Das Fragmentarische ist Programm: Visions du Réel 2024
Zwei Found-Footage-Filme aus dem Festivalprogramm: Die Ukrainerin Maria Stoianova durchforstet für Fragments of Ice private Videokassetten ihrer Eltern, Kamal Aljafari widmet A Fidai Film dem umkämpften Bildergedächtnis des Nahostkonflikts.

Wer einen Found-Footage-Film machen will, braucht viel Zeit, denn es gibt einiges zu tun: Recherchieren, digitalisieren, natürlich schneiden. Filmen gehört nicht dazu – das haben andere schon erledigt. Die Kunst liegt viel mehr in der Auswahl, Kompilation und Kontextualisierung des Materials, wobei auch De-Kontextualisierung ein legitimes künstlerisches Anliegen sein kann. Jedenfalls sind die Möglichkeiten der Materialanordnung, je nach Bestand, riesig bis unendlich. Die Montage kann hier vieles leisten; sie ist Historikerin, Archäologin und Geschichte(n)erzählerin zugleich, birgt bislang unbekannte Schätze oder liest Bekanntes gegen den Strich und verflüssigt Bedeutungszusammenhänge. Aus dem diesjährigen Programm des Festivals Visions du Réel stechen zwei Filme hervor, die ausschließlich auf Found Footage basieren. Die Archive, aus denen sie schöpfen, sind völlig verschieden: Die Ukrainerin Maria Stoianova hat für Fragments of Ice die privaten Videokassetten ihrer Eltern durchforstet und daraus einen bittersüßen Abgesang auf das sogenannte Ende der Geschichte komponiert. Kamal Aljafari hingegen fragt in seinem experimentellen Essayfilm A Fidai Film nach dem Kampf um das kollektive Bildergedächtnis des Nahostkonflikts, indem er von der israelischen Armee entwendete Aufnahmen aus dem Palestinian Research Centre in Beirut aufspürt und gegen diejenigen wendet, die sie den Augen der Weltöffentlichkeit entziehen wollten.
Das Eis bekommt Risse: Fragments of Ice

Verglichen mit Aljafari gestaltet sich der Zugriff auf die Bilder für Maria Stoianova leichter. Ihr Vater war professioneller Eiskunstläufer und in den späten 1980ern und frühen 1990ern als Teil des ukrainischen „Ballett on Ice“ auf internationalen Touren unterwegs, die ihn auch jenseits des Eisernen Vorhangs führten. 1986, im Geburtsjahr der Regisseurin, kaufte er sich eine Videokamera, mit der er die Auslandsreisen – wohlgemerkt nur die in den kapitalistischen Westen – fortan filmte. Er ist fasziniert von allem, was er von zu Hause nicht kennt, die bunte Warenvielfalt, ob in Kanada, Griechenland, Australien, Dubai oder Hongkong. Nur auf Reisen könne er wirklich frei atmen. Die kleine Masha ist meist nicht dabei, aber auch zu Hause in Kiew ist die Kamera eingeschaltet, bei Familien- und Kindergartenfesten, im Zoo, auf dem Spielplatz oder beim Verlust des ersten Zahns in der viel zu kleinen Wohnung. Einerseits ein sehr vertrauter Anblick, Home Movies halt; nichts, was man nicht selbst so ähnlich erlebt hat, andererseits: eben nur so ähnlich, und das ist entscheidend angesichts der Spezifik des Materials.
Die Tapes decken den Zeitraum von 1986 bis 1994 ab. Dazwischen passieren weltbewegende Dinge: Tschernobyl, Mauerfall, Hyperinflation und Unabhängigkeitsreferendum – die musikalische Entwicklung verläuft von Modern Talking (You’re My Heart, You’re My Soul) bis zu Kylie Minogue (What Kind of Fool?), mit einem vielsagenden Zwischenstopp bei Whole New World aus Disneys Film Aladdin (1992). Aus dem Off ordnet Stoianova Ereignisse und Daten ein, verliest Ausschnitte aus dem offiziellen Archiv der Ballett-Kompanie. Protokolle, die in bürokratischem Russisch abgefasst sind und wenig zu tun haben mit den Szenen eines relativ glücklichen Familienlebens. Stellenweise nimmt sich das kurios aus, vor allem sobald die finanzielle Lage Anfang der 1990er immer schwerer zu kaschieren ist. Gebucht werden die Balletshows zwar noch, aber als Kombi-Entertainment-Paket, zu dem augenscheinlich auch ein Hypnotiseur gehört.

Hin und wieder werden auch andere Bildquellen eingespeist – Aufnahmen von den Shows auf dem Eis, in Hongkong eine Art Fernsehprogramm für Touristen –, doch selbst das ist meistens durch den Camcorder gefilmt. Fragments of Ice ist durchdrungen von verwaschener VHS-haftigkeit und Magnetbandmaterialität. Stoianovas assoziatives Voice-over buchstabiert vieles aus, darunter manches, was sich vielleicht auch subtiler Gehör verschafft hätte. Sie kommentiert, was zu sehen ist, und gleicht die fotografischen Behauptungen, dass es so gewesen sei, mit den eigenen (ebenfalls zweifelhaften) Erinnerungen und denen der Eltern ab – meistens passt das nicht restlos zusammen, das Fragmentarische aus dem Titel ist Programm.
In einer besonders poetischen Schlusssequenz springt Stoianova von den letzten Filmaufnahmen – der Vater hängt Kamera und Schlittschuhe an den Nagel, nachdem er seine Anstellung im Europa-Park Rust verliert – plötzlich 30 Jahre in die Zukunft, in den Krieg, den Russland gegenwärtig gegen die Ukraine führt. Viktor Onysko, der Editor des Films, ist an der Front gefallen, Fragments of Ice ist ihm gewidmet. Obwohl das Eis Risse bekommen hat, ist das Ende der Geschichte ausgeblieben; diese verdichteten Zeitkapseln stellen das unter Beweis. Was sich im Krieg abspielt, lässt sich nicht zurückspulen oder pausieren.
„Camera of the dispossessed“: A Fidai Film

Woher das Material stammt, das Kamal Aljafari in A Fidai Film präsentiert, erschließt sich erst mit zunehmender Laufzeit. Nach etwa einem Drittel des Films – wir sehen die israelische Besetzung Beiruts im Jahr 1982 – leistet ausgerechnet ein israelischer Militär Aufklärungsarbeit. Er spricht in die Kamera und verkündet, die Armee werde nun die gesamten Archivbestände, die im Sitz der PLO, einem achtstöckigen Gebäude in West-Beirut, seit 1965 gelagert wurden, beschlagnahmen und nach Israel bringen. Zum geplünderten Inventar gehören das Zeitungsarchiv, eine Manuskriptkollektion, die ca. 25.000 wissenschaftlichen Bücher des Palestine Research Center, Dokumente der Organisation wie Gehalts- und Spendenlisten – und zahlreiche Mikrofilme und Fotografien, denen der Soldat propagandistische Zwecke und zugleich unschätzbaren (militärischen) Wert für die israelische Seite bescheinigt.
In Tel Aviv wurden diese Dokumente, zu diesem Zeitpunkt eine der größten und umfassendsten Sammlungen über die Kulturgeschichte Palästinas, anschließend dupliziert und nach israelischen Standards neu katalogisiert. 1983 erwirkte die PLO im Rahmen eines Gefangenenaustauschs die Rückgabe der Bibliothek des Palestine Research Center; das Bild- und Filmarchiv blieb allerdings in israelischem Besitz und ist für die Öffentlichkeit bis heute kaum zugänglich – kaum, weil sich einige Bilder und Filme eben doch aus der Geheimhaltung befreien konnten. Sie bilden den Korpus von A Fidai Film, in teils bescheidener Qualität, VHS-abgefilmte Fragmente in Schwarzweiß, die Aljafari im Netz gefunden hat. Found Footage bedeutet hier also in erster Linie Looted Footage, das für den Regisseur „ein koloniales Archiv“ konstituiert, mit dessen verfügbaren Bruchstücken er umgehen muss.

Er montiert daraus kein historisch-chronologisches Gegennarrativ aus palästinensischer Sicht – dafür ist das Vertrauen in den historischen Wahrheitsgehalt des fotografischen Bildes zu sehr erodiert, eine Parallele zu Fragments of Ice. Aljafari bemüht sich vor allem um eine Lesart, die sich klar gegen die archivalischen Praktiken der israelischen Armee richtet: Herausgestrichene arabische Anmerkungen; hebräische Texttafeln und Katalognummern, die begleitend eingefügt wurden und Kinder in Flüchtlingslagern oder Arbeiter*innen bei der Orangenernte in Qalandia als „Terroristen“ labeln. Diese Taktiken übernimmt Aljafari, streicht mit Rotstift Elemente an, die ihm wichtig erscheinen, markiert kaum sichtbare Personen im Hintergrund. Er lenkt und schärft den Blick, manipuliert das Material, um dessen prekären Status ganz buchstäblich zu unterstreichen. Eine britische Flagge deutet auf die Zeit vor der Staatsgründung Israels hin; zerbombte, brennende Häuser und zusammengepferchte Menschengruppen neben Uniformierten mit Maschinengewehren können als Hinweis auf die brutale Niederschlagung des arabischen Aufstands von 1936 durch die britische Kolonialmacht verstanden werden. Szenen der Verwüstung wechseln sich ab mit friedlichem Landleben und urbanen Straßenszenen unbekannten Datums.
Aljafaris Anliegen, nach Spuren des Widerstands gegen die Unterdrückung und Vertreibung (immer wieder Zäune, Zelte, Checkpoints) zu suchen, kommt umso klarer zur Geltung, je häufiger sich die Muster wiederholen. Dazu werden Texte von Ghassan Kanafani eingeblendet, die eine Kapitelstruktur suggerieren, zweimal ist ein Gedicht zu hören, verlesen von einer Kinderstimme. Mit der politischen Stoßrichtung dieses Gegenarchivs verbindet sich ein schlüssiges ästhetisches Konzept, ergänzt von einem gespenstisch-minimalistischen Soundtrack, der die mühsam restaurierten O-Töne aber nicht zu sehr überdeckt.

Im Zusammenhang mit seinem editorischen Ansatz spricht Kamal Aljafari von der „camera of the dispossessed“, der Kamera der Besitzlosen und Entrechteten. Insofern passt es gut, dass in Nyon auch No Other Land (2024) zu sehen ist, der mehrfach preisgekürte aktivistische Dokumentarfilm eines palästinensischen Kollektivs um Basel Adra und Yuval Abraham, der die vom IDF betriebene völkerrechtswidrige Räumung des Gebiets Masafer Yatta im Westjordanland anprangert. Dass sich die darin bezeugten Missstände problemlos in einen historischen Kontext der Vertreibung einfügen, wird einem spätestens beim Dechiffrieren der komplexen Anordnungen von A Fidai Film bewusst. Das Ziel der Aktivist*innen in Masafer Yatta, die unter Lebensgefahr draufhalten, während ihre Dörfer unter fadenscheinigen bürokratischen Vorwänden mit Bulldozern zerstört werden, ist es, neue Archive zu füllen, deren Bestände sich im digitalen Zeitalter nicht mehr einfach beschlagnahmen lassen.
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