Da ist stets diese Anmut: Terza Visione 2024

Das Frankfurter Festival des italienischen Genrefilms feierte in diesem Jahr sein zehnjähriges Bestehen. Ein Streifzug durch ein Programm, in dem ein betörender Neorealismus auf ein Hangout-Kino trifft, eine sanfte Melancholie des Abschieds auf eine Weiterlebensutopie.

Der Saal wieder einmal brechend voll, die Stimmung familiär, herzlich, entspannt. Nur draußen drehten gewohnt die Autos allabendlich durch, Hupkonzerte und quietschende Reifen, während man sich in lauer Sommernacht an der Mainpromenade über das gerade Gesehene austauschte. Jedes Jahr treffen sich im Frankfurter Deutschen Filmmuseum zahlreiche Liebhaber:innen des italienischen Genrekinos, die bereit sind, dieses Feld auch über die einschlägigen Genres und Namen hinaus zu entdecken, auch wenn die Klassiker natürlich ebenso ihren verdienten Platz bekommen.

So gab es neben der Nihilismuskeule Il grande racket (1976) des Poliziottesco-Spezialisten Enzo G. Castellari, Mario Bavas genreprägenden Gothic-Horror von La maschera del demonio (1960) und Damiano Damianis fein nuanciertem Anti-Mafia-Streifen Confessione di un commissario di polizia al producatore della repubblica (1971) eben auch eine in Deutschland weitgehend unbekannte Kollaboration zwischen Noch-Nicht-Horrorfilmer Lucio Fulci und dem seinerzeit in Italien populären Komikerduo Franco Franchi und Ciccio Ingrassia zu sehen (Il Lungo, Il Corto, Il Gatto, 1967), zudem ein mit dem Iran koproduziertes Low-Budget-Peplum (Le sette fatiche di Alí Babá, 1962) oder einen im morbiden Budapest angesiedelten Okkultismushorrorfilm der Spätachtziger (Il nido del ragno, 1988).

All das auf historischen, oft originalsprachigen – und wie bereits bei den letzten Ausgaben – weitgehend farbechten 35mm-Kopien aus Italien und andernorts erleben zu dürfen, ist alles andere als selbstverständlich. Stehen doch die Zeichen bei Festivalretrospektiven und anderen Kinoreihen mittlerweile auf Digitalkino ohne Glanz; hinzu kommt, dass die Filmarchive immer weniger ihrer Kopien auf Reisen schicken. Ein großer Dank gilt daher den Festival-Kuratoren Andreas Beilharz, Christoph Draxtra, Felix Mende und Sven Safarow, dass sie dieses ambitionierte Programm im Ehrenamt so auf die Beine stellen.

Nun ein genauerer Blick auf das Programm selbst: Tilman Schumacher stellt seine Lieblinge des Kernprogramms vor, während sich Kamil Moll dem Internationalen Tag widmet, der seit nunmehr drei Jahren das reguläre Festivalprogramm um seelenverwandtes Genrekino anderer Länderkinematografien ergänzt.

Top Model (Joe D‘Amato, 1988)

Ein Kino, das bedingungslos auf die Körper seiner Darsteller:innen baut, ihnen vertraut. Joe D’Amatos erotische New-Orleans-Fantasie um eine lebenshungrige Undercoverjournalistin ist auf den ersten Blick typisch kommerzielles 80er-Erotikkino samt eingängiger Episodenstruktur und ohrwurmverdächtigem Score, im Herzen vielleicht aber auch ein „Experimentalfilm“? Denn Top Model funktioniert losgelöst von seinen Storystützpfeilern über das schwerelose Hinübergleiten von einem Stadtspaziergang zum nächsten, über seine endlose Abfolge neugieriger, staunender und lüsterner Blicke; er ist offensichtlich verliebt in seine sommerfrisch seidene Mode, die so exzessiv gewechselt wird, wie es ehemals der Schauwert Liz Taylor bei ihrer Divenshow Cleopatra (1963) diktierte.

Eine selbstgenügsame Entspanntheit – die laut der Einführung von Arthur Pokorny weniger von der Setpiece-Atmosphäre her gedacht als über die intime Kameraarbeit hergestellt wird – bestimmt oft die Filme von D’Amato, der unter seinem Klarnamen Aristide Massaccesi sein eigener Kameramann war. Man denke an die ihren fernen Schauplätzen völlig verfallene Exploitationfilmreihe Black Emannuelle oder an seine schlafwandlerischen Slowburner im Slashergenre. Von allen mir bekannten Filmen des uferlosen Œuvres ist Top Model aber der tiefenentspannteste. Hier gehen Eros und Thanatos getrennte Wege – ein Hangout-Cinema, bei dem die hinter der nächsten Abbiegung lauernde Gefahr mal ganz ausbleibt.

Man bekommt schlicht das, was man von Anfang an denkt zu bekommen; und das ist sehr befriedigend. Spannung im klassischen Sinne gibt’s also nicht, das können andere aber eh besser. Dafür dürfen wir zusehen, wie junge Menschen ziellos schlendern, sich aus- und umkleiden, zärtlichen Sex haben. Die Story ist ein Gerüst, um das sich viel Fleisch gruppiert. Und egal, was Jessica Moore, die tragischerweise nur eine kurze Karriere im Genre hinlegte, als die alles überstrahlende Heldin des Films anfasst, sei es nun den Oberkörper ihres Loverjünglings, Telefonhörer oder einen (leider nicht entdarmten) Shrimp, da ist stets diese Anmut. Take and hold me tight, love me with all your mind / Every move is right, drive me wild.

Tilman Schumacher

Es gibt keinen Frieden unter dem Olivenhain (Non c’è pace tra gli ulivi, Giuseppe de Santis, 1950)

Bei den jährlichen Ausgaben des Terza Visione wird traditionell auch ein früher Genrefilm der 1950er oder gar 1940er Jahre gezeigt (zuletzt etwa Mario Soldatis Jolanda la figlia del corsaro nero und Alessandro Blasettis La corona di ferro). In der Regel sind das absolute Highlights für mich; Filme, in denen vieles von dem aufblitzt, was die Kernphase der italienischen Genreindustrie der 1960er bis 1980er Jahre ausmachen wird, Filme, die man äußerst selten auf der Leinwand sieht, Filme, die häufig von Regisseuren stammen oder uns Stars der Zeit zeigen, deren Namen mittlerweile verblasst sind.

Das trifft auch auf Giuseppe de Santis zu, den Filmemacher von Non c’é pace tra gli ulivi, und dass trotz seines erotisierten Neorealismus-Achtungserfolgs Riso Amaro (1949) und dem Einfluss, den er auf junge Filmemacher linker Provenienz wie Elio Petri haben sollte. Der Lehrer wie der Schüler folgten dem Ansatz, von gesellschaftlichem Unrecht nicht bloß zu berichten, sondern für ihre Botschaften das ganze Affektregister des Genrekinos zu nutzen. So ist Non c’é pace tra gli ulivi ein neorealistisch grundierter Film, der sich auf mehreren Erzählebenen bewegt, und sich dabei sichtlich wohl fühlt. Persönlicher Reportagenprolog trifft auf heftige Epiloganklagen, mittendrin allerlei Melodram-, Western- und Heimatfilmmotive – ein Seelenlandschaftsgemälde vor trostlos-karger Felskulisse.

Francesco kommt aus der Kriegsgefangenschaft zurück und muss feststellen, dass im Dörfchen nichts mehr so ist, wie es war. Soweit die neorealistische Prämisse. Der aufgequollene Agostino, ein bilderbuchschurkischer Land- und Viehbesitzer, hat sich dessen Besitz und gleich noch die Verlobte unter den Nagel gerissen. Es kommt zum Clash im Olivenhain… Die Story ist so oder so ähnlich dutzendfach erzählt worden, sicher aber kaum je in solchen Bildern. Kompakt, oftmals nah an uns herangerückt, stehen die Figuren theatralisch, ja „unnatürlich“, gestaffelt im Rahmen, adressieren die Kamera statt mit anderen ihre Blicke zu wechseln. Ich denke während des Sehens oft an zwei Filme, die grundverschieden sind, und so vielleicht andeuten können, was an Non c’é pace tra gli ulivi so besonders ist: einerseits an das von Eduard Tisse expressiv unteransichtig gefilmte und Fragment gebliebene Revolutionsepos Que viva Mexico! (1930er) von Sergei Eisenstein und andererseits an Budd Boettichers eingedampftes Westerntheater schwelenden Begehrens, Ride Lonesome (1959). Wenn der Neorealismus je betörend war, dann hier.

Tilman Schumacher

Las chicas del tanga (Jesús Franco, 1983)

Letztes Jahr im September habe ich am Strand der französischen Küstenstadt Le Havre den Tag erlebt, an dem der Sommer unwiederbringlich zu Ende ging: All die für wenige Monate zugereisten Betreiber von Strandbars, Snackbüdchen und Liegestuhlverleihshops verstauten ihre Habseligkeiten in kleinen Transportern und Lastern, so als gäbe es eine gemeinsame Übereinkunft, wann die Saison ausklingt. Jess Francos Las chicas del tanga fängt diese Momente letzter, kürzer werdender Sommertage in Benidorm ein, einem Massentourismusort am spanischen Mittelmeer, zu dem Franco in seinen Filmen immer wieder zurückkehrte und dessen dicht gedrängte Architektur aus sonderlich brutalistisch anmutenden Hotelwolkenkratzern er so über die Jahre zu einem der mythischsten Sehnsuchtsorte der Filmgeschichte umdeutete.

Eine Bande von Nachteulen und Sonnenaufgangssüchtigen, gewiefte Pick-up-Artists allesamt, belebt noch einmal den leerer werdenden Freizeitort: Ein ältlich werdender Faulpelz umgarnt eine französische Touristin, indem er den Bedeutungsreichtum aller ihm bekannten Sprachen gleichzeitig erprobt („Faire l’amour macht mich nicht müde“). Ein Mädchen lenkt immer wieder aufs Neue ihre Rollerskates auf einen Zusammenstoß mit einem holländischen Architekten hin, der selbstgenügsam Bilder von den mannigfaltigen Bausünden der Stadt schießt. Kinder bedrängen Strandgäste nach Kleingeld, um einen Pac-Man-Spielautomaten füttern zu können. Einer der lokalen Playboys stolziert mit Walkman durch die Straßen und kann sich für einen Abend als vermögender Marquis ausgeben, bevor der Schwindel am nächsten Morgen wieder auffliegt. Am Urlaubsort Benidorm können diese Figuren alles und nichts zugleich sein, und ihre ungekrönte Queen ist Jess Francos große Lebensliebe und Leinwandobsession Lina Romay als andalusischer Musik- und Filmstar, dessen ekstatische Jauchzer und alles umarmende Gesten nichts und niemandem so sehr gelten wie ihr selbst. Den eher entspannt verslackten Humor des Films umrahmt Franco mit einer sanften Melancholie des Abschieds – ein Ineinandergreifen von Tonfällen und Stimmungen, das nahelegt, dass man sich der Filmografie des Regisseurs, in deren cinephiler Rezeption das komödiantische Werk bislang kaum eine Rolle spielte, möglicherweise noch einmal unter einem anderen Blickwinkel ergeben müsste.

Kamil Moll

Die Abenteurer (Les aventuries, Robert Enrico, 1967)

Auch Robert Enricos Les Aventuriers ist bestimmt von einer eng geknüpften Mischung aus Lebensdrang und Weggang. Für mich als Kind ein Lieblingsfilm, an dessen Attraktionen ich mich auch mehrere Jahrzehnte später sofort wieder erinnern konnte: das am Arc de Triomphe scheiternde Segelflugzeug, der Sound eines sich ewig bewegenden Schrottteil-Mobiles, der in einem glorios zerlumpten Anzug an Bord eines Schiffes schleichende Serge Reggiani – ein Leben von Träumern auf der Suche nach Geschwindigkeit und Bewegung. Alain Delon und Lino Ventura, zwei Männer, die physiognomisch und in ihrer Ausstrahlung überhaupt nichts verbindet, spielen ein Freundespaar, das an einer gemeinsamen Beziehung zu einer Frau, Joanna Shimkus, nicht scheitert, sondern wächst: Geteilt lässt es sich nun mal intensiver träumen und dringlicher an der Verwirklichung von Fantasien schrauben. Zu dritt wollen sie so den Schatz aus einem versunkenen Schiffswrack vor der Küste des Kongo bergen, ein klassisches Abenteuermotiv, das Enrico zunächst als eine schwärmerische, sonnendurchschienene Ode ans Genre inszeniert.

Die herzzertrümmernde zweite Hälfte des Films jedoch ist etwas, das nicht in meiner Erinnerung geblieben war und mich umso tiefer traf, weil sie das, was ich bisher damit verband, überschrieb: Bei einem Schussgefecht zu Wasser wird Joanna Shimkus getroffen und stirbt, verschwindet so flüchtig aus dem Leben der Männer, wie sie zu Beginn aufgetaucht war. Was für die Hinterbliebenen zurückbleibt, ist die unausgesprochene Verantwortung, den Träumen jener, die nicht mehr ist, einen Ort in der Wirklichkeit zu geben. Die Weiterlebensutopie, die Les Aventuriers dabei am Ende anbietet, ist bei aller Wehmut, durch die sie erkauft werden muss, eine der schönsten, die ich kenne: Steht man im Fort Boyard, einer kleinen Festung vor der französischen Atlantikküste, scheint es, als ließe sich inmitten von Wellen ewig weiterleben. Ein alter, ein neu entdeckter Herzensfilm.

Kamil Moll

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