Das Kino der Zukunft ist digital – so oder so

Das Neue ist der Tod des Bestehenden? Diese Haltung konnte noch nie eine neue Kulturtechnik verhindern, meint der DOK.fest-München-Leiter Daniel Sponsel. In seiner Antwort auf den Beitrag Die Zukunft passiert nicht, sie müsste gedacht werden kritisiert er eine Art von Cinephilie, die weder dem Spielort Kino noch der Filmkultur helfe.

Dieser Gastbeitrag ist eine Antwort auf den Artikel Die Zukunft passiert nicht, sie müsste gedacht werden von Kulturarbeiter Alejandro Bachmann und den Diagonale-Leitern Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber. Der Artikel war als Replik zu Daniel Sponsels Beitrag zum Erfolg der ersten Online-Ausgabe des Dok.fest Münchens erschienen.

Das Kino als Ort für Filmkultur hat seine Selbstverständlichkeit verloren. Die Maßnahmen um den Shutdown in der Corona-Krise haben einen Prozess, der schon längst im Gange ist, stark beschleunigt: Arthouse-, Dokumentarfilm- und Kurzfilmkultur, die zu reellen Tarifen online stattfindet. Verschiedene Filmkulturanbieter und Filmfestivals haben das aktuell erfolgreich und mit großer Reichweite praktiziert. Dabei geht es längst nicht mehr nur um die Frage, über welche Kanäle wir unsere Laufbildmedien rezipieren, sondern um die Inhalte und die Form des Leitmediums Film schlechthin. Bleibt uns der abendfüllende narrative Film, ganz gleich ob fiktional oder nonfiktional, als gesellschaftlich vereinbartes Narrativ erhalten? Lassen sich im Netz die verschiedenen Formate und Wege zum Publikum zusammenbringen, oder erleben wir einen Clash of Cultures im wahrsten Sinne des Wortes? Wer das Kino in jeder Hinsicht erhalten will, muss den Zugang zur Filmkultur über alle Wege gewähren.

Als das Kino noch Kino war

Das Kino als Ort, in dem wir in einem öffentlichen Raum Filme sehen und erleben können, ist schon längst nur noch eine unter mehreren Optionen, um audiovisuelle Erzählungen zu rezipieren. Und doch verbinden wir mit dem Kino noch so viel mehr: Einerseits den dunklen Raum, die große Leinwand mit der umfassenden Blickfeldabdeckung, das leuchtende Bild, dazu der intensive Ton – einnehmende Effekte, denen man sich so schnell nicht entziehen kann und will. Damit verbunden das förmliche Eintauchen in die Geschichten anderer, in fremde Lebenswelten und dadurch unmittelbare Affekte von Identifikation und Empathie. Andererseits, die Begegnung mit Gleichgesinnten, den sozialen Austausch über das Gesehene und Erlebte. Obwohl der soziale Aspekt auch das Momentum sein kann, das einem das Kinoerlebnis verleiden kann. Wer schon einmal neben jemandem mit einer Riesentüte Popcorn oder, noch besser, Nachos mit stark riechendem Käse-Dipp saß, wer dem Tippen ins leuchtende Display des Smartphones zuschauen musste oder dem fortwährenden Gespräch nebenan nicht entkommen konnte, weiß, dass es sich beim emphatischen Kinobegriff um eine Idealisierung und Romantisierung eines Ortes handelt, der auch durch die Artefakte des Lebens geprägt ist – jede Medaille hat zwei Seiten. Architektonisch gesehen ein zumeist schlichter Gebrauchsraum, ist das Kino kulturhistorisch ein mythischer Raum, ein Sehnsuchtsort von großer Bedeutung. Das Kino hat als Leitmedium mit seinen wahlweise utopischen, dystopischen oder auch idealistischen Weltentwürfen ganze Generationen bereichert und geprägt. Und jetzt? Die Geschichten existieren immer noch und wollen erzählt werden, allein die Technik und der Ort dafür sind im Wandel begriffen. Von seinem Mythos befreit und heruntergebrochen auf seine Grundmauern, ist das Kino auch nur ein Business, in dem zur Existenzsicherung Geld verdient werden muss. Es muss sich seinen Platz auf dem Markt der zahlreichen Kulturangebote härter denn je erkämpfen. Die Möglichkeiten für Zuschauerinnen und Zuschauer, Filme zu sehen, sind größer und durch ständig neue Anbieter vielfältiger geworden. Der Markt ist schnell, jeder neue Film verdrängt die aktuellen, und in der Frage der Preispolitik wird die Stimmung zunehmend aggressiver. Die Zukunft des Kinos ist längst seine Gegenwart.

Ein Film ist ein Film ist ein Film?

Die Distribution, die Kanäle, über die wir Filme empfangen und sehen können, ist nur eine der Funktionen, die sich mit der Digitalisierung grundlegend wandeln. Hier ist die Entwicklung eindeutig und unumkehrbar: Das Kino wird sich weiter Richtung Premiumspielstätte entwickeln müssen, um seinen Platz zu verteidigen. Das lineare Fernsehen, mit Ausnahme von Sport und Events, wird aus unserem Sichtfeld verschwinden, das Streaming über diverse Plattformen wird den Großteil des Marktes besetzen. Die andere, noch viel tiefergreifende Evolution der Digitalisierung betrifft die Narration an sich und ihre Gestaltung. Es geht immer weniger um die Frage, über welchen Kanal ich etwas sehe – es geht um viel mehr, nämlich: Wer erzählt in Zukunft wem was wie? Konkret: Was ist der Content von Laufbildmedien, wie sieht er aus, wer produziert ihn, und wie wird das Geld damit verdient? Die Zeit, die Zuschauerinnen und Zuschauer zur Ansicht von Laufbildmedien nicht an dem Endgerät Fernseher oder gar im Kino, sondern am Laptop, am Tablet oder gar am Smartphone verbringen, steigt ständig. Die Rezeption von unabhängigen Laufbildmedien über Plattformen wie YouTube oder die sozialen Medien nimmt gerade unter jungen Menschen einen immer größeren Anteil ein. Gleichzeitig transformieren die Besonderheiten der neuen medialen Dispositive die Herstellung und damit die Wahrnehmung der Medieninhalte: Die geringere Blickfeldabdeckung, die Darstellung im Hochbildformat, die kurze Verweildauer bei erhöhter Schnittfrequenz und die damit verbundenen neuen Voraussetzungen für die Dramaturgie – content and function follows form?

Video Killed the Radio Star

Das Neue ist die Bedrohung und der Tod des Bestehenden. Diese Logik legt eine emotionale Sicht auf die Kulturgeschichte oft nahe. Doch der Eindruck täuscht, diese Befürchtung ist unbegründet: Bisher wurde keine relevante Kulturtechnik oder gar eine Kulturgattung durch ihre Weiterentwicklung zu Grabe getragen. Die Fotografie sollte das Ende der Malerei sein, der Film das der Fotografie, der Ton und die Farbe das Ende des filmischen Erzählens überhaupt. Dann kam das Fernsehen und das Privatfernsehen, und nun sind es die Online-Plattformen. Und immer wird das Neue von der etablierten Kulturproduktion als niederschwellig und minderwertig definiert. Allerdings konnte diese kulturpessimistische Haltung noch nie eine funktionierende und wirkmächtige neue Kulturtechnik verhindern. Bisher haben sich die Produzentinnen und Produzenten von Kultur und die Künstlerinnen und Künstler immer dieser neuen Technik zu bemächtigen gewusst, sie in ihrem Sinne bestens genutzt und in jeder Form weiterentwickelt – um dann irgendwann eine Deutungshoheit anzumelden, als ob es sich um ihre ureigene Erfindung handeln würde. Warum sollte das in diesem Fall anders sein? Eine Frage, die ich psychologisch und philosophisch interessant finde: Warum verwenden nicht nur die Vertreterinnen und Vertreter der unmittelbar betroffenen Branche, sondern auch andere sehr kluge und erfahrene Menschen viel Zeit und Energie darauf, sich gegen unumkehrbare Entwicklungen zu stellen, anstatt diese Perspektiven zu gestalten? Konkret formuliert: Wir werden keine Menschen zurück in die Kinos bekommen, wenn wir glauben, wir könnten ihnen die Art und Weise, wie sie Filme zu sehen haben, vorschreiben. Das ist eine Art Cinephilie, die weder den Kinos als Spielort noch der Filmkultur hilft. Der Markt ist zu groß und zu liberal, um reguliert werden zu können. Der Geist ist aus der Flasche.

Back to the Future?

Es geht aktuell um so viel mehr als darum, am Kino als Kristallisationspunkt des filmischen Erzählens festzuhalten. Zur Debatte steht die Zukunft der Filmkunst als zugänglichste interkulturelle Kulturform überhaupt. Das Kino muss eine Koexistenz mit dem Netz nicht nur aushalten können, sondern fordern. Alle bisherigen Erhebungen über das Verhalten von Cineastinnen und Cineasten, Filmfreundinnen und Filmfreunden legen nahe, dass sich die Nutzung von Online-Angeboten und der Besuch im Kino nicht ausschließen, sondern teilweise bedingen. Wir müssen das Publikum dort erreichen, wo es einen großen Teil seiner Freizeit verbringt – im Netz. Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Kommunikation und die Aufmerksamkeit, die wir erzielen: Nur wer auf dem Markt ausreichend sichtbar ist, hat die Chance, von seinem potenziellen Publikum gesehen zu werden. Die Auswertungswege der Filme über den Kinostart, die TV-Ausstrahlung und die Online-Angebote schwächen sich gegenseitig, wenn sie zeitlich streng gestaffelt werden. In der Öffentlichkeits- und Pressearbeit kann jeder Film nur einmal Reichweite generieren. Die Kinosperrfrist manifestiert eine Vergangenheit, die keine Zukunft mehr hat. Doch ein neues Konzept liegt schon auf dem Tisch: der zusätzliche digitale Kinosaal, also die parallele und zeitlich flexible „Aufführung“ der Filme auf der Leinwand und online durch das Kino Ihres Vertrauens. Dabei lässt sich für die betreffenden Arthouse-, Dokumentar- oder Kurzfilme auch ein neues Publikum erreichen und gewinnen, das aus verschiedenen Gründen den Weg in das Kino nicht mehr findet oder nicht gehen kann. Und denjenigen, die das Kino als Kino lieben, wird der Weg dadurch nicht versperrt: Nur das Kino kann, was das Kino kann, es muss mit seinen unersetzlichen Qualitäten arbeiten.

Nur das Kino kann, was das Kino kann?

Inspiriert durch einen Text des Intendanten Jochen Schölch über das Theater: Das Kino zelebriert das Leben in seinen Widersprüchen und seiner Zerrissenheit. Es erzählt uns Geschichten über Menschlichkeit und menschliche Fehlbarkeit, über alles, was uns ausmacht. Kinos sind vor allem lebendige Orte der Erinnerung: Alles, was auf der Leinwand ganz Gegenwart zu sein scheint, ist in Wirklichkeit auch schon wieder vergangen und entlässt uns in eine offene Zukunft. Unser Bewusstsein für diese Ungewissheit ist die Essenz und gewährt uns die Chance und die Freiheit, unseren weiteren Weg zu wählen.

Gilt diese Erkenntnis und dieser Auftrag nur für den Abspielort Kino, oder können wir uns diesen essenziellen Aspekt des Erzählens unabhängig davon bewahren? Auf die Frage, wie es mit dem Kino weitergehen könnte, hat Werner Herzog in einem Interview im Jahr 1997 angemerkt: „Ganz egal, über welche Kanäle wir die Menschen in Zukunft mit unseren Filmen erreichen, es wird immer darum gehen, ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind.“

Fotocredit: Flickr / Alexandre Chassignon: "L'Odéon"

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