Das Jetzt als ewiges Vergehen – Die Filme von Edward Yang

Essay: Erinnerungen und Zweifel

Das Zeughauskino widmet vom 25. Oktober bis 3. Dezember dem großen taiwanesischen Filmemacher Edward Yang eine ausführliche Retrospektive. Einführung in ein Werk, in dem die mitunter zäh verflossene Vergangenheit potent wieder in die Gegenwart drängt.

Oft dauert es, bis es soweit ist, und einen prominenten Platz nehmen sie auch nicht ein, und doch tauchen in den Filmen Edward Yangs zwangsläufig die Kalender auf. Ganz herkömmlich und wenig auffällig – fast immer: oben ein Bild, unten die Tage des Monats – hängen sie an einer Wand herum. Manchmal auch nur in einer Einstellung. In Taipei Story (Qing mei zhu ma, 1985) finden sie noch am prominentesten Einsatz. Wiederholt prangen sie in den Einstellungen, zuweilen kaum zu übersehen, und vergegenwärtigen uns das Vergehen der Monate. In The Terrorizers (Kong bu fen zi, 1986) zeigt der Kalender hingegen stets den gleichen Monat, vielleicht auch weil die Figuren mehr oder weniger in ihrer Zeit, in ihrem Leben festzustecken scheinen.

Erinnern, Einordnen, Beurteilen

Möglicherweise ist da aber auch zu viel hineininterpretiert, nur zweimal und das kurz nacheinander ist der Zeitmesser hier zu sehen. Er bleibt beiläufiges Ornament, so präsent wie eine Topfpflanze. Auch in den anderen Filmen bleiben die Kalender alltägliches Accessoire, das manchmal lediglich einmal in der oft beachtlichen Laufzeit zu sehen ist. Tatsächlich ist das Entscheidende nicht, dass fast immer ein Kalender in den Filmen Edward Yangs rumhängt, sondern umgekehrt: dass diese Kalender an Bedeutung gewinnen, weil sie sich in einem Film Edward Yangs befinden, erzählen diese doch beharrlich eine Geschichte der Zeit.

Schon in seinem ersten Kinofilm That Day, on the Beach (Hai tan de yi tian, 1983) ist die Zeit ein zentraler, völlig zerstückelter Protagonist. Zwei alte Freundinnen treffen sich und erzählen, was ihnen, seit sie sich vor Ewigkeiten zuletzt sahen, geschehen ist. Vor allem heißt das, dass Lin (Sylvia Chang) von ihrer Ehe erzählt. Das Erzählte bekommen wir in Form von Rückblenden zu sehen. Gerade zu Beginn kehrt der Film aber penetrant in die Gegenwart zurück. Nur langsam setzt sich die Vergangenheit als Haupthandlungsort durch und ermöglicht ein Eintauchen. Aber auch dann gibt es noch Rückblenden in den Rückblenden, unterschiedliche Perspektiven auf das Gleiche oder den einfachen Umstand, dass Bild und Ton nicht synchron sind, also aus unterschiedlichen Zeitebenen stammen.

So sehen wir an einer Stelle wie die beiden Freundinnen sich gegenübersitzen und schweigend Lins Geschichte verarbeiten, während auf der Tonspur doch gesprochen wird, sichtlich an Ort und Stelle. Selbst die Gegenwart wird so aufgebrochen und in das Jetzt und eben Geschehens aufgeteilt. Dass das Jetzt ein ewiges Vergehen ist, das unaufhaltsam Vergangenes schafft, ist der schmerzliche Hebelpunkt, bei dem Yang ansetzt. Er erzählt vom Bewusstsein des Vergangenen, vom Erinnern, Einordnen und Beurteilen.

Unfug mit Trümmern

Hier und da bedeutet das, dass wir unsichere Perspektiven oder Erinnerungen sehen, sodass dem Gezeigten nur unter Vorbehalt geglaubt werden kann. Der zentrale Punkt ist aber nicht die epistemologische Unsicherheit von Akira Kurosawas Rashomon (1950), in der die Weltwahrnehmung der zentralen Figuren nicht unter einen Hut zu bringen ist und sich grundlegend voneinander unterscheidet. Vielmehr stehen die verschiedenen Gabelungen im Mittelpunkt, die hinter einem liegen. Und damit die quälende, an den Protagonisten nagende Frage, ob sie sich richtig entschieden haben.

Yangs Werk ist also von (Ehe-)Paaren durchzogen, die zweifeln, ob sie sich für den richtigen Partner entschieden haben. In The Terrorizers ist es nichts weniger als ein Terroranschlag, der über Umwege eine Ehe in Schutt verwandelt. In Tapei Story ist nie ganz klar, ob sich das Paar gerade trennt oder zusammenkommt. In That Day, on the Beach wird das Ende einer Ehe zu einer Art Mystery-Thriller. Gemeinsam ist den Filmen, dass sie sich nicht einfach nur logisch vom Vergangenen her organisieren, sondern dass die Vergangenheit in die Gegenwart hineindrängt. In Yi Yi (2000) – auf dem ersten Blick ein einfacher, realistischer Film – verschlingen sich die Erfahrungen mehrerer Personen, sie spiegeln sich und werden zu Versionen voneinander. Als sähen wir den Traum eines Bewusstseins, das durchspielt, was alles hätte sein können.

Seine Karriere verdankt Edward Yang auch einer Neuorientierung. Als das taiwanesische Kino Ende der 1970er Jahre durch die Konkurrenz aus Hongkong und den USA dabei war, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken, wurden die Zügel der eingefahrenen Produktionslandschaft der Militärdiktatur gelockert. Der Episodenfilm In Our Time (Guang yin de gu shi, 1982) stellte schließlich den Startschuss des Taiwan New Cinema dar, in dem sich junge Filmemacher der sozialen Realität ihres Landes annehmen durften – von Yang stammt die zweite der vier Episoden. Die folgenden fünf Jahre Blütezeit brachten den Filmemachern internationale Preise und Anerkennung, nur war diese Phase nur bedingt eine ökonomische Erfolgsgeschichte. Gerade wegen Filmen wie denen Yangs, die nicht auf Erklärungen aus waren, sondern sich der Realität poetisch annäherten, sie zu einem Rätsel machten und groben Unfug mit ihren Trümmern trieben. Das Publikum wurde zunehmend das der Filmfestivals.

Verzerrungen und Brechungen

Eines der zentralen Stilmittel des Taiwan New Cinema waren die langen Eistellungen und die verhältnismäßig wenigen Nahaufnahmen. Durch Vertreter wie Yang, Hou Hsiao-hsien oder unmittelbare Nachfolger der Bewegung wie Tsai Ming-liang steht die Taiwan New Wave immer auch unter Verdacht, zum Slow Cinema zu gehören. Zeit und ihr Vergehen spielen bei den Genannten tatsächlich auch eine zentrale Rolle. Wo Hou aber eher Zeitschichten ansammelt, die ohne klare Präferenz aufeinander abstrahlen, wo Tsai die Gegenwart als auszuhaltenden, absurden Klotz versteht, da drängt bei Yang das mitunter zäh Verfließende potent wieder in die Gegenwart. Oder anders: Bei den Filmen Edward Yangs dauert es immer ein wenig, bis sich das beiläufige, oft entspannt aus etwas Distanz dokumentierte Geschehen zu etwas zusammenzieht. Wenn es das aber getan hat, dann ist es zu spät zu entkommen.

Taipei Story endet mit einer verglasten Häuserfront. In den Fenstern spiegelt sich der unten vorbeiziehende Verkehr. Aber jedes einzelne Fenster hat einen anderen Winkel, einen anderen Grad der Verzerrung. Wir sehen also nicht einfach ein Auto vorbeifahren, sondern einen verzerrten Klecks, der nur im Kontext überhaupt als Auto zu erkennen ist, der hoch und runter springt, während er sich von rechts nach links bewegt. In diesem Bild spiegelt sich gewissermaßen Yangs Erzählmodus. Die Grundlage der Filme ist oft sehr simpel, aber durch Verzerrungen und Brechungen wird etwas völlig anders daraus, etwas Artifizielles und Eigenartiges. Die Protagonisten fragen sich, was ihnen widerfahren ist, der Zuschauer auch.

Taipei, die Hauptstadt Taiwans, ist zumeist der Handlungsort. Yangs Filme sind grundlegend urban, in ihnen geht es um Moderne, Verwestlichung und die Frage, wer wir in dieser Gemengelage sind. Die Bilder werden oft von Straßenzügen und moderner Architektur bestimmt, von den Kanälen des modernen Stadtlebens, von den Adern der Gesellschaft, von Strömen, die sich mal stauen und auch langsam sind, in denen es aber nie stillsteht. Wir bekommen mit ihnen keine weite, freie Welt gezeigt, sondern eine, die nach Ordnung (des Vielen) strebt, nach Sicherheit – weil diese grundlegend fehlt.

Rätsel um Jackie Chan

In A Brighter Summer Day (Guling jie shaonian sharen shijian, 1991) ist wiederum die Strategie der Orte am spürbarsten, an die immer zurückgekehrt wird (oder eben nicht), die eine Landkarte des Geschehens bilden. Orte, in denen jeweils eine andere Ausprägung des gleichen verhandelt wird – in dem Film werden Jugendgangs, die Militärdiktatur und die grundlegende Verkennung einer Geliebten nachdrücklich gleichgesetzt. Yangs Filme sind durchzogen von Überblendungen von Bild und Ton und ähnlichem, so dass immer wieder Mehreres in einem Bild zusammenfällt. So dass es kein Individuum für sich in der Gegenwart gibt, sondern jemand auf die Dinge einwirkt.

Diese sehr klare optische Strategie des Filmemachers Edward Yang, seine wiederkehrenden Motive, führen aber nicht dazu, dass von einem auf den nächsten geschlossen werden kann. In den Filmen werden jeweils neue persönliche, politische oder soziale Themen verhandelt, sie sind mal wärmer, mal kälter, mal kleiner, mal bedeutungsvoller. Vor Yangs Tod 2007 war noch ein Film mit Jackie Chan geplant, den er nicht verwirklichen konnte. Wie dieser ausgesehen haben könnte, ist bei diesem Regisseur eines der größeren Rätsel, die er hinterlassen hat.

Am erfreulichsten ist aber, wie wenig er seine Zeitmeditationen zur Lehrstunde macht. Sie zuckeln vor allem gemütlich dahin und lassen einem Luft zum Atmen. Ironisch ist vielleicht, dass ein Film wie Mahjong (Ma jiang, 1996), der noch am ehesten als Komödie zu lesen ist, zugleich sein bitterster ist. Liebesbeziehungen sind darin stets (von mindestens einer Seite) ökonomische Transaktionen. Es ist der desillusionierte Film einer Gesellschaft, in der es nur noch um monetäre Übervorteilung geht. Ansonsten lud Yang mit seinen Filmen vielleicht nicht übermäßig zum Lachen ein, macht aber doch stets deutlich, wie absurd unser Kampf mit unseren Lebensentwürfen eben auch ist. Wer nicht lacht, wenn der Abspann von The Terrorizers einsetzt, der verpasst also etwas Entscheidendes.

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