Das Nerdtum zum Beruf machen – Kuratieren fürs Kino

Kuratoren sollen plötzlich leisten, was das Kino aus eigener Kraft nicht mehr schafft. Ein paar Anmerkungen zum Wandel eines Berufsbildes und zur Sinnkrise eines Mediums.

„But I don’t see why you should be interested in my rather dusty career – teacher, curator – when you lead such a gay and exciting life yourself“, wundert sich Dr. Galbraith (James Bell), der wissenschaftliche Leiter, oder eben Kurator, des Heimatmuseums einer Kleinstadt in New Mexico. Er habe zwar gerade eine interessante Ausstellung zu indianischen Bräuchen organisiert, aber der Beruf seiner Gesprächspartnerin – der Tänzerin Kiki (Jean Brooks) – sei doch viel aufregender.

Nun hat Dr. Galbraith gute Gründe, sein eigenes Leben als wenig spektakulär darzustellen: Am Ende von Jacques Tourneurs Horrorfilmklassiker The Leopard Man (1943) stellt sich heraus, dass er die hauptsächliche Schuld trägt an einer Mordserie, die einer entflohenen Raubkatze angehängt worden war. Dennoch macht die Szene deutlich, dass das Image des Kuratorenberufs in den 1940ern nicht allzu glamourös gewesen sein dürfte: Das sind halt Leute, die in Archiven vergraben Spezialwissen anhäufen und anschließend Glasvitrinen mit mal mehr, mal weniger spannenden Artefakten bestücken. Die ideale Tarnung für einen Mörder.

Grundsätzlich gilt die Berufsbeschreibung immer noch: Kuratorin, Kurator ist, wer sein Nerdtum zum Beruf gemacht hat, es aber nicht lediglich am Schreibtisch kultiviert (als Wissenschaftler zum Beispiel), sondern damit in die Welt, in den Bereich des öffentlich Sichtbaren drängt. Nur dass, parallel zum soziokulturellen Aufstieg des Nerdtums, in den letzten Jahrzehnten auch die Kuratiererei einen Siegeszug sondergleichen hingelegt hat. Besonders in der Kunstszene haben sich dadurch Verschiebungen ergeben, die schon oft genug ausgiebig diskutiert worden sind – inzwischen existieren ganze Studiengänge und Sonderforschungsbereiche zum Thema.

Wie weit sich das Berufsbild seit The Leopard Man gewandelt hat, zeigt sich in einem der meistdiskutierten Filme der letzten Jahre: Hauptfigur in Ruben Östlunds The Square (2017) ist Christian (Claes Bang), Chefkurator eines Museums für zeitgenössische Kunst. Christian steht in jedem Raum, den er betritt, automatisch im Mittelpunkt. Nicht die Künstlerinnen und Künstler, die er ausstellt, sondern er ist der Star. Eine Szene früh im Film, in der er auf einer Freitreppe vor einer Gruppe versammelter Journalisten ein neues Projekt vorstellt, gerät zur Machtdemonstration: Jedes Wort, jede Geste ist ein Akt der Kontrolle. Fast schon das einzige Programm von Östlunds leider schrecklich aufdringlichem Film besteht anschließend darin, diesen Popanz wieder von seinem Sockel zu stoßen.

Im engeren Feld des Kinos ist die im Prinzip des Kuratorischen gebündelte Verzahnung von kulturellem Kapital, institutioneller Macht und Marktmechanismen noch nicht ganz so weit fortgeschritten wie in der bildenden Kunst. Dennoch machen sich die Kuratoren mitsamt dem zugehörigen Diskurs inzwischen auch in der Filmkultur deutlicher bemerkbar. Zuletzt erschien etwa in der „Zeit“ ein Text von Jennifer Borrmann zum Thema. Borrmann setzt „kuratierte“ Filmprogramme in Opposition zu „programmierten“: Wo letztere sich vor allem am Angebot der kommerziellen Verleiher und des Marktes orientierten, basierten erstere auf einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit Film als einem gleichzeitig ästhetischen und historischen Gegenstand.

Das ist eine grundsätzlich einleuchtende Unterscheidung, auch, weil sie die soziokulturelle Aufladung der Kuratorenfigur gar nicht benötigt. Im Folgenden nur zwei Anmerkungen. Die erste betrifft die Praxis des Vorführens von Filmen, die zweite, eher systematische, doch noch einmal die Frage nach der derzeitigen gefühlten Allgegenwart des Kuratorischen.

Krise der Infrastruktur

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Unterscheidung zwischen Programmieren und Kuratieren im Kinobetrieb selten ganz trennscharf ist. Zum einen, weil jede Programmentscheidung, ganz egal aus welchen Gründen sie getroffen wird, auch eine inhaltliche Setzung darstellt. Kommerziell arbeitende Kinos bestimmen, selbst wenn sie keinen einzigen Gedanken auf die inhaltlichen oder formalen Qualitäten der bei ihnen angebotenen Filme verschwenden sollten (was sicher nicht immer der Fall ist), zwangsläufig mit, was wir uns unter Kino vorstellen, sie setzen Trends, die oftmals sogar über die Grenzen des Filmdiskurses hinaus in andere Gesellschaftsbereiche wie die Mode oder Subkulturen ausstrahlen.

Hinzu kommt, dass der Filmmarkt chaotischer und unberechenbarer ist als andere Geschäftsfelder. So viel Geld die Filmindustrie in Zielgruppenanalyse investiert, so wenig kann sie letztlich exakt vorhersagen, was funktionieren wird und was nicht. Diese Unsicherheit überträgt sich auf Kinobetreiber – sie eröffnet jedoch auch Spielräume für Experimente. Soll heißen: Selbst für Multiplexe kann sich kuratorischer Wagemut unter Umständen lohnen, man denke etwa an die Eventstarts indischer und chinesischer Filme, die sich in den letzten Jahren etabliert haben.

Andersherum sind die wenigsten kuratorisch ambitionierten Kinos komplett frei von den Zwängen der Programmierung. Das betrifft zunächst das Diktat der Wirtschaftlichkeit, von dem selbst öffentlich geförderte oder ehrenamtlich geführte Kinos sich selten zur Gänze lösen können: Bleiben die Säle leer, lässt sich der Betrieb auf die Dauer schlichtweg nicht rechtfertigen. Auch ist darauf hinzuweisen, dass kuratorisch erarbeitete Filmvorführungen letztlich auf denselben Hilfsmitteln (und organisatorischen Routinen) basieren wie die marktzentrierten Konkurrenzveranstaltungen.

Genau hier dürfte einer der Gründe dafür zu suchen sein, dass die klassischen Orte des kuratierten Kinos in die Krise geraten sind (und durch diese Krise erst die Kuratorin als einzelne, prominente Akteurin auf den Plan gerufen haben). Wenn früher auch weniger finanzkräftige kommunale Kinos ziemlich regelmäßig ältere Filme vorführten, so lag dies nicht zuletzt daran, dass damals eine Infrastruktur vorhanden war, die Repertoirevorstellungen auf vergleichsweise unproblematische Weise ermöglichte. Vor allem existierten eine Reihe spezialisierter Verleihe, die ihre Klassikerkataloge jeweils inklusive Filmkopie und Aufführungsrechten interessierten Kinos zu normalen (das heißt: bezahlbaren) Verleihkonditionen zur Verfügung stellten. Dadurch blieben sowohl der ökonomische Aufwand als auch das finanzielle Risiko in einem vergleichsweise überschaubaren Rahmen.

Heute existieren höchstens noch einige klägliche Reste dieser klassischen Repertoirekinostrukturen; einige wenige Verleiher wie etwa Rapid Eye Movies oder Drop-Out Cinema versuchen, sie mit digitalen Reeditionen hauptsächlich aus dem Bereich der Genrekinogeschichte am Leben zu erhalten, aber die meisten Anbieter haben sich komplett aus dem Geschäft zurückgezogen. Es wäre eine eingehende Untersuchung wert, ob die Ursachen hierfür im mangelnden Zuschauerinteresse, in der Digitalisierung (die praktisch über Nacht die Kopiensammlungen solcher Verleihe, also ihr Betriebskapital, entwertet hat) oder in anderweitigen strukturellen Veränderungen des Filmmarkts zu suchen sind. Jedenfalls haben auch die Majors das Repertoiregeschäft inzwischen weitgehend aufgegeben oder vielmehr das Feld der schottischen Firma Park Circus überlassen, die sich in den letzten Jahren im Bereich des Lizenzhandels mit Filmklassikern eine Monopolstellung erarbeitet hat.

Freilich erwirbt man bei Park Circus im Allgemeinen eben nur eine Lizenz (und selbst die ist teurer als früher). Einige wenige Filme sind zusätzlich, gegen weitere Gebühren, als DCPs verfügbar, alle anderen müssen anderweitig besorgt werden. Besonders für Kinos, die nicht auf Heimmedien wie Blu-rays zurückgreifen möchten, sondern die historisch korrekten, analogen Vorführmedien zum Einsatz bringen wollen, hat sich die Organisation filmgeschichtlich ambitionierter Filmreihen zu einer Sisyphosaufgabe entwickelt, bei der der Aufwand an Zeit und finanziellen Mitteln in keinem Verhältnis mehr steht zu einem – wie auch immer definierten – Ertrag.

Natürlich geht das Programm einiger der gegenwärtigen „kuratierten“ Kinos, insbesondere das von Kinematheken wie der des Berliner Zeughauskinos [full disclosure: der Autor war dort zwei Jahre lang Teil des Programmteams] oder des Wiener Filmmuseums weit über das hinaus, was kommunale Kinos und Filmclubs früher leisten konnten. Bei einigen der dort präsentierten Filmreihen handelt es sich streng genommen um kleine filmhistorische Forschungsprojekte. Dennoch ist es faktisch so, dass vieles, was heute der Spezialanstrengung einer einzelnen Kuratorin oder eines Teams bedarf, früher problemlos im „programmierten“ Alltagsbetrieb möglich war.

Krise der Abbildbarkeit

Anders ausgedrückt: Die Proliferation des Kuratorischen ist Ausdruck einer Krise der Normalität des Kinos. Noch genauer gesagt ist sie Ausdruck der Krise eines bestimmten Selbstverständnisses von Kino. Die kulturelle Praxis Kino mag derzeit auch insgesamt einen schweren Stand haben (freilich nur in Mitteleuropa und Nordamerika, andernorts boomt sie), komplett untergehen wird sie mit ziemlicher Sicherheit nicht so schnell. Im Verschwinden begriffen ist hingegen die Vorstellung vom Kino als einem Ordnungssystem seiner selbst.

Soll heißen: Das Kino bildet sich nicht mehr angemessen auf sich selbst ab. Man mag hier gleich einwenden, dass es dies in vieler Hinsicht noch nie getan hat; vor allem hat das Kino seit seinen Anfängen seine eigene Geschichte zugunsten eines permanenten Aktualitäts- und Erneuerungsfetisches vernachlässigt. Oft genug und völlig zu Recht ist auch auf die zahlreichen blinden Flecken zum Beispiel geografischer Natur hingewiesen worden, die nicht nur die mitteleuropäische Filmkultur, sondern auch die zugehörige Filmgeschichtsschreibung prägen. Das Bild, das das Kino in seinem Alltagsbetrieb von sich selbst zeichnet, ist immer schon defizitär. Und es hat immer schon außerkinematografischer Hilfestellungen bedurft, um zumindest die gröbsten Unschärfen und Verzerrungen einigermaßen zu beheben. Eine Auseinandersetzung mit Filmgeschichte, die nicht auf DVDs und andere digitale Surrogate zurückgreift, ist heute schlichtweg nicht mehr vorstellbar.

Allerdings war Kino, als sozialer Raum und mediales Dispositiv, doch stets der Ort der Synthese geblieben, der – vermutlich einzige – Ort, der all die unterschiedlichen Diskurse über das Kino bündeln konnte. Das Kino ist oder vielmehr war dazu in der Lage, Divergierendes zueinander in ein Verhältnis zu setzen: das Zentrum der Industrie zur Peripherie, das Nahe, Bekannte zum geografisch Fernen, Unbekannten, das Neue zum Alten. Die Unterscheidung zwischen Mainstream und Arthouse sowie die zwischen Aktualitätsbetrieb und Repertoire, die Entstehung spezialisierter Festivals und Filmreihen, die sich beispielsweise dem asiatischen oder dem afrikanischen Film widmen – all das sind Binnendifferenzierungen, mit deren Hilfe das Kino sich selbst, samt allen Ungleichheiten, Ungleichzeitigkeiten und Unsichtbarkeiten, die es seit jeher prägen, repräsentiert. Das Kino repräsentiert das Kino – und macht es navigierbar in dem Sinne, dass es ein Koordinatensystem zur Verfügung stellt, das das einzelne Filmerlebnis in Bezug setzt zu einer Gesamtheit.

Nur dass genau das heute nicht mehr so recht funktioniert. Das real existierende, räumlich und sozial verortete Kino hat sich von dem kulturellen Bedeutungssystem Kino entfremdet. Der tagtägliche Kinobetrieb erklärt sich heute de facto als nicht mehr zuständig für alles, was nicht ganz unbedingt dem Hier und Heute verpflichtet ist. Das hat wiederum, siehe oben, mit Veränderungen der ökonomischen und institutionellen Bedingungen zu tun, mit denen sich die Betreiber konfrontiert sehen. Alternative Kinoräume diverser Art existieren nach wie vor, aber entweder geraten sie unter Anpassungsdruck, oder sie wenden sich von Anfang an nur an Spezialöffentlichkeiten.

Genau das ist die Situation, in der die Kuratoren auftauchen: Sie sollen leisten, was das Kino aus eigener Kraft nicht mehr schafft, sie sollen das Koordinatensystem des Kinos wieder sichtbar machen oder gleich ein komplett neues zeichnen. Damit werden sie in eine Rolle gedrängt, die sie auf Dauer gar nicht erfüllen können. Erst recht, weil sie ganz nebenbei auch noch zahlreiche organisatorische Aufgaben übernehmen sollen, die früher arbeitsteilig erledigt worden waren: Sie sollen die Arbeit des Repertoireverleihs ersetzen und vielleicht auch gleich noch die der Pressestelle und die der Kopienprüferinnen. Als Gegenleistung gibt es selten mehr als einen Ego-Boost. Das Ergebnis sind, siehe The Square: dysfunktionale Institutionen und aufgeplusterte Kuratoren (und aufgeplusterte Filme). Wer die Filmkultur als Ganze erhalten will, sollte jedenfalls eher auf nachhaltige Strukturen hoffen denn auf Kuratorinnen und Kuratoren – wenn deren Tätigkeitsfeld in Zukunft wieder etwas weniger glamourös und allumfassend wird, kann das dem Kino nur nützen.

Der Text ist im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums entstanden und zuerst im Filmdienst erschienen.

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