Cineastische Jamsessions – IFFMH 2022

Auf dem Filmfestival Mannheim-Heidelberg war junges, kantiges Kino zu sehen, das Gewohnheiten durcheinanderbringt. Ein Sehtagebuch über elektrische Träume, sanfte Mittelfinger gegen den Terror und die Katharsis eines gut platzierten Furzes.

Ich trete an die hellblau verkleidete Fassade des Mannheimer Stadthauses heran. Vom großen Banner blickt mir ein Porträt entgegen: Eine junge Frau mit mittellangen Haaren, den Rücken zur Kamera gewandt, den Blick vorsichtig über die Schulter gerichtet. Die Emotionen projiziere ich eher auf das Porträt, als dass ich sie ablesen könnte – Neugierde, Vorsicht, Sorge. Im Schatten der letzten paar Jahre trägt jeder im Publikum ein eigenes emotionales Päckchen bei sich, und so komme ich nicht umhin, in der hellblauen Färbung des Plakats etwas Allgemeingültiges zu erkennen. Blau wie der Himmel, wie das Meer und wie der Mund-Nasen-Schutz, den ich in meiner Hosentasche mit mir trage. Die Definition von Kino als Spiegel der Gesellschaft, als Maschine zum Generieren von Empathie klingt mittlerweile abgedroschen. Trotzdem: Neben der Vorfreude auf innovative Filme nehme ich auch die Frage mit, welche Entwicklungen sich im Kino des Jahres 2022 erkennen lassen, wie es auf die Herausforderungen unserer Zeit reagiert.

An der Grenze des Sagbaren tänzeln

Pomadierte Haare, ein blendend weißer Anzug, dunkle Sonnenbrille. Der französische Hochkommissar De Roller (Benoît Magimel) ist in Pacifiction auf einer polynesischen Insel stationiert und sorgt für … ja, für was eigentlich? Wie ein römischer Prokonsul sitzt er morgens an der langen Tafel und lauscht mit routiniertem Grinsen den Belangen der lokalen Vertreter. Nachmittags erpresst er einen französischen Priester, der sich gegen den Bau eines Casinos stemmt, und abends flirtet er nonchalant mit dem knapp bekleideten Personal eines Nachtclubs, das im Besitz des ebenfalls weißen Unternehmers Morton (Sergi López) ist.

Genauso gebannt wie frustriert hänge ich an Magimels Lippen, als er unter den grünen Palmen Polynesiens eine Rede hält. Er wippt von Fuß zu Fuß, schaut souverän in die Runde, verliert den Faden. In der anschließenden Nachbesprechung mit Regisseur Albert Serra erfahre ich, dass Magimel die Worte über einen Ohrstecker eingeflüstert bekam und Serra ihm dabei durch unerwartete Pausen den Text immer wieder vorenthielt. Magimels Wankelmütigkeit auf der Leinwand ist eine direkte Reaktion auf die Provokationen seines Regisseurs, nicht Produkt seines Schauspiels. Serra behandelt seinen Film als Jamsession, in der das Drehbuch eher als Richtlinie für Kostüm und Ausstattung dient. Durch Improvisationen hebelt er traditionelles Schauspiel aus und sucht nach seinem eigenen Verständnis von Wahrhaftigkeit. Bewusst tänzelt sein Film an der Grenze des Sagbaren, zum Beispiel, als von der Wiederaufnahme französischer Nukleartests vor der polynesischen Küste die Rede ist. Der Talg des Kolonialismus glänzt auf De Rollers Stirn in der Sonne. Und trotzdem: Pacifiction verweigert sich einer politischen Aussage und spielt den Ball provokant ans Publikum zurück. Das macht den Film so zäh wie fesselnd. Als ich das Kino verlasse, bin ich froh, dass es Regisseure wie Serra gibt. Und genauso froh, dass es auch andere gibt.

Solidarisches Kino

Kurz zucke ich zusammen, als zum ersten Mal der Begriff des „Diamanten im Trauma“ fällt. Ihn hört auch Mia (Virginie Efira), als sie zum ersten Mal wieder das Pariser Bistro betritt, in dem sie Zeugin eines blutigen Terroranschlags wurde. Alice Winocours Paris Memories setzt sich in fiktionalisierter Form mit den islamistischen Terroranschlägen von 2015 auseinander und erzählt die Geschichte einer Frau, die sich auf die Suche des Mannes macht, der ihr in jener Nacht die Hand gehalten hat. Es vermischen sich Sehgewohnheiten. Die realen Narben des Terrors beleuchtet Winocour mit einer zarten Poesie. Mia streift in ihrer dunklen Lederjacke durch die bunt erleuchteten Straßen von Paris, rekapituliert mit anderen Zeug*innen jene Momente, jene Berührungen, die ihr damals durch die Nacht geholfen haben. Das verleiht dem Film bisweilen leicht sentimentale Töne, die mich die Frage stellen lassen, was denn der richtige Tonfall wäre, um von den Auswirkungen des Terrors zu erzählen – ob es überhaupt einen richtigen Tonfall gibt. Möchte ich denn nach den Diamanten fragen, die das Trauma hier hervorbringt? Respektiere ich das Leid der Betroffenen, indem ich krampfhaft nach der positiven Moral der Geschichte frage?

„Tatsächlich habe ich großes Vertrauen in das Kino“, erzählt mir Alice Winocour, die in diesem Jahr mit den „Grand IFFMH Award“ geehrt wird, in einem kurzen Gespräch. „Camus hat in Die Pest gesagt: Selbst in den schlimmsten Situationen gibt es mehr am Menschen zu lieben als zu hassen. In meinen Augen trifft das auch bei den Terroranschlägen zu. Da ist eine Solidarität, Menschen suchen die Nähe zueinander. Manchmal sind es sehr kleine Dinge, die in solchen Momenten von großer Bedeutung sind.“ Nach dem Gespräch scheint mir ihre Vision hinter Paris Memories plötzlich ungemein konsequent. Ihr Diamant ist die menschliche Veranlagung, um Hilfe zu bitten und Hilfe zu bieten. Paris Memories ein sanfter, sentimentaler Mittelfinger gegen alles, wofür der Terror steht.

I Have Electric Dreams

Wieso bleibe ich bei einem geliebten Menschen, der mir wehtut? Valentina Maurels I Have Electric Dreams handelt von der 16-jährigen Eva (Daniela Marín Navarro), die nach der Scheidung ihrer Eltern einen neuen Fixpunkt sucht. Wir sehen, dass ihr Vater (Reinaldo Amien Gutiérrez) schwere Aggressionsprobleme hat. In der ersten Szene schlägt er sich nach einer belanglosen Auseinandersetzung mit Evas Mutter seinen Kopf an der Garagentür blutig. Evas Schwester beginnt sich einzunässen – die Narben reichen tief. Und doch hängt Eva an ihm, möchte sogar zu ihm in die Wohnung ziehen, denn mit ihrer Mutter gibt es nichts als Streit. Bei ihrem Vater fühlt sie sich erwachsen. Und dann schlägt er sie wieder.

Eva macht ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit einem deutlich älteren Mann, treibt sich auf den Drogengelagen ihres Vaters herum. Trotzdem enthält sich Maurel bei all diesen Einschnitten in Evas Leben einer Wertung. Sie zeichnet ein sehr intimes und komplexes Porträt eines toxischen Abhängigkeitsverhältnisses, ohne sich jemals moralisch über ihre Figuren zu erheben.

Kot und Knete

Viel zu oft ignorieren wir die Kindersektion in Filmfestivals. Zu Unrecht, denn dank Oink von Mascha Halberstadt weiß ich jetzt, welche Katharsis in einem gut platzierten Furz liegen kann. Der erste niederländische Stop-Motion-Film ist kurzweilig, witzig und herrlich hässlich. Er distanziert sich von den glattpolierten Designs von Disney und Pixar, indem er seinen Figuren knollige Riesenköpfe, tiefe Falten und winzige Münder gibt. Da ist die zwölfjährige Babs (Hiba Ghafry), die von ihrem lange verschollenen, zwielichtigen Großvater (Kees Prins) ein Ferkel geschenkt bekommt. Und dieses Ferkel produziert außerordentlich viel Kot. Und das ist sehr witzig. Die Kinder, mit denen ich im Publikum saß, krümmten sich jedes Mal vor Lachen, wenn das kleine Ferkel wieder Babs’ Wohnzimmer mit brauner Knetmasse bedeckte. Zugleich geht es in dem Film um die Grausamkeit des Fleischkonsums, um Profitgier und die Willkür, mit der wir Nutztiere von Haustieren unterscheiden.

Oink spielt seinem jungen Publikum unaufdringlich die thematischen Bälle zu. In erster Linie will er Empathie wecken, für das kleine Ferkel ebenso wie für die recht komplexen Familienverhältnisse rund um Babs. Zugegeben: Der Film kommt manchmal etwas plakativ daher, zum Beispiel als die ganze Dorfgemeinschaft begeistert in Babs’ hausgemachte Gemüsewürstchen beißt (selbst ich als überzeugter Vegetarier muss eingestehen, dass ein Großteil des käuflichen Veggie-Grillguts absolut scheußlich schmeckt).Am Ende besticht Oink aber als Beispiel für ein Kino ohne Prätention, das sein Herz offen auf der Zunge trägt und eine Spielfreude an seinem Medium besitzt, die ein Großteil des „erwachsenen“ Kinos oft vermissen lässt.

Disclaimer: critic.de-Chefredakteur Frédéric Jaeger ist für die Programmorganisation des IFFMH verantwortlich.

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