Das Bild soll lebendig bleiben – Il Cinema Ritrovato 2020

Dank Covid-19 wurde das Retro-Festival in Bologna um zwei Tage verkürzt und dafür um fünf Locations erweitert. Die obskureren und die prestigeträchtigeren Teile des Programms waren damit erstmals auch räumlich getrennt.

Mitten in Force of Evil (1948) befindet sich Anwalt Joe Morse (John Garfield) in einem Zwischenzimmer, von dem zwei Türen abgehen. Hinter der einen befinden sich Mafiaschläger, mit deren Hilfe er sich bereichern möchte, hinter der anderen seine verzagten Opfer. Die Türen sind der Platzhalter für das Engelchen und das Teufelchen auf seiner Schulter.

Mitten in Daisy Kenyon (1947) befindet sich Anwalt Dan O’Mara (Dana Andrews) in einem Zwischenzimmer, von dem zwei Türen abgehen. Hinter der einen liegt sein ehemaliges Büro, das er gerade ausräumen lässt, womit er sich von Job und Ehe lösen möchte. Hinter der anderen wartet der Ehemann seiner Geliebten, mit dem er das Kommende aushandeln will. Zwischen Vergangenheit und Zukunft steht er.

Jeder zweite Sitz unbesetzt, keine Schlangen vorm Klo

Beide Filme waren beim diesjährigen Il Cinema Ritrovato in Bologna zu sehen. Das Filmfestival, dessen Titel sich als „Das wiedergefundene Kino“ übersetzen lässt, widmete sich nun schon in seiner 34. Ausgabe der filmischen Vergangenheit und zeigte Vergessenes, Unbekanntes und Klassiker. Dank Covid-19 wurde es von Juni in die letzten Augusttage verlegt und um zwei Tage verkürzt, die Austragungsstätten wurden dafür um drei Kinosäle und zwei Open-Air-Locations erweitert. So sollte aufgefangen werden, dass die in den letzten Jahren häufig randvollen Kinos nun nur noch die Hälfte der Plätze bereithielten. Die italienischen Regularien sahen nämlich vor, dass jeder zweite Sitz unbesetzt bleiben sollte.

Die Säle waren aber ohnehin leerer, da vor allem weniger internationale Besucher kamen. Es bestand Maskenpflicht auch während der Vorstellungen, bei Betreten der Kinos wurden die Zuschauer angehalten, ihre Hände zu desinfizieren, und wer seinen Festivalpass abholte oder zum Büchermarkt wollte, dem wurde die Temperatur gemessen. Das surreale Gefühl dieser neuen (breitflächig akzeptierten) Normalität hatte aber auch sein Gutes. Über das letzte Jahrzehnt hat nicht nur die Anzahl der gezeigten Filme stetig zugenommen, auch die Zuschauerzahlen zogen an. Bei den sehr spärlich mit Toiletten ausgelasteten Kinos hatte das fürchterliche Effekte. Nicht nur gab es diesmal so gut wie keine Schlangen vor den Klos, auch konnte auf die zweifelhafte Erfahrung verzichtet werden, mit Tony Rayns oder David Bordwell Schulter an Schulter an den drei viel zu eng aneinander liegenden Pissbecken des „Jolly“ zu stehen.

Mehr als eine schlichte Erweiterung

Alle Kinos, die vom Festival bespielt wurden, liegen sehr gebündelt im Stadtzentrum und waren leicht zu Fuß zu erreichen. Die neuen Open-Air-Spielstätten entlasteten die abendliche Vorstellung auf der Piazza Maggiore, allerdings befanden sich die BarcArena und die Arena Puccini an etwas entlegeneren Orten. Die Vorstellungen auf der Piazza sind traditionell nicht nur an die Festivalgänger adressiert, sondern an die ganze Stadt. Von einem Bereich direkt vor der Leinwand abgesehen, sind auf der Piazza – die von tagsüber touristisch erschlossenen Renaissancegebäuden umringt ist – die Plätze für jeden frei, der gerade vorbeikommt. Das Kino soll hier gemeinschaftlich gefeiert werden: dieses Jahr mit Filmen wie Buster Keatons Der General (The General, 1926), Jean-Luc Godards Außer Atem (À bout de souffle, 1960) oder Unbekannterem wie Jacques de Baroncellis Wenn du zum Weibe gehst ... (La femme et le pantin, 1929). Da jedoch der Zugang zur Piazza diesmal auch reguliert und begrenzt werden musste, wurde der demokratische Gedanke dergestalt angepasst, dass mit den neuen Orten der halbwegs offene Zugang zum Festival in andere Teile der Stadt getragen wurde.

Die hinzugekommenen Kinos erzielten aber einen anderen Effekt als eine schlichte Erweiterung. Zu den bisherigen Austragungsstätten – zu denen die sichtlich seit den 1950er Jahren aktiven Kinos „Arlecchino“ und „Jolly“ sowie das „Lumière“, das Kino der örtlichen Cinemathek, gehören – gesellten sich nun also das Teatro Communale di Bologna (eigentlich die kommunale Oper), das Teatro Auditorium Manzoni (eigentlich ein Theater) und das „Odeon“ (ein Multiplex). Da aber unter den neuen Spielstätten nur in der Oper die Möglichkeit bestand, Filme analog vorzuführen, während in den anderen lediglich DCP-Vorstellungen möglich waren, wurde ein Widerspruch in der Ausrichtung des Festivals räumlich verankert, der sich schon in den letzten Jahren immer mehr herauskristallisiert hatte. Zwei Türen bot einem das Festival: In den alteingesessenen Kinos konnte Obskureres angeschaut werden, prestigeträchtige Restaurierungen beliebter Klassiker in den neuen.

Erfüllungsgehilfen und Trittbrettfahrer

Ein traditioneller Programmpunkt ist die Retrospektive eines Regisseurs des klassischen Hollywoods. Hier geht es jedoch nie darum, lediglich kanonisierte Filmgeschichte wiederzusehen, vielmehr soll Verschüttetes wieder sichtbar gemacht werden. Auch bei einem großen Namen wie Howard Hawks werden in Bologna (so im Jahr 2011 bei meinem ersten Festivalbesuch) neben ein paar wenigen Klassikern beispielsweise fast gänzlich vergessene Stummfilme gezeigt. Der Blick auf die Filmgeschichte soll erweitert werden, statt ihn zunehmend zu verengen.

Die letzten beiden dieser Retrospektiven zeigten imposant, dass sich John M. Stahl (2018) und Henry King (2019) zu Unrecht nur am Rand der Wahrnehmung des klassischen Hollywood befinden. Die diesjährige Doppelretro beschäftigte sich mit Stuart Heisler und Frank Tuttle, zwei noch marginaleren Filmemachern, die sicherlich noch nie für Listen der bedeutendsten Regisseure in Betracht gezogen wurden. Dieser Schwerpunkt lief unter dem Namen Guns for Hire, da beide von den Produzenten als Erfüllungsgehilfen wahrgenommen wurden, deren Noirs, Thriller, Screwballkomödien und Melodramen oft Remakes waren oder Trittbrettfahrer aktueller Erfolge.

Die Filmauswahl war hier durchwachsener als in den letzten Jahren. Was sich aber zeigte, war ein im Akkord produzierendes Studiosystem, dessen Meterware die individuellen Temperamente der Filmemacher dennoch nicht negierte – in Stuart Heislers Gegen alle Gewalten (I Died a Thousand Times, 1955), einem Remake von Entscheidung in der Sierra (High Sierra, 1941), wird das Schwarzweiß des Originals durch ein herbstliches, dem Lebensende entgegensteuerndes Rot ausgetauscht und der abgeklärte Humphrey Bogart durch einen Jack Palance ersetzt, der wohl nie verletzlicher spielte. Ein Studiosystem, das trotz aller Wiederholung in die Zukunft wies – in The Star (1952), bei dem das Melodrama einer ehemaligen Berühmtheit anders als in Boulevard der Dämmerung (Sunset Boulevard, 1950) direkt und ohne vermittelnde Erzählerfigur dargeboten wird, ist zu sehen, wie Bette Davis für ihre optische Entstellung in Was geschah wirklich mit Baby Jane? (What Ever Happened to Baby Jane?, 1962) übt –, das aus Variationen Eigenständiges erwachsen ließ – Casablanca (1942) ist in Frank Tuttles Hostages (1943) nur noch bedingt zu erkennen, da hier die Liebesgeschichte für eine strukturelle Aufarbeitung von Kollaboration und Mittäterschaft in einem kriminellen System zurücksteht – oder das einfach sensationell unverschämt war – wenn beispielsweise Ginger Rogers und Ronald Reagan in Der Gefangene des Ku-Klux-Klan (Storm Warning, 1951), einem Gerichtsfilm, den Ku-Klux-Klan mit Mitteln von Melodrama und trockenen Onelinern dekonstruieren.

Restaurationsprinzipien begutachten

Daneben gab es wiederkehrende Programmpunkte wie Filme aus den Anfangstagen des Kinos oder von vor hundert Jahren, wobei Letzteres gerade in den vergangenen Jahren die rasante Entwicklung des Mediums aufzeigte. Dem schwedischen Filmkritiker und -macher Gösta Werner, dem DEFA-Regisseur Konrad Wolf, sowjetischen Filmemacherinnen aus der frühen Tonfilmzeit oder Yūzō Kawashima, dessen Film The Sun Legend of the End of the Tokugawa Era (Bakumatsu taiyôden, 1957) in der Liste der 200 besten japanischen Filme der Filmzeitschrift Kinema Junpo den vierten Platz belegte, der aber außerhalb Japans nur marginal Beachtung findet, wurden Retrospektiven gewidmet. Jeder für sich hätte genauere Darstellungen verdient, wofür hier aber nicht genug Platz ist. (Wer an kurzen Notizen zu allen von mir gesehenen Filmen interessiert ist, findet sie hier).

Trotz diverser Importprobleme liefen die meisten der Filme dieser Schwerpunkte von 35mm-Kopien. Die Mehrzahl auf dem Festival insgesamt wurde aber als DCP gezeigt. Zentral hierfür war die vornehmlich im Manzoni beheimatete Rubrik: Recovered & Restored, ein vor wenigen Jahren installierter Schwerpunkt, in dem neue Restaurierungen vorgeführt werden. Im umfangreichen Katalog nehmen die einzelnen Themenblöcke meist um die 20 Seiten ein. Recovered & Restored umfasst inzwischen um die 60. Gezeigt werden Filme von Les Travailleurs de la Mer (1918) über Liebling der Götter (1930) oder Zwölf Uhr mittags (High Noon, 1952) bis zu einem neuen Cut von Gomorra (2008).

Neben den Filmen selbst ist hier vor allem das Aussehen der jeweiligen Bearbeitung von Interesse. Manche Restaurateure versuchen sich am analogen Bild zu orientieren und erzählen vor Ort, es sei nicht ihre Aufgabe, jede kleine Verunreinigung zu entfernen. Das Bild soll lebendig bleiben. Dann gibt es aber auch immer wieder Filme, die wie geleckt aussehen, die oft auch viel zu hell sind, die leblos wirken. Vor der Vorstellung von Pickpocket (Xiao Wu, 1998) bat Cecilia Cenciarelli, eine der Leiterinnen des Festivals, zu bedenken, dass der Film auf 16mm gedreht wurde. Als ob gestochen scharfe, kristallklare Bilder inzwischen der Mindeststandard sind. So jedenfalls können die aktuellen Vorgehensweisen bei der digitalen Filmpräservation, - restaurierung und -revision begutachtet werden.

Zurschaustellung von Respektabilität

Vor allem geht es hier aber nur bedingt um die Sichtbarmachung von etwas Unbekannten, sondern um die Präsentation einer, wie bereits erwähnt, prestigeträchtigen Arbeit. Neben Recovered & Restored waren es die zumeist im „Odeon“ beheimateten Retrospektiven zu Henry Fonda und, mit Abstrichen, die zu den Filmfestspielen von Venedig, die ganz ähnlich auf diese Zurschaustellung von Respektabilität und Wertigkeit setzten. Neben den Entdeckungen konnten dieses Jahr eben auch weitverbreitete Klassiker wie Der Elefantenmensch (The Elephant Man, 1980) oder Goodfellas (1990) geschaut werden. Diese beiden Vorgehensweisen sind bei einem Festival, das sich auf alte Filme spezialisiert hat, nicht neu, nur ihre räumliche Abgrenzung ist es. (Wobei es selbstredend Grenzgänger gibt, wie die Retrospektive zu Marco Ferreri, die nur seinen größten Hit im „Odeon“ zeigte, ansonsten an selber Stelle aber nur schwer greifbare Werke des Regisseurs.)

Beide Seiten sind einer gewissen Geschichtlichkeit unterworfen. Das Festival läuft schon 34 Jahre. Rein mathematisch nimmt mit jeder „Entdeckung“ die Anzahl der möglichen weiteren aus den ersten 50 bis 60 Jahren des Kinos ab, wie auch die Anzahl der zu zeigenden Klassiker abnimmt. Bei dem einen wie dem anderen bleibt es spannend, was dieses bunte, überschäumende Programm in Zukunft bringen wird, das durch Verzicht bestimmt ist, weil eben nur eine von sechs bis sieben parallelen Vorstellungen wahrgenommen werden kann. Nur ist es so, dass kaum vorauszusehen ist, was hinter der einen Tür wartet – während sich hinter der anderen immer mehr abzeichnet, dass Pulp Fiction (1994) oder The Big Lebowski (1997) entdeckt und restauriert präsentiert werden.

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Kommentare zu „Das Bild soll lebendig bleiben – Il Cinema Ritrovato 2020“


Josef Jünger

Ich frage mich, was Sie mit dem "Obskurerem" meinen. Etwa die Stummfilme aus der Sektion "Cento anni fa" (Vor 100 Jahren)? Jedenfalls ist Ihnen die sehr selten zu sehende Serie "Tih Minh" von Feuillade nicht aufgefallen? Aber nochmals die Frage: was ist mit "Obscur" gemeint?


Robert Wagner

"Tin Minh" ist mir aufgefallen. Leider habe ich es nicht in meinem Programm unterbringen können. Die Oper als Austragungsort war mit seinem Stummfilmprogramm auch ein Ort vieler Entdeckungen. Das geht im Text tatsächlich unter. Und da lief eben auch Dinge aus "Recovered & Restored".
Mit "Obskurerem" (einfach nur "obskur" ist mir zu heikel :) Das hängt zu sehr am eigenen Erfahrungshorizont.) meine ich nicht nur "Cento anni fa", sondern auch was einem nicht filmhistorisch oft als Klassiker genannt wird. Was nicht die Bekanntheit hat von Buster Keaton, John Ford und HIGH NOON, also schon große Teile des Programms. :)






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