Checkliste für bestialisches Verhalten – Filmfest Hamburg 2019

Hunderttausende am Straßenrand ausgesetzte Babys, eine mit schamanischen Ritualen gebändigte Tochter und eine von entspannten Nonnen geleitete Herberge für junge Mütter: Drei Filme über Mutterschaft auf dem Filmfest Hamburg.


Maternal

Lu (Agustina Malale) ist bereit zum Ausgehen. Die Schamhaare sind getrimmt, die Beine sind mit der von ihr eigens erfundenen Klebeband-Methode enthaart, der Intimbereich ist mit eine Prise Deospray parfümiert und der Geldbeutel mit dem Geld der Schwester gefüllt. Einzig ihre Tochter Nina und die Ausgangssperre passen nicht in den Plan der 17-Jährigen. Lu, Nina und Fatima leben in einer von Nonnen geleiteten Herberge für junge Mütter. Die Strukturen dieser Ordenseinrichtung sind allerdings nicht auf Urteils- und Erziehungsarbeit ausgerichtet. Die Schwestern nehmen die Vulgärsprache der Teenys gelassen hin, zerren sie auseinander, wenn sie sich in den Haaren liegen, oder hauen auf den Tisch, wenn der Lärmpegel wieder einmal ins Unerträgliche ausschlägt. Spielregeln werden nicht mit Gewalt, sondern mit Nächstenliebe durchgesetzt. Die Herberge ist ein Sicherheitsnetz, in das die jungen Mütter, allen voran Lu, immer wieder aus gewaltigen Höhen hineinfallen. Die Nonnen sind hier Wächter, die allein mit ihrer göttlichen Aura den Film an sich reißen.

Ob sie sanft im Schaukelstuhl schlafen, während die Kleinkinder heimlich die Augen öffnen, die Lautstärke des Tanzabends mit ein paar Schlägen gegen die Wand monieren oder friedlich an den Betten der Neugeborenen Wache halten: Mauro Delperos Film verschreibt sich der gelassenen Präsenz der Ordensschwestern mit Haut und Haaren. Sanft und unangestrengt erzählt die Regisseurin in ihrem Spielfilmdebüt von Teilnahme und Versuchung. Sie trennt die Nonnen moralisch nicht von den Teenagern, sondern beschreibt beide auf Augenhöhe. So findet Lus Tochter Nina, nachdem ihre Mutter ein weiteres Mal verschwindet, in der jungen Schwester Paola (Lidiya Liberman) eine Ersatzmutter. Gegen besseres Wissen und den Willen ihrer Priorin nimmt sich Schwester Paola des Mädchens an. Sie singt Nina in den Schlaf und wärmt sie unter ihrer eigenen Bettdecke. Wo Mutter und Ersatzmutter beide in ihren Fürsorgepflichten versagen, lenkt Delpero den Blick nicht auf den daraus entstehenden Konflikt. Ihre Leben vermögen diametral verlaufen, und doch sorgen sich Mütter und Ordensschwestern gleichermaßen um die Kinder. Maternal ist in diesem Sinne kein Film der Erziehung, sondern ein Film der Fürsorge.

 

Pelikanblut

Während bei Delpero zwei Weltbilder zusammenkommen, bleibt Katrin Gebbes Pelikanblut ein Film der strikten Trennung. Mythos und Wissenschaft buhlen hier um das Vorrecht auf Autorität. Auch hier ist das Gravitationszentrum, um das die Gegensätze kreisen, ein Mutter-Tochter-Verhältnis. Wiebke (Nina Hoss) ist die Mutter, genauer gesagt: Adoptivmutter der Geschichte. Nach Nicolina, die sie vor Jahren aus Russland zu sich holte, soll nun auch Raya auf den idyllischen Pferdehof ziehen, der Wiebkes Arbeitsplatz und zugleich ihr Heim ist. Schnell entpuppt sich das Mädchen als ein Monster vom Kaliber eines Kevin (nicht aus Home Alone, sondern aus Lynne Ramseys We Need to Talk About Kevin). Sie beschmiert das Bad mit Fäkalien, nennt die Mutter einen Pups, greift die Schwester an, setzt das Kinderzimmer in Brand und dezimiert die lokale Vogelpopulation, um sie dann auszustopfen und auszustellen. Wiebkes Kampf um und gegen die eigene Tochter erzählt Gebbe stets auf Ebenen, die weniger parallel laufen, sondern eher Phasen der Eskalationsdramaturgie darstellen.

Als die moderne Psychologie Raya zur völlig gefühllosen und nicht therapierbaren Hülle eines Kindes erklärt, wendet sich Wiebke dem Schamanismus zu, der, wie die titelgebende Legende, aus dem Slawischen stammt. Nach dieser Legende sticht sich die Pelikanmutter selbst die Brust auf, um die toten Kinder mit ihrem eigenen Blut zum Leben zu erwecken. Regisseurin Katrin Gebbe greift dieses Bild figurativ und buchstäblich auf, um ihr Werk gänzlich auf die Spur des Horrorfilms zu bringen. Doch so wie die Medizin ein Kind mal eben zum Nichtmenschen erklärt, dient das Mädchen auch Gebbe primär als Protagonistin eines kleinen Horrorkabinetts. Jede Nacht bringt ein neues Schrecknis hervor, bis schließlich auch der letzte Punkt der Checkliste für bestialisches Verhalten abgehakt ist.

Dabei gibt es nie ein Mysterium um Raya. Sie kommt bereits als Antichristin in ihr neues Zuhause. Die spätere psychologische Diagnose erklärt der Film bereits früh zur reinen Formsache. Einzig Wiebke stemmt sich noch mit allem, was Mutterbrust und Mutterliebe hergeben, dagegen. Ein ebenso klassischer wie starker Entwurf, aus dem der Film – trotz der beeindruckenden Kraft, die Nina Hoss dafür aufbringt – wenig Kapital zu schlagen weiß. Ein Großteil der über zweistündigen Laufzeit verläuft für mich mit schlichtem Warten auf weitere Biestigkeiten aus dem Kinderzimmer und natürlich auf das finale paganistische Ritual, das der Film einem immer wieder unter die Nase reibt. Dabei profitiert weder der Horroranteil vom psychologisch grundierten Alltagsdrama noch umgekehrt.

 

One Child Nation

Die letzte Frau des Mutter-Kind-Festival-Tripletts ist Regisseurin Nanfu Wang. Ihr Film beginnt im Jahr 1985, sechs Jahre nach Beginn der Ein-Kind-Politik, die die chinesische Regierung 1980 auf nationaler Ebene durchsetzte. Die Tragweite dieser Entscheidung erschließt sich direkt zu Beginn, der daran erinnert, dass im China der 1980er etwa eine Milliarde Menschen leben. Zwar ist die Dimension des Traumas, das die rigorose Umsetzung der politischen Maßnahme für die Mütter, Kinder und Väter der Volksrepublik China bedeutete, nicht mit Zahlen zu fassen, doch bereits das erste Interview, das Wang mit einer Frau führt, die seinerzeit als Hebamme arbeitete, ist ein numerischer Eimer kaltes Wasser. 50.000 bis 60.000 Abtreibungen von Embryonen, aber auch von Ungeborenen, die teilweise bereits neun Monate alt waren, hat sie damals durchgeführt. Winzige Körper, die in Tüten mit der Aufschrift „Medical Waste“ auf dem Müll landeten, sind jedoch nicht der Endpunkt, auf den One Child Nation zusteuert (abgesehen davon, dass der Film keinerlei Interesse hat, den Argumenten der Pro-Life-Bewegung in die Hände zu spielen).

Wang spart derartige Bilder nicht aus, ist aber in ihrer Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Ein-Kind-Politik weniger an einer Verbildlichung der Gräuel interessiert als an der Flexibilität einer Gesellschaft. Die enorme Umwälzung, die eine derartige Politik mit sich zieht, bringt ihre ganz eigene Struktur hervor, der Wang mit diesem Film auf den Grund geht. Hunderttausende Säuglinge werden in Körben am Straßenrand oder auf dem Marktplatz ausgesetzt und hier dem Tod überlassen. Viele von ihnen sterben schlicht an Ort und Stelle, bis eine Minderheit der Bevölkerung beginnt, die ungewollten Babys in Waisenhäuser zu bringen, die wiederum eine Chance auf Profit erkennen und die Findelkinder in den Westen verkaufen. Eine Politik, auf die bald Funktionäre der Partei aufspringen, die ihre eigenen Netzwerke von „Sammlern“ aufbauen und sich für die abgegebenen Kinder bezahlen lassen. Es ist die große Stärke dieses ästhetisch recht biederen Films, dass er den absurden Rattenschwanz des nationalen Traumas bis dahin verfolgt, wo eine Struktur des Menschenhandels auf dem Fundament der Nächstenliebe gebaut wird und Humanismus und Zynismus sich gefährlich nahe kommen.

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