Diagonale 2022: Wunderbar körperlicher Parforceritt

Eine falsche Freiheit im Zillertal, eine Tierdoku à la Zack Snyder und das wertvolle Dokument institutioneller Solidarität: Notizen zu Filmen, die ihre Bilder mal ganz bewusst nicht zu sich kommen lassen, maßlos aufplustern oder erst am Ende durch die Stadt wandern lassen.


Angst vor der eigenen Freiheit: Märzengrund

Im Jahr 1968 fühlt sich der junge Erwachsene Elias (Jakob Mader) ganz frei. Das mag erstmal nicht ungewöhnlich klingen, doch für einen „Bub“ unter der Fuchtel von Bauerneltern im tiefsten Zillertal ist es das schon: Den Hof soll er eines Tages übernehmen, und wenn er, statt schwer zu arbeiten, lieber James Joyce liest oder die ältere und „zu ihrer Schande“ geschiedene Moid (Verena Altenberger) kennenlernt, fangen Vater und Mutter ihn handgreiflich wieder ein. Als in ihm eine Depression heranwächst, die damals als „Schwermütigkeit“ mit Elektroschocks behandelt wurde, verdonnert ihn sein Vater für ein halbes Jahr zum einsamen Aussteigerleben auf der Alm Märzengrund – und dort fühlt sich Elias abseits vom Privatbesitz das erste Mal nicht mehr fremd in der Welt. Die Kamera von Klemens Hufnagl und Paul Sprinz wandert dann genauso frei und mühelos über die Zillertaler Berglandschaft, wie ihr Protagonist in den Bildern umherspringt. Eine Gegend mit Pasolini-Archaik trifft auf einen Blick mit Malick-Transzendenz, doch lässt Märzengrund das nie ganz zu sich kommen, weil eine autoritäre Familie à la Haneke im Hintergrund wacht.

Wie schon in seinem Debütfilm Die beste aller Welten (2017) interessiert sich Adrian Goiginger auch in seinem zweiten Langfilm ernsthaft für eine von der bürgerlichen Familienkonstellation geformte Psyche: Das Aussteigerleben ist ein verwirklichter Traum, aber weil der Regisseur das Träumen beim Wort nimmt, bleibt es hier auch nicht mehr als die entstellte Erfüllung eines Wunsches. „Ich habe Angst vor der eigenen Freiheit“, wird Elias dann auch sagen. Und wenn Märzengrund ein Film über Aussteigerfantasien abseits von Gesellschaft ist, dann auch einer, der diesen Wünschen ihre unbewussten Anteile aufzeigt. Ein Sprung des Films 40 Jahre in die Zukunft zeigt Elias dann mit Gebrechen, die Johannes Krisch im wunderbar körperlichen Parforceritt auf die Leinwand bringt. Und spätestens wenn selbst das Wasserlassen zum großen Schmerz wird und keine medizinische Versorgung in der Nähe ist, zeigt sich, dass die Aufkündigung des Gesellschaftsvertrags auch der Ausstieg aus den modernen Freiheiten ist, die über das Individuum hinausgehen. Das ist die große Tragik, die sich durch Märzengrund zieht und den Film trägt: Die bürgerliche Gesellschaft produziert hier in der Familie die Verweigerung ihrer eigenen Ideale.

 

Zack Snyders neue Tierdoku: The Bastard King

Owen Prümms The Bastard King sieht so aus, als hätte Zack Snyder kurzfristig bei einem Filmprojekt von David Attenborough einspringen müssen. Die Bilder der Löwen sind tatsächlich in der tansanischen Savanne entstanden, wo Prümm für diesen Film insgesamt sieben Jahre mit der Kamera unterwegs war. Und das hat sich durchaus gelohnt: Spektakuläre Jagdaufnahmen von den Raubkatzen, von rasenden Büffelherden, von Kämpfen zwischen Tieren und sogar vom Töten der eigenen Nachkommen gibt es hier zu sehen. Erzählt wird aber eine Geschichte in der Art, wie sie nicht die Tiere, sondern eben die Menschen immer wieder hervorgebracht haben: eine von zwei bis aufs Blut verfeindeten Gruppen und zwei Liebenden, die dazwischenstehen. Zwei Rudel also, die einen mit blauen, die anderen mit gelben Augen, kämpfen ewig um die Macht. Eine blauäugige Löwin und ein gelbäugiger Löwe aber werden sich verlieben und einen Bastard gebären, dem man die Blutsschande an den verschiedenfarbigen Augen ansehen kann.

Um so eine Erzählung zu stemmen, werden die dokumentarischen Bilder der Wildtiere mit allen verfügbaren Mitteln der Kinematografie hemmungslos überformt: Der Kuleschow-Effekt macht die Tiere zu Figuren einer Geschichte, vom overactenden David Oyelowo in nigerianischem Dialekt erzählt und hochgejazzt mit andauernder Zeitlupe, berstendem Electroscore und comicartigen Farbmanipulationen. Alles ist bis aufs Letzte aufgeplustert, um eine Geschichte so eindrücklich zu machen, dass ihre Message noch in die letzte Gehirnzelle jedes Zuschauers gehämmert wird: Märchen seien nichts anderes als Wahrheiten in der Form von Lügen, steht am Anfang geschrieben, und nachdem The Bastards King mit seiner Story bei der Vereinigung der Rudel gegen einen größeren Feind (Spoiler: DER MENSCH!) angelangt ist, wird am Ende mit noch mehr Texttafeln über das Aussterben der Löwen informiert.

Prümm glaubt an die Kraft der Parabel und hat dafür einen Film geschaffen, in dem wir voll und ganz eintauchen sollen, um durch den 90-minütigen Perspektivwechsel mal ordentlich etwas dazugelernt zu haben. Selbstbewusst kündigen die anwesenden Produzenten vor dem Screening denn auch an, es sei ja ganz normal, sich mit den Tieren im Film zu identifizieren. Und dass genau das nicht aufgeht, macht The Bastard King paradoxerweise dann doch zu einem interessanten Filmexperiment. Egal wie sehr die dokumentarischen Bilder der Tiere hier Instrument werden, ein letzter Rest Natur in ihnen leistet einen unbändigen Widerstand gegen die Vereinnahmung der menschlichen Erzählmaschine. Die Tiere wollen einfach nicht ganz zur „einäugigen Königin“, zum brutalen „Gaara“ oder zum messianischen „Bastard King“ werden. Vielleicht handelt Prümms Film also tatsächlich vom problematisch gewordenen Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, nur liegt das nicht in der Kraft einer Geschichte, die auch von jedem anderen Medium erzählt werden könnte, sondern im Widerstreit der filmischen Ästhetik selbst.

 

Archiv der Prekarität: Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien

Am Ende gibt es einen der wenigen Momente, in denen der dokumentarische Blick die Innenräume der titelgebenden Institution verlässt. Eine Schnittfolge durchwandert dann einzelne Stadtteile Wiens: allerlei Wohnanlagen und Mehrfamilienhäuser und schließlich das Bild von alles überragenden Wolkenkratzern mit verspiegelter, undurchsichtiger Fassade. Hier sind all die Arbeitnehmer, „die Vielen“ des Titels einquartiert, und dagegen treten sie an: eine scheinbar fremde, viel zu große Macht, die ohne professionelle Hilfe kaum zu durchschauen, gar zu verstehen ist. Mit solcher Ohnmächtigkeit stehen die Arbeiter zuvor immer wieder an den Schaltern oder sitzen an den Tischen der Beratungstermine ihrer gesetzlich gesicherten Interessenvertretung in Österreich, von der Constantin Wulff mit seinem neuen Film Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien ein ziemlich wertvolles Dokument angelegt hat.

Wulff zeigt die Institution wie eine rettende Insel innerhalb einer deregulierten Marktwirtschaft namens Österreich, wo Unternehmen ihre Verantwortung gegenüber den Angestellten an eine ganze Kette von Subunternehmen abgeben, auch mal über mehrere Monate gar kein Lohn ausgezahlt wird, wo versucht wird, Kündigungen als einvernehmlichen Vertrag ohne Abfindung zu verkaufen oder Trinkverbote in der Fabrik erlassen werden, um die Produktivität anzukurbeln. Die Arbeiterkammer Wien ist ein regelrechtes Archiv für all die haarsträubenden Geschichten und Erfahrungen aus der gegenwärtigen sozialen Realität der österreichischen Arbeiterschaft. Und natürlich ein Helfer, der vor allem mit juristischer Beratung, voller Geduld und Fingerspitzengefühl versucht, das genaue Geschehen zu überblicken und entsprechend darauf zu reagieren. Wulffs Film lässt diesen Gesprächen genug Zeit, um dabei selbst ein Bild derjenigen zu zeichnen, auf denen die Arbeitslast der österreichischen Gesellschaft verteilt wird: Für die Vielen ist einer der wenigen Filme, bei denen es eine ziemlich schlechte Nachricht ist, wenn Migrant*innen, Frauen oder Personen mit Behinderung ganz selbstverständlich die Bilder bevölkern.

Eindeutige Referenz dieses ausführlichen Institutionenporträts sind die Filme von Frederick Wiseman. Wulff setzt auf die Ästhetik des direct cinema und verzichtet voll und ganz auf einen Off-Kommentar, einordnende Texttafeln oder talking heads. Zwar wird sich der ganzen Idee eines Kampfes für die Gerechtigkeit und Demokratie durch institutionalisierte Solidarität mit spürbarer Sympathie angenähert, aber doch liegen die Karten hier ganz offen auf dem Tisch. Es ließen sich sicherlich so einige Thesen aus diesem Film kondensieren, doch schafft Wulff weit mehr als die Bebilderung soziologischer Studien. Für die Vielen versucht die Arbeiterkammer in ihrer Tätigkeit und ihrem Selbstverständnis auf die Leinwand zu bringen; seiner Zuschauerschaft soll ermöglicht werden, sich frei zu dem zu verhalten, was diese Institution in der Gegenwart alles darstellt: mit der Pandemie selbst in die Krise geratener Arbeitsplatz, juristische Beratungsstelle, Interessenvertretung im Parlament, keynesianischer Thinktank, sich selbst bewerbendes Unternehmen, soziokulturelle Begegnungsstätte, bürokratische Maschinerie, Versuch, die Geschichte der Arbeiterbewegung weiterzuschreiben.

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