußballvereine, die es sich leisten können, viele Spieler zu kaufen, die zwar wenig spielen (...), deren Haupttugend aber darin besteht, dass sie nicht für die Gegner spielen.“
Weniger Sichtbarkeit für alle

Die Entwicklung ist beunruhigend, vor allem wenn man sich vor Augen führt, dass Cannes insbesondere mit der neuen Première-Sektion darauf abzielt, mehr Filme von bereits etablierten Filmemachern* zu zeigen, ja, diese an sich zu binden, obwohl die Filme keinen anderen (legitimen?) Platz im Programm haben. Es ist augenfällig, dass der Machtkampf mit anderen Filmfestivals, nicht zuletzt Venedig, an Fahrt aufnimmt, seitdem dort die Streamer mit relevanten Premieren von bekannten Regisseur*innen und mit Starpower für Aufmerksamkeit sorgen. Wichtiger aber noch scheint mir die Frage, was es für das Ökosystem von Cannes selbst für Folgen hat. Mehr Filme heißt nämlich im Umkehrschluss weniger Sichtbarkeit für alle, insbesondere für Entdeckungen, ja erst recht für die unabhängigen Nebenreihen Quinzaine, Semaine und ACID, aus denen Jahr für Jahr herausragende Talente und große Stars hervorgehen.
Es ist zwar kein Nullsummenspiel, aber wenn dieses Mehr an Filmen nicht mit größerer Diversität und neuen Zielgruppen einher geht (was wiederum eine weitere Segmentierung des Festivals bedeuten würde), dann kann man ziemlich sicher davon ausgehen, dass alle etwas weniger vom Aufmerksamkeitskuchen abkriegen. Die einzelnen Hypes mag es dann immer noch geben, aber die (ohnehin zu geringe) Bandbreite, für die Cannes mit den diversen Programmen steht, gerät aus dem Blick zugunsten eines Best of derjenigen Autorenfilmer*, deren Namen sich früher einmal durchsetzen konnten. Das ist alles andere als trivial, wenn man auf die massiven Umwälzungen im Kino blickt und auf das Geld, das private Streamer und der Staat in TV und VoD zu Ungunsten des Kinos pumpen. Die eingangs erwähnten offiziellen Delegationen können sich gleichzeitig darauf ausruhen, dass das Programm so unübersichtlich ist, dass man höchstens noch die deutschen Koproduktionen schafft.
*wegen der vielen Berufsbezeichnungen nutze ich in diesem Artikel nur eine abgekürzte Form des Genderns.
Copyright Bilder:
Bilder Teaser: Mathilde Gardel / FDC
Bild 1: Mathilde Petit FDC
Bild 2:Paramount Pictures Corporation – Jim Carrey, The Truman Show by Peter Weir Graphic Design © Hartland Villa
Bild 3: L. Haegeli / FDC
Bild 4: Philippe Quaisse
Kommentare zu „Die Berlinalisierung von Cannes“
Es gibt bisher noch keine Kommentare.