Das Frühste zum Schluss: Clint Eastwood wird 90

Er arbeitet bis heute, als würde das Studiosystem noch existieren – und wendet sich in entscheidenden Momenten doch gegen die Nostalgie. Würdigung eines der letzten großen Stilisten des amerikanischen Kinos.

Clint Eastwood und Ray Charles sitzen gemeinsam vor einem Klavier. Eastwood fragt den Musiker nach seinen ersten Erinnerungen an den Blues, Charles erzählt von der Liebe zum Klavier, die in der frühen Kindheit entstanden ist, von der Freude, die ihm seine ersten eigenen Versuche auf dem Instrument bereitet hatten, von anderen Pianisten, die er bewundert. Eine rührende Szene, insbesondere wenn Charles immer wieder in die Tasten greift, mal, um eine der simplen Melodien der Jugend wieder lebendig werden zu lassen, mal für komplett entfesselte Improvisationen. Was mich allerdings besonders fasziniert, ist die Rolle von Eastwood.

Ungelenk am Klavier

Dass der Regisseur ein großer Liebhaber von Jazz und Blues ist, ist wohlbekannt, nicht zuletzt schlägt es in vielen seiner Filme durch, am deutlichsten im Charlie-Parker-Biopic Bird (1988). Dieses Interesse und seine Bewunderung für Charles, mit dem er das Geburtsjahr 1930 teilt, ist auch in der Szene am Klavier unverkennbar; das alles kann jedoch nicht verdecken, dass Eastwood alles andere als ein geborener Interviewer ist. Mehrmals fällt er seinem Gesprächspartner ins Wort, nicht aus Unhöflichkeit, sondern aus Unsicherheit, seine eigenen Gesprächsbeiträge versanden gelegentlich im Ungewissen, und auf Charles’ überschwängliche, leutselige Herzlichkeit weiß er nicht so recht zu reagieren. Es bleibt eine Distanz spürbar, auch in den anderen Gesprächen am Klavier, etwa mit Dr. John und Pinetop Perkins, die später in Piano Blues (2003) folgen.

Der Film, entstanden im Rahmen einer von Martin Scorsese produzierten Fernsehserie, ist eine der am wenigsten bekannten Regiearbeiten Eastwoods. Mir gefällt an ihm gerade das Ungelenke der Szenen am Klavier (die mich außerdem an ein weithin als Zeichen von Alterssenilität missverstandenes Eastwood-Artefakt erinnern: an seine Unterhaltung mit einem nichtanwesenden Barack Obama beziehungsweise einem leeren Stuhl auf einem Parteitag der Republikaner im Jahr 2012). Leicht hätte Eastwood sich selbst aus dem Bild nehmen können. Problemlos hätte er seinen wenig eleganten Fragestil hinter einer klassischen Talking-Heads-Auflösung verbergen können. Aber er hat sich dagegen entschieden. Statt sound bites ohne Kontext aneinanderzureihen, stellt er eine soziale Situation her, die sich weitgehend in Echtzeit entfaltet. Nicht die Geschichte selbst möchte er ins Bild setzen, sondern was von ihr bleibt: eine gemeinsame, dialogische, längst nicht immer reibungslose Arbeit an der Erinnerung in der Gegenwart.

Emanzipation hinter der Kamera

„Eastwoods Alterswerk hat immer schon begonnen, denn Eastwood war nie jung“, hat Matthias Wittman einmal geschrieben. Oder andersherum: Als er jung war, war Eastwood noch nicht Eastwood. Seine Karriere vor der Kamera begann vergleichsweise spät, mit 25, und zunächst mit einer langen Reihe von Nebenrollen in Film und Fernsehen. In der Western-Serie Rawhide wird er ab 1959 als second banana neben Eric Fleming besetzt. Selbst als Star ist er zunächst ein Mann ohne Namen, in Sergio Leones Dollar-Trilogie. Zu sich selbst findet Eastwood erst durch seine Zusammenarbeit mit Don Siegel, für den er ab 1968 fünfmal vor der Kamera steht und den er stets als zentralen Einfluss für seine eigenen Regiearbeiten bezeichnet hat. Die Differenz könnte man vielleicht so fassen: Erst in den Siegel-Filmen beginnt der ewige Einzelgänger Eastwood, über die Bedingungen seines Einzelgängertums zu reflektieren.

Wobei man da differenzieren muss. Wenn Eastwood als Regisseur etwas von Siegel übernommen hat, dann vermutlich vor allem die handwerkliche Souveränität, den ökonomischen Umgang mit Zeit und Ressourcen. Niemand arbeitet heute in Hollywood schneller und effizienter als er, zumindest nicht auf diesem Niveau. Wo andere Filmprojekte sich durch Drehbuch-Rewrites, Besetzungswirrwarr und Nachdrehs endlos in die Länge ziehen, befindet sich ein Eastwood-Film, sobald sich der Regisseur einmal auf ein Projekt festgelegt hat, auf einem sicheren, schnellen Gleis. Richard Jewell, seinen bislang letzten Film, übernahm Eastwood im April 2019, im Juni war Drehstart, im November Weltpremiere.

Eastwood arbeitet heute immer noch, als würde um ihn herum das Studiosystem der klassischen Hollywood-Ära existieren; tatsächlich dreht er seit 1975 praktisch exklusiv für ein einziges Studio, für Warner. Das heißt aber nicht, dass seine Filme selbst bruchlos ans alte Hollywood anschließen. Insbesondere seine Regiearbeiten haben kaum etwas zu tun mit der Tradition des staubtrockenen, zynischen Genrekinos, für das sein Lehrmeister steht. Siegel hat den Schauspieler Clint Eastwood vermutlich mehr geprägt als den Regisseur Clint Eastwood. Er hat ihn zu Dirty Harry gemacht, und diese Rolle ist Eastwood vor der Kamera nie mehr ganz losgeworden. Hinter der Kamera hingegen emanzipiert er sich schnell: Bereits seine zweite Regiearbeit, Breezy (1973), könnte kaum weiter weg sein von Siegels Stil und Temperament: Man vergleiche nur einmal diese Ballade über eine unwahrscheinliche Liebe, die sich vor dem offenen Horizont doppelter, aber geteilter Unsicherheit entfaltet (siehe auch, zwei Jahrzehnte später, Die Brücken am Fluß), mit Siegels The Beguiled (1971), einem der abgründigsten, zynischsten Filme über Begehren überhaupt.

Beschimpfungen als letzte Hoffnung

Eastwoods Filme gehen, nach einer Unterscheidung Truffauts, nicht von den Plots aus, sondern von den Figuren. Selbst seine Western sind im Kern weniger Genreerzählungen als Charakterstudien, sorgfältige, für Widersprüchlichkeiten aller Art sensible Porträts von Figuren, die nicht mehr ganz dem Mythos angehören. Als Humanist stellt Eastwood wieder und wieder die Frage nach dem Verhältnis des oder der Einzelnen zur Gesellschaft; und als konservativer Humanist geht er dabei stets von der Autonomie des Individuums aus, nicht von den Funktionszusammenhängen der Gesellschaft. Die werden freilich nicht ausgeblendet, sondern erscheinen, aus der Perspektive des Individuums, als eine Umwelt, die zwar oft feindselig oder zumindest antagonistisch organisiert ist, mit denen man sich aber doch auf die eine oder andere Art arrangieren kann, zumindest solange man in der Lage ist, eine gemeinsame Sprache zu finden.

Es geht, anders ausgedrückt, um Aushandlungsprozesse. Mindestens seit Heartbreak Ridge aus dem Jahr 1986, in dem ein vom Regisseur selbst gespielter Koreakriegsveteran eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Problemrekruten kriegstüchtig macht, gibt es ein Axiom im Eastwood-Kino: Solange wir uns noch alle gegenseitig nach Herzenslust beschimpfen können, ist nicht alle Hoffnung verloren. Im Eastwood’schen Streitbild (das sich freilich aus einer Streitkultur diesseits von social media ableitet) können ethnische Spannungen ebenso offen ausgehandelt werden wie Geschlechterfragen, oder, wie im ultimativen “Kids get off my lawn!”-Film Gran Torino (2008), Generationenkonflikte.

Allerdings gelingt das mit dem Aushandeln nur, solange es eine Differenz gibt zwischen Individuum und Kollektiv. Du hast es nicht mit „dem Staat“ zu tun, erklärt der Anwalt Watson Bryant der Titelfigur in Richard Jewell, sondern lediglich mit ein paar Typen, die behaupten, im Namen des Staates zu sprechen. Erst diese Unterscheidung ermöglicht es dem zu Unrecht als Terrorverdächtiger gehandelten Jewell, sich von seiner Autoritätshörigkeit zu lösen. (Auch dann löst er sich freilich nur sehr vorsichtig; am Ende des Films trägt er wieder Uniform. Eastwoods Filme sind voller Widerhaken dieser Art.)

Die Dunkelheit biografischer Kontingenz

Es gibt in Eastwoods Werk, und das ist es letztlich, was seinen Konservatismus so abgründig und faszinierend macht, einen sehr grundsätzlichen Widerstand gegen identitäre Zuschreibungen und Ursprungserzählungen. In Bronco Billy (1980) zieht die Titelfigur mit einer Wildwestshow durch die amerikanische Provinz – allerdings war Eastwoods Bronco, bevor er in die Entertainmentindustrie wechselte, nicht Cowboy, sondern Schuhverkäufer. In Weißer Jäger, schwarzes Herz (1990) wiederum legt sich ein blasierter Hollywoodregisseur einen gefälschten englischen Akzent zu. Wenn Eastwood, als Meister der low-key-Lichtsetzung, einer der letzten großen Stilisten des amerikanischen Kinos ist, dann genau deshalb: Seine Figuren verfügen nicht über hell ausgeleuchtete Lebensläufe, sondern werden von der Dunkelheit biografischer Kontingenz umflort. Man denke an Der fremde Sohn (2008), den vielleicht visuell schönsten Hollywoodfilm dieses Jahrtausends, in dem Angelina Jolies blutroter Lippenstift sich gegen das Chiaroscuro einer Geschichte der Gewalt behauptet.

Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang Jersey Boys (2014), einer der unterschätztesten Eastwood-Filme: Das Biopic über die Popgruppe Four Seasons wird in seiner Inszenierung zu einem Nostalgiefilm, der sich in den entscheidenden Momenten gegen die Nostalgie wendet. Die Musik der Band entspringt von Anfang an nicht geteilter Erfahrung, sondern einer Mischung aus ökonomischem Kalkül und Eitelkeit. Lediglich der lead singer Frankie Valli nimmt die Mythen des Pop beim Wort – und ist eben deshalb dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit als eine phony Kopie seiner selbst durch die Nachtclubs und Casinos dieser Welt zu tingeln. Der Film endet mit einer Wiederbegegnung der hoffnungslos zerstrittenen Bandmitglieder in der Gegenwart. Nur sehr notdürftig hat der Regisseur die immer noch jungen Schauspieler auf alt geschminkt, und nachdem seine drei Kollegen Kalendersprüche über die gute alte Zeit aufgesagt haben, wendet sich Bob Gaudio, der Songwriter, zur Kamera: „I'm not drawn to the old neighborhood, my life never revolved around the old neighborhood. I don't give a fuck about the old neighborhood.”

Heldentragik

Es passt ins Bild, dass Eastwood sich in vier seiner fünf neuesten Filme der Aufgabe angenommen hat, eine Typologie des Heldentums zu entwerfen, und zwar nicht unter mythopoetischen Gesichtspunkten, sondern unter den Bedingungen der aktuellen Mediendemokratie. Die Figur des Helden ist bei Eastwood eine zutiefst tragische. Der Held, das ist jemand, der aus dem Kollektiv heraustritt, oft nur für einen Moment, für eine singuläre Tat – und der unmittelbar danach wieder vom Kollektiv eingefangen wird, einem Kollektiv, das diese Tat interpretiert, verfälscht, instrumentalisiert, kurz: auf sich selbst bezieht, und damit eben ihr entscheidendes Moment, das Moment der Freiheit individuellen Handelns, gleich wieder durchstreicht.

In den Heldenfilmen findet das Eastwood-Kino zu seiner Essenz, und zu einer Modernität, die selbst viele Fans irritiert, die den vermeintlichen Klassizisten (das Label hatte vermutlich schon früher mehr verdeckt als sichtbar gemacht) in den teils offen experimentellen Versuchsanordnungen seiner letzten Arbeiten nicht wiedererkennen. Insbesondere zeigt sich das an den weitgehend ratlosen Reaktionen auf The 15:17 to Paris (2018), einem Cinéma-Vérité-Experiment im Gewand eines Terrorismus-Thrillers, in dem Eastwood seine drei Helden – drei junge Amerikaner, die in einem französischen Schnellzug einen Anschlag verhindern – sich selbst spielen lässt. Weite Strecken des Films zeigen, wie die drei Nichtschauspieler einen Europatrip unternehmen: ungelenke Flirts vor einer italienischen Eisdiele, eine Fahrradtour in Berlin, ein halbherziges Besäufnis in Amsterdam. Bilder einer banalen Normalität, deren einzige Funktion darin zu bestehen scheint, den Moment des Heldentums als ihr radikal Anderes zu konturieren; Bilder, die quer stehen zu so ziemlich allem anderen im Gegenwartskino und die auch den Blick auf Eastwoods Filmografie verändern: Vielleicht sind die Filme der letzten Jahre ja gar nicht die letzten Ausläufer eines ewigen Alterswerks, sondern ein nachgeholtes, und hoffentlich noch nicht abgeschlossenes Frühwerk.

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