Der integrierte Film: 133 Stunden deutsches Kino

Einheitsbrei aus Arthaus-Problemgewälze und Mainstreamklamauk? Lukas Foerster hat sich sämtliche heimischen Produktionen angesehen, die 2024 ins Kino kamen. Eine Bestandsaufnahme, die viele Klischees über das deutsche Kino widerlegt, aber auch eine filmästhetische Bruchlinie hervortreten lässt.

80 Filme. Bei einer angenommenen durchschnittlichen Laufzeit von 100 Minuten sind das insgesamt 133 Stunden beziehungsweise fünfeinhalb Tage. So viel Spielfilm hat das deutsche Kino den deutschen Kinos im Jahr 2024 zugemutet.

Zumindest, das sei gleich hinzugefügt, gemäß den Kriterien, die der Verband der deutschen Filmkritik aufstellt, um den Preis der deutschen Filmkritik in der Sektion Spielfilm zu vergeben. Zunächst schaut die Sache simpel genug aus: Nominiert sind alle deutschen Spielfilme, die im Kalenderjahr 2024 einen regulären deutschen Kinostart hatten. Nur dass gleich mehrere Teufel in Details stecken: Keineswegs ist stets ausgemacht, was noch ein Spiel- oder bereits ein Dokumentarfilm ist; viele Filme, die auf den Listen der Verleihern auftauchen, muss man im Kinoprogramm selbst am Startwochenende mit der Lupe suchen; und was genau einen Film zu einem „deutschen“ macht, ist ganz besonders unklar. Eine Beschränkung auf deutsche Dialoge im Film würde, unter anderem, Tilman Singers Cuckoo ausschließen; würden nur Filme von Regisseuren zugelassen, die einen deutschen Pass haben, könnte die – zudem auf Farsi gedrehte – aktuelle deutsche Oscarhoffnung, Mohammad Rasoulofs Die Saat des heiligen Feigenbaums, nicht nominiert werden; ginge es nur um das Produktionsland, wäre Der Spatz im Kamin – dessen Regisseur Ramon Zürcher zudem Schweizer ist – nicht dabei.

Falsche Diagnosen

Man merkt schnell: Es gibt mehr Grenz- und Sonderfälle, als man denkt. Schon auf formal-definitorischer Ebene lässt sich das deutsche Kino nicht allseitig konsensuell einhegen. Wäre ja auch doof, wenn. Eine andere, vielleicht noch wichtigere Frage ist freilich: Wer schaut sich das alles an? Die Antwort: zur Gänze vermutlich nur die Jury des Preises der deutschen Filmkritik. Wobei selbst da für gewöhnlich arbeitsteilig vorgegangen wird. Ich hatte mir allerdings, als ich zugesagt hatte, dieses Jahr Teil der Jury zu sein, gleich vorgenommen, wirklich alle Filme, die zur Auswahl stehen, anzuschauen. Wenn schon, denn schon.

Inzwischen habe ich diese selbstgestellte Aufgabe hinter mich gebracht. Im Folgenden einige Gedanken zu dem, was mir dabei vor die Augen gekommen ist. Dieser Text erscheint vor der Entscheidung über die Preisvergabe und möchte dieser in keiner Weise vorgreifen. Insofern wird es im Folgenden nicht um Daumen hoch oder Daumen runter und auch nicht um Seherfahrungen im engeren Sinne gehen; vielmehr möchte ich mich an einer etwas abstrakteren Perspektive versuchen: Was wird abgebildet im deutschen Kino, und wo sind seine entscheidenden Bruchlinien zu verorten?

Pauschal lässt sich zunächst sagen: Die meisten Klischees, die übers deutsche Kino im Umlauf sind, bestätigen sich dezidiert nicht, wenn man sich ihm ohne die Filter des eigenen Geschmacks oder der Diskurse in der eigenen Bubble nähert. Am allerwenigsten zum Glück dasjenige vom deutschen Kino als einem Einheitsbrei, der, je nach Scheuklappenwahl des Betrachters, nur aus tristem Arthaus-Problemgewälze oder dünnste Bretter bohrendem Mainstreamklamauk besteht. Auch andere, nicht gar so grob verallgemeinernde Diagnosen, zum Beispiel die einer um sich greifenden Mittelklassesaturiertheit auf deutschen Leinwänden oder eines Mangels an genuinen Genrestoffen, lassen sich empirisch rasch (beziehungsweise eben: durch die Sichtung von 80 Filmen) und ziemlich komplett widerlegen.

Deutsche Diversität

Auch unabhängig von erbsenzählender statistischer Auswertung kann man festhalten: Das deutsche Kino ist divers. Und zwar in fast jeder denkbaren Hinsicht: stilistisch, ökonomisch, repräsentationspolitisch. Filmsprachlich reicht das Spektrum von risikoarmem Mainstream-Lustspiel (Der Vierer), hochglanzpoliertem Biopic-Kunsthandwerk (Münter & Kandinsky) und gut abgehangenen Autorenfilmerpositionen (In Liebe, Eure Hilde) über ambitionierte Übungen in geläufigen Genres wie dem Coming-of-Age-Drama (Ellbogen) oder dem Gangsterfilm (Schock) bis zu keinerlei stilistischem Konsens verpflichteten Außenseiterpositionen (Deine schöne Hölle) und genuinen What-the-Fuck-Singularitäten (Stille). No-Budget-Filme, die wie an einem Wochenende mit Kumpels heruntergefilmt ausschauen (Der Dritte Gast), hat das deutsche Kino ebenso zu bieten wie – sagen wir mal – Blockbusterversuche (Hagen – Im Tal der Nibelungen). Ostdeutsche Themen sind in diversen Facetten und Tonlagen präsent, von nostalgisch (Zwei zu Eins) über kritisch (Jenseits der blauen Grenze) bis sperrig (Zone) und wurstig (Micha denkt groß); migrantische Erzählungen dito (nur zum Beispiel: Shahid, Die Amitié, The Woddafucka Thing), aber natürlich auch blütenweißes Bio(west-)deutschtum (Der Spitzname) sowie dessen dialektische Aufhebung (Alter weißer Mann). Es gibt queere Filme (Knochen und Namen, LasVegas) und feministische Filme (Die geschützten Männer) und jede Menge Filme, die man aus queerer oder feministischer Perspektive kritisieren könnte. Ein Arbeiterklassemärchen wie Rock ‘n’ Roll Ringo steht neben einer Upper-Class-Farce wie Alles Fifty-Fifty, ein in lokaler (Ruhrpott-)Kultur verwurzeltes Alltagsdrama wie Alle die du bist neben einem zeitgeistigen Globetrotter-Narrativ wie Eine Million Minuten. (Und es ist, nebenbei bemerkt, keineswegs ausgemacht, dass das Lokalkolorit den Jetset automatisch qualitativ aussticht.) Das deutsche Kino ist alles gleichzeitig: billo und edel, querköpfig und konformistisch, privilegiert und privilegienbewusst, hyperreflexiv und holzhammertumb.

Wie um den ultimativen Beweis der Vielseitigkeit in einem einzigen Film zu erbringen, kommt kurz vor Jahresabschluss mit Andreas Krönecks Raub ihren Atem noch eine Brian-de-Palma-Gedächtnis-Mischung aus Erotikdrama, Folter-Horror und Agententhriller ins Kino; ein Film, der außerdem, wie nebenbei, mit dem Schwäbischen und dem Sächsischen gleich zwei im nach wie vor recht hochdeutsch orientierten deutschen Kino seltene Dialekte durch die Kinoboxen schallen lässt. Auch an dieser Stelle sei gleich dazu gesagt: Zwischen Diversität und Qualität besteht keinerlei Zusammenhang.

Schwerpunkte und Häufungen

Es gibt also (fast) alles, aber natürlich trotzdem, wie bei jeder mehr oder weniger zufällig ausgewählten Gruppe von 80 Filmen nicht anders zu erwarten: von manchem mehr als von anderem. Allerdings sind die Schwerpunkte und Häufungen, die sich im 2024er-Korpus ausmachen lassen, gleichfalls keineswegs einheitlich. Immerhin lässt sich feststellen, dass sie sich quer durch alle Budgetklassen ziehen: Was dem Popcorn-Mainstream die Diskurskomödie – oder, mit Kamil Moll: Social-Engineering-Komödie – ist (Alter weißer Mann, Der Spitzname, vom Gestus her auch: Der Vierer), ist dem Hochglanz-Arthauskino die Künstlerbiografie (Münter & Kandinsky, Cranko, Die Herrlichkeit des Lebens) und dem engagierten Low-Budget-Film das Road Movie (More Than Strangers, Rohbau, Marianengraben, Das Meer ist der Himmel). Durchaus überraschend ist eine Häufung von Mystery-Horror-Filmen im ländlichen Setting (Cuckoo, Spirit in the Blood, Hundswut, Milchzähne, Home Sweet Home), weit weniger die fortgesetzte Präsenz von NS-Aufarbeitungskino (Stella. Ein Leben, Führer und Verführer, In Liebe, Eure Hilde, Treasure – Familie ist ein fremdes Land, Die Ermittlung) sowie von Low-Budget-Polit-, beziehungsweise Thesenkino (Die Q ist ein Tier, Die Einsamkeit der Großstädter*innen, Die Amitié, Abendland, Die geschützten Männer, Martin liest den Koran). Jeder Versuch, alle diese isolierten Cluster einer Mastererzählung unterzuordnen, dürfte zum Scheitern verurteilt sein. Das deutsche Kino ist (und vermutlich: bleibt) polyzentrisch.

Freilich hat auch eine polyzentrische Vielheit ein Außen. Wie wir von Godard wissen, kritisiert das Ungefilmte das Gefilmte. So konfrontativ muss man das nicht einmal formulieren. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass jede Selektion alles nicht Selektierte ausschließt, beziehungsweise invisibilisiert. Mit anderen Worten: Jeder einzelne der 80 Filme verdeckt mithilfe seiner die Aufmerksamkeit fesselnden sinnlichen Präsenz seine eigene Kontingenz; die Tatsache also, dass er auch ein anderer sein könnte. Was nun sind Desiderate des deutschen Kinos im Jahr 2024? Theoretisch unendlich viele. Ich beschränke mich auf zwei (und bringe dabei natürlich doch wieder persönliche Vorlieben ins Spiel.)

Zwei Desiderate

Zum einen fällt auf, wie wenige prägnante Auteur-Positionen unter den 80 Filmen vertreten sind; also wie wenige wiedererkennbare Regiehandschriften, die sich über eine längere Filmografie hinweg entwickelt haben, in einem einzelnen Kinojahr auftauchen. Bei einigermaßen strenger Zählart sind es 2024 gerade einmal drei: Thomas Arslan hat einen herausragenden Thomas-Arslan-Film gedreht (Verbrannte Erde), Oskar Roehler hat einen Oskar-Roehler-Film gedreht (Bad Director), Andreas Dresens In Liebe, Eure Hilde wurde oben schon erwähnt. Manch einer wird noch Matthias Glasner (Sterben) oder Michael Klier (Zwischen uns der Fluss) dazurechnen wollen; und vielleicht hatte ich mit dem aktuellen Jahrgang auch schlicht Pech. Ganz so wenige sind es in den meisten anderen Jahren vermutlich nicht. Aber die magere Autorenfilm-Bilanz ist doch ein deutlicher Hinweis darauf, wie schwierig es in Deutschland ist, gleichzeitig kontinuierlich und künstlerisch ambitioniert als Regisseur zu arbeiten. Dementsprechend lange sind in vielen Fällen die Pausen zwischen den Filmen. Tom Tykwer hat seinen letzten Spielfilm vor acht Jahren gedreht (2025 kommt ein neuer), Maren Ade den ihren ebenfalls, Valeska Grisebach den ihren vor sieben, Benjamin Heisenberg den seinen gar vor zehn (auch von ihm kommt 2025 ein neuer). Es mag da jeweils gute, persönliche Gründe geben; in der Summe bleibt dennoch festzuhalten: Die Orientierungsfunktion, die prägnante Autorenpositionen (oder auch, könnte man ergänzen, filmästhetische Interessengemeinschaften wie der Neue Deutsche Film oder die Berliner Schule) früher übernommen hatten, ist weitgehend weggefallen. Angemessener Ersatz ist nicht in Sicht.

Zum anderen, und vielleicht ist dieser Punkt noch wichtiger, fällt ins Auge, dass die weit überwiegende Mehrheit der im Kino angelaufenen deutschen Filme mithilfe deutscher Filmfördergelder entstanden sind. Man mag das für eine Selbstverständlichkeit oder jedenfalls für nicht der Rede wert halten. Deshalb noch einmal andersherum formuliert (und eben hier komme ich um meine persönlichen Vorlieben nicht mehr herum): Es fällt auf, dass unter den interessantesten Filmen des Jahres erstaunlich viele sind, die nicht dieser Mehrheit angehören; sondern zur Minderheit derjenigen Filme zählen, die ohne oder – da das ziemlich selten ist – mit sehr wenig Förderung realisiert wurden. Zu nennen wären mindestens Sad Jokes, Deine schöne Hölle, Zone und Shahid. Zweifellos fügen jedoch auch, zum Beispiel, Die Amitié, Die Einsamkeit der Großstädter*innen, Der Junge, dem die Welt gehört, Martin liest den Koran und Stille dem deutschen Kino mehr Idiosynkrasie und Persönlichkeit hinzu als die allermeisten Filme, die solide im Fördernetz verankert sind (als Faustregel vielleicht: solide verankert sind alle Filme, in deren Abspann mehr als zwei Förderinstitutionen genannt werden).

Förder- statt Autorenkino

Die schillernden Außenseiterpositionen verweisen ex negativo auf das Systemische des deutschen Kinos. In der Tat stammen Filme, die außerhalb oder am Rande der Fördertöpfe entstehen, überdurchschnittlich häufig von Regisseuren ohne Filmhochschulabschluss. Wobei gleich dazu gesagt werden muss: Ganz „von außen“ kommen die wenigsten. Aber doch, immerhin, aus anderen, etwas entlegeneren Ecken des Film- und Kulturbetriebs. Insbesondere fällt auf, dass unter den genuinen Außenseiterwerken des Filmjahres 2024 gleich mehrere Regiearbeiten von Schauspielern zu finden sind. Als Schauspieler ist man, so scheint es, am ehesten vernetzt genug, um dem System ein Schnippchen schlagen und, zumindest einigermaßen, „auf eigene Rechnung“ drehen zu können.

Es steht zu vermuten, dass die genannten Außenseiterfilme nur die Spitze des Eisbergs darstellen; dass es also eine nicht geringe Dunkelziffer an Filmen gibt, die, an den Fördersystemen vorbei produziert, im Anschluss auch keine reguläre Kinoauswertung erhalten. Nicht zuletzt, weil sie kaum eine Möglichkeit haben, Verleihförderung zu erhalten. Die deutsche Filmszene ist gewissermaßen überintegriert: Filmhochschulabsolventen drehen Filmförderfilme, die im Anschluss Förderverleihstarts erhalten. Zumeist allerdings, siehe oben, ohne sich dadurch eine Autorensignatur zu erarbeiten; das System ist auf Förderkino geeicht, nicht auf Autorenkino.

Diese Diagnose ist nicht neu, die Beschwerden darüber sind es ebenso wenig. Seit Klaus Lemkes Tod ist allerdings sogar die Systemstelle des Störenfrieds im System vakant. Man muss Lemkes Tiraden wider das Kino der Staatsknete nicht vollumfänglich affirmieren, um noch einen Schritt weiterzugehen und folgende Hypothese aufzustellen: Die entscheidende filmästhetische Bruchlinie im deutschen Kino der Gegenwart dürfte nicht zwischen Kunst und Kommerz verlaufen und erst recht nicht entlang einer der diversen Fronten auf den Schlachtfeldern der Identitätspolitik; sondern zwischen integrierten und exkludierten Filmen.

Was folgt daraus? Aus meiner Sicht gerade nicht die Forderung an die Förderung, doch in Zukunft bitte auch Außenseiterpositionen zu finanzieren; das würde in Einzelfällen zweifellos zu schönen Filmen führen, insgesamt jedoch auf ein Paradox hinauslaufen: Ein integrierter Außenseiter ist keiner mehr. Vielmehr wäre es die Aufgabe der Kritik, das deutsche Kino verstärkt auf eben diese Mechanismen der In- und Exklusion hin zu beobachten – und dem exkludierten Teil der Filmproduktion deutlich mehr Aufmerksamkeit zu schenken als bisher. Die Kritiker hätten allen Grund dazu – schließlich sind sie selbst vom Filmfördersystem mit sehr wenigen Ausnahmen (streng genommen gibt es sogar nur eine einzige Ausnahme: den Siegfried Kracauer Preis der Filmkritik) komplett exkludiert.

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